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Eine Seele, weder Mann noch Frau

Sexuelle Minderheiten in Marokko
LGBTI Marokko

Sexuelle Minderheiten sind in Marokko auch aufgrund des Artikel 489 des Strafgesetzbuches von 1962 Opfer von Aggression.

© iStock/ Bennian

Nach einem Aufruf zur Vergewaltigung wird der homosexuelle YouTuber Adam „Adouma“  Lhlou auf der Straße von drei jungen Männern in der marokkanischen Hafenstadt Tanger zusammengeschlagen. Zur Gewalttat aufgerufen hatte der Filmemacher Mahmoud Frites (Nancy et le monstre (2007), La vie des autres (2013)) über Facebook. Seinen Post zog er zwar später zurück und entschuldigte sich, versuchte jedoch seine homophobe Haltung zu relativieren und auf den YouTuber zu reduzieren, da dieser vulgäre Wörter gebrauche und junge Buben errege. Der angegriffene Lhlou veröffentlichte für seine über 200.000 Facebook-Fans Fotos von seinen Blessuren und „gratulierte“ dem „Monsieur Frites“: „Sie haben Ihr Ziel erreicht. [...] Sie sind bar jeder Menschlichkeit.“ In Europa würde er dafür bestraft werden, fügte Lhlou hinzu.

Nicht so in diesem Fall. Lhlou erstattete keine Anzeige – aus Rücksicht auf seine Familie. Homosexualität erwähnt er dabei nicht. Denn bei alledem steht diese für ihn nicht im Vordergrund: „Ich bin eine Seele, die in einem Körper wohnt, der weder Frau noch Mann ist“, sagt er in einem seiner Videos. Mit seinen gestreamten Sketchen provoziert er die Gesellschaft, ohne jedoch vulgär zu sein. Meist spielt der praktizierende Muslim Frauenrollen. „Ich definiere mich eher als Kind, das nicht erwachsen werden will.“

Diskriminierende Strafgesetzordnung

Doch eben aufgrund der eigenen sexuellen Orientierung muss er neben verbaler und physischer Bedrohung im Internet und auf der Straße auch die Polizei und Justiz fürchten; denn Homosexualität ist im Königreich weiterhin strafbar, obschon die Verfassung von 2011 jede Form von Diskriminierung verbietet. Artikel 489 des Strafgesetzbuches von 1962 stellt „schändliche Handlungen oder wider die Natur mit einer Person desselben Geschlechts“ unter Strafe: Zwischen sechs Monaten und drei Jahren und einer Strafe zwischen 120 und 1.200 Dirhams drohen bei einer Verurteilung. Schlimmer noch: die Formulierung des Paragraphen ist nach Aussagen von Menschenrechtsanwälten so gefasst, dass Denunzierung quasi zur Bürgerpflicht wird. Religiöse und Konservative sperren sich vehement, das Gesetz der Verfassung anzupassen. Bisherige Kampagnen wie #stop489 des Mouvement Alternatif pour les Libertés Individuelles (MALI, Alternative Bewegung für individuelle Freiheiten) haben bislang die mehrheitliche Mentalität der öffentlichen Meinung nicht hinreichend aufweichen können. Die Unterschriftensammlung des früheren FNF-Menschenrechtspartners Association Marocaines des Droits Humains (AMDH) von 2008 scheiterte. Hinzu kommt, dass der Paragraph von zwei weiteren, die Sexualität betreffenden gefolgt wird: §490 verbietet sexuelle Handlungen/Beziehungen zwischen unverheirateten Personen (ein Monat bis ein Jahr Haft) und §491 Ehebruch, der ein bis zwei Jahre Gefängnis nach sich ziehen kann.

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Der Paragraph 489 ist gemäß der französisch-marokkanischen Schriftstellerin Leila Slimani eine „exakte Kopie“ des Paragraphen des französischen code pénal, der dort jedoch 1982 abgeschafft wurde. Die Prix-Goncourt-Preisträgerin ist überzeugt, dass die „sexuellen Rechte Teil der Menschenrechte“ sind. In ihrem neuesten Buch „Sexe et mensonges – La vie sexuelle au Maroc“ (Sex und Lügen – das sexuelle Leben in Marokko) sprechen die dort gesammelten Zeugnisse von Marokkanerinnen hingegen in erster Linie von Heuchelei, Missbrauch und Gewalt. „Ich weise die Vorstellung zurück, dass die Identität, die Religion oder welches historisches Erbe auch immer, Personen ihrer universellen und unveräußerlichen Rechte beraubt.“ Dennoch verbüßen „Homosexuelle und Ehebrecherinnen reelle Gefängnisstrafen“, fügt die in Rabat geborene Journalistin hinzu.

