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"Die Isolation ist für die inhaftierten Journalisten das Schlimmste"

Can Atalay, der Ahmet Şık im Cumhuriyet-Prozess verteidigt, zu Gast in Berlin

Wie sehr sind Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei in Gefahr? Das diskutierten anlässlich der Verleihung des Raif Badawi Award 2017 für mutige Journalisten die ehemalige Justizministerin Sabine-Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), Rechtsanwalt Can Atalay, der Ahmet Sik im Cumhuriyet-Prozess verteidigt, Michael Windfuhr vom Deutschen Institut für Menschenrechte und Cihan Sinanoglu, Sprecher der Türkischen Gemeinde Deutschland.

Um diese Themen ging es: Seit dem gescheiterten Putsch-Versuch werden die politischen Entwicklungen in der Türkei mit immer größerer Sorge beobachtet. Der Streit über den Völkermord an den Armenieren, über Incirlik, Nazi-Vergleiche, Einmischung in den deutschen Bundestagswahlkampf und vor allem das Schicksal der inhaftierten Deutschen: Das zerrüttete Verhältnis zwischen Berlin und Ankara und die drastischen Einschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit führen auch hierzulande zu Reaktionen. Auch deutsche Staatsbürger sind betroffen, wie der Welt-Journalist Deniz Yücel, Menschenrechtsaktivist Peter Steudtner, um nur einige prominente Fälle zu nennen. Für die Friedrich-Naumann-Stiftung besonders im Fokus: der Preisträger des diesjährigen Raif-Badawi-Award, Investigativ-Journalist Ahmet Sik.

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Angst und Selbstzensur

Jetzt, da in Deutschland der Wahlkampf vorbei ist, könnte man hoffen, dass es endlich eine Chance gäbe, etwas für die Inhaftierten zu erreichen. Dieser Hoffnung stellt Can Atalay, Anwalt des inhaftierten Journalisten Ahmet Sik, ein düsteres Bild entgegen. „Ahmet Sik ist ein wichtiger Journalist in der Türkei. Er hat gesagt, „niemand darf gefoltert werden für eine freie Meinung“. „Wenn man das sagt, muss man in der Türkei einen hohen Preis bezahlen. Aber die Journalisten einen höheren“, erklärt sein Anwalt.

Das Regime habe laut Atalay zum Ziel, die Leute zum Schweigen zu bringen. „Das Schlimme ist: die Leute zensieren sich schon selbst und trauen sich nicht mehr, sich frei zu äußern“, sagt Atalay, der auf der Frankfurter Buchmesser stellvertretend für den inhaftierten Sik den Raif-Badawi-Award 2017 entgegennehmen und in Hamburg und München auf weiteren Podiumsdiskussionen der Stiftung für die Freiheit zur Lage in der Türkei berichten wird. Und warnt: „In der Türkei wird jetzt ein Parteienstaat gegründet. Diese Folgen werden wir im ganzen Nahen Osten und in Europa spüren.“

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Kein Himmel über Silivri

Can Atalays bester Moment: Als Ahmet Şıks Anwalt über die Haftbedingungen der Journalisten spricht, wird es still im Raum. Ahmet Şık befindet sich im Gefängnis in Silivri. Wie sich für ihn die Isolationshaft anfühlt?“, Can Atalay windet sich sichtlich und ringt um die richtigen Worte. „Wie soll ich Ihnen das erklären? Die Inhaftierten können seit elf Monaten den Himmel nicht sehen, können nicht schreiben, keine Briefe von ihren Freunden erhalten. Selbst ihre Gespräche mit ihren Anwälten werden aufgezeichnet. Nur eine Stunde gibt es für Gespräche mit Frau, Kindern, Freunden. Im Beisein des Wärters natürlich. Und dieser kann die Treffen jederzeit abbrechen.“ Und zitiert seinen Mandanten: Die Türkei ist wieder zum größten Journalisten-Gefängnis der Welt geworden."

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„Ist der Raif-Badawi-Award für Ahmet Sik ein willkommenes Geschenk? Oder wird er dadurch noch mehr bedrängt? Als Staatsfeind gesehen“, will Moderatorin Ebru Tasdemir, Redakteurin bei der taz, von Can Atalay daraufhin wissen.

„Ein Ausdruck der Solidarität“

„Ahmet Sik hat sich über den Preis sehr gefreut, er ist für ihn ein Ausdruck an Solidarität“, erklärt sein Verteidiger. „Aber wir konnten darüber nur zehn Minuten reden – seine Isolation im Gefängnis ist umfassend.“ Atalay lacht: „Ich wurde gefragt, ob mir etwas passiert, oder ob Ahmet etwas passieren könnte. Er macht eine schwere Zeit durch. Aber ich habe noch nie jemanden gesehen, der so kritische Fragen stellt. Diese Finsternis in der sich die Türkei befindet… nur die Bürger können schaffen, Licht hineinzubringen.“

Und erklärt weiter, dass er natürlich immer auf der Lauer sein müsse. „In Istanbul dürfen mehr als hundert Anwälte ihren Beruf nicht mehr ausüben. Wann kommt der nächste Angriff und aus welcher Ecke? Ahmet Siks Buch wurde noch nicht gedruckt. Anwalt sein bedeute für ihn auch, für seine Veröffentlichung zu kämpfen.“

Insbesondere gab es zwei Analysen mit Streitpotential - die eine kam von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), die andere von Cihan Sinanoğlu, Sprecher der Türkischen Gemeinde Deutschlands.

  • Leutheusser-Schnarrenberger argumentierte, die Bundesregierung müsse gegenüber der Türkei zu einer deutlich klareren Haltung finden. Erst viel zu spät hätten Kanzleramt und Außenministerium auf die frappierenden Beschneidungen der Presse- und Meinungsfreiheit im Lande reagiert, die nun auch deutsche Staatsbürger wie den Menschenrechtler Peter Steudtner beträfen. Diesem drohen bis zu 15 Jahre Haft. Die zweimalige Bundesjustizministerin wies im Rahmen der durch die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit durchgeführten Podiumsdiskussion weiter darauf hin, dass man viel zu lange vor empfindlicheren – aber erfolgversprechenderen – Maßnahmen wie etwa Verhandlungen über eine Einschränkung der Zollunion, zurückgeschreckt sei.
  • Sinanoğlu wiederum erklärte, nur 13 Prozent der in Deutschland lebenden Türken hätten überhaupt Erdogan gewählt. Dieses Bild würde in der Öffentlichkeit aber oftmals verzerrt dargestellt. Er appellierte daran, die türkische Gemeinde in Deutschland differenzierter zu betrachten. Der Pressesprecher gab dennoch zu, dass auch sehr gebildete und bestens integrierte Türken, wie beispielsweise Ärzte, ihr Kreuz bei Präsident Erdogan gemacht hätten. „Da liegt ein falsches Demokratieverständnis vor“, sagte Sinanoğlu. Und fügte hinzu: „Das sehe ich bei der AfD aber auch. Da gibt es Parallelen.“

„Die Menschen sollen mundtot gemacht werden“

Leutheusser-Schnarrenberger weiß, dass der Europäische Menschengerichtshof manchmal die einzige Hoffnung für Menschen in der Lage von Ahmet Sik sei, sozusagen ihre „letzte Instanz“. „Die Crux ist: er kommt eigentlich erst zum Tragen, nachdem der Rechtsweg im Heimatland