Problematik der Selbstjustiz

Nach Darstellung der in Marokko nicht zugelassenen LGBTI-Organisation KifKif (arab.: gleich-gleich) sind seit Unabhängigkeit des Landes über 5.000 Menschen, überwiegend Männer, angeklagt worden. Oftmals wird jedoch gegenüber vermeintlich Homosexuellen oder anderer sexueller Minderheiten Selbstjustiz geübt. Zuletzt hatte ein Überfall auf zwei Männer in Beni Mellal im März 2016 die Diskussion vor allem in den sozialen Medien belebt, zumal dort das Video dieses offenbar äußerst gewalttätigen Angriffs veröffentlicht worden war. Die beiden Opfer der Aggression waren danach verhaftet und verurteilt worden, kamen aber nach öffentlichen Protesten nach 26 Tagen frei. Zwei der Angreifer wurden für vier bzw. sechs Monate inhaftiert. Im Oktober 2016 waren zwei Mädchen verhaftet worden, weil sie sich zuhause geküsst hatten. Die eigene Familie hatte Anzeige erstattet.

Ein Jahr zuvor, im Juni 2015, hatte in Fès eine Gruppe junger Männer einen vermeintlichen Transvestiten zusammengeschlagen. Ein Taxifahrer hatte wohl in dem in Rock gekleideten und langhaarigen 30-Jährigen eine günstige Gelegenheit gesehen, ihn ausgeraubt und an der Ampel nur „Travelo!“ („Transe!“) gerufen und sofort hatten sich gewaltbereite junge  Männer gefunden, um auf ihn einzuschlagen. Ein Polizist konnte nach kurzer Zeit mit gezückter Waffe den aufgehetzten Mob mühsam zurückhalten und das Opfer vor der endgültigen Lynchjustiz retten. Ein gepostetes Video der Tat schockierte durch seine Brutalität die Zivilgesellschaft. Damals hatte die FNF-Partnerorganisation Centre des Droits des Gens (CDG) einen Anwalt finanziert und sich zudem an alle Verantwortungsträger im Königreich gewandt, um die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen.

Neben dieser Art von Einzelunterstützung geht es den Menschenrechtsaktivisten aber vor allem um Aufklärung. An staatlichen Schulen beschränkt sich der Sexualunterricht im Fach „Wissenschaften“ auf die Anatomie und mit viel Glück auf sexuell übertragbare Krankheiten. An privaten Schulen sieht es meist schon besser aus. Aufklärung über sexuelle Minderheiten, über ihre Rechte und über Genderrollen erhält jedoch niemand. Deswegen nutzt CDG die Menschenrechtsclubs an den Schulen des Landes, die mit Unterstützung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit etabliert wurden, um „gegen alle Arten von Diskriminierung gegenüber sexuellen Minderheiten zu sensibilisieren“, wie der CDG-Präsident Jamal Chahdi sagt.

Anonymität als Überlebensstrategie?

Dabei tun sich die Mittler in Sachen Menschenrechte schwer, die tradierten Wertvorstellungen junger Marokkaner zu überwinden. Jeder, der nicht den Stereotypen entspricht, wird gemeinhin stigmatisiert – am stärksten die Gruppe der Transgender nach Darstellung des Collectif Aswat, das für die Verteidigung sexueller Minderheiten eintritt. Insbesondere homosexuelle Männer und Transfrauen sind demzufolge Erniedrigungen und physischen Angriffen auf der Straße, im Gefängnis wie auch in der eigenen Familie ausgesetzt. Vor allem Mittelklasse und arme Schichten erfahren Gewalt und sind zudem mit beschränktem Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Gesundheitsdiensten konfrontiert. Für sie ist Anonymität eine notwendige Überlebensstrategie. Begüterte Bürger können hingegen einen gewissen Schutz genießen, wenn sie ihre gewählte Genderrolle leben: Noor (arab. Licht) kam als  Noureddin Talbi in Agadir zur Welt. „Ich habe es immer im Herzen getragen, nicht in meinem Körper“, erklärt der frühere Athlet sein Coming-out als Frau – aber erst, nachdem sie als Schauspielerin und Tänzerin zu Berühmtheit und Geld gekommen war. Auf ihrer Website präsentiert sie sich als „internationaler Star des orientalischen Tanzes“. Trotz dieser Aufmerksamkeit und Akzeptanz gelingt es ihr nicht, ihren Personenstand zu ändern. Für den marokkanischen Staat bleib Noor weiterhin Noureddin.

Was im Künstlermilieu noch akzeptabel ist, ist in anderen Bereichen der Gesellschaft schwierig bis unmöglich. Der verheiratete Universitätsprofessor und Vater einer Tochter Adil Bourichi tauschte bei einem Kulturaustausch mit den USA nicht nur sein Wissen, sondern auch sein Geschlecht. „Mein Körper ist der eines Mannes, mein Geist der einer Frau“, erklärte er seinen Studenten nach der Umwandlung im Jahr 2014 und zog es vor, in Florida zu bleiben. Die Anfeindungen in den sozialen Medien geben ihm Recht.

Ebenso erging es Hajar Moutawakil, als sie sich im Netz am Tag der Menschenrechte als lesbisch outete. Als Konsequenz siedelte sie mit ihrer Partnerin Houda in die Türkei über, da sie sich in Marokko nicht mehr zu Hause fühlte. Als Mitglied der Bewegung „Akaliyat“ (arab. Minderheit), in der sich in Marokko lebende Homosexuelle und Lesben wiederfinden, wollte sie sich mit dem Video in einer Gesellschaft Gehör verschaffen, die „taub ist und nichts wissen will“. Aber auch der Staat will davon nichts wissen und verweigerte Akaliyat die Annahme der Dokumente für die Registrierung als Organisation. Dementsprechend sieht Schriftstellerin Slimani nicht den Islam, sondern eben diese „institutionalisierte Kultur der Lüge“, in der „Ehre vor allem geht“ als Ursache. Ihr Resümee:  „Diejenigen mit Autorität – Regierende, Eltern, Professoren – sagen unisono: ‚Macht, was ihr wollt, aber macht es im Geheimen!’“

Diese Haltung hatten Schriftsteller wie Paul Bowles, Truman Capote und William S. Burroughs weidlich genutzt. Infolge der Beat Generation wurden dadurch viele internationale Touristen angelockt, von denen einige blieben und bleiben. „Homosexualität ist toleriert“, sagt AMDH-Präsidentin Khadija Riyadi, fügt aber hinzu: „Man erwartet von Schwulen, dass sie sich nicht zeigen.“ Ein diskreter Ort ist das eigene Heim. Neunzig Prozent der ausländischen Villenbesitzer in Tanger seien homosexuell, behauptet ein Immobilienmakler, ohne sich daran zu stören. Er sieht das Geschäftliche und träumt wie andere, an die Zeit der internationalen Verwaltung der Hafenstadt (1923–1956) anzuknüpfen. Viele sehen in Ausländern gleich welcher sexueller Orientierung noch weitere geldwerte Vorteile: Arbeitsplätze im Tourismus und auch (verbotene) Prostitution. Neben Tanger ist so vor allem Marrakesch Ziel von Sextouristen aller Art und jeder Herkunft geworden. Wenn diese dann doch zu offen ihre Sexualität ausleben, werden auch sie verurteilt. Mehrere Bundesbürger saßen deswegen schon in marokkanischer Haft.

Verschieben von Toleranzschwellen

Während Ausländer dieses Damoklesschwert nur zeitweise in Kauf nehmen müssen, leben Marokkaner und Marokkanerinnen permanent mit der Gefahr. Aus den Fallbeispielen kristallisiert sich heraus, dass LGBTI drei Arten von Gewalt ausgesetzt sind: physischer, gesellschaftlicher und institutioneller Gewalt. Doch seit dem Thronwechsel 1999 erwachen allmählich auch hinsichtlich LGBTI die Zivilgesellschaft sowie die klassischen Medien, die sich zu Anwälten von Minderheiten machen. Inzwischen haben drei Schriftsteller (Rachid O., Hicham Tahir, Abellah Taïa) offen ihre Homosexualität bekundet. Das Internet bietet im neuen Jahrtausend einen Freiraum, der vom Staat toleriert wird. Neben Online-Magazinen wie Akaliyat und Aswat sind es Foren und diverse Smartphone-Apps wie Grindr, die virtuelle Freiheit bieten. Und es gibt einzelne positive Stimmen:  So erzählt die 30-jährige lesbische Webredakteurin Hiba gegenüber der französischen Zeitung Libération: „Ich habe mich nie in Gefahr gefühlt. [...] Ich lebe wie alle, wie eine Hetero.“ Dennoch haben vier ihrer Freunde Asyl in Deutschland gesucht.

Gleichzeitig engagiert sich Hiba für Aswat. Organisationen wie diese, offiziell nicht zugelassen, aber toleriert, schaffen es bisweilen, die Toleranzschwelle zu verschieben. Dabei kann auch die internationale Zivilgesellschaft unterstützen: Die französische Organisation ADHEOS hat mit einem offenen Brief an den französischen Innenminister gefordert, dem Filmemacher Mahmoud Frites die Einreise nach Frankreich zu verweigern.

Wenn auch sexuelle Minderheiten sich vor allem über das Internet besser organisieren können und die Zivilgesellschaft für diese Partei ergreift, so stehen sie doch einer zunehmend traditionell wie religiös untermauerten Mentalität der Homophobie gegenüber. Islamisten gewinnen in den Wahlen wie auch in den Medinas Marokkos mehr Anhänger und dominieren den Diskurs, den Druck der Straße und den Duktus des Parlaments. Damit ist die Abschaffung des Paragraphen 489 wieder weiter in Ferne gerückt. Während diese kulturelle Auseinandersetzung weitergeht, müssen Seelen wie die Adoumas stark sein, um bei täglich 20 Drohnachrichten im Netz, am Telefon und auf der Straße nicht zu zerbrechen: „Ein Homo wird in Marokko nie in Frieden leben können“, so Adouma.

Olaf Kellerhoff ist Projektleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Marokko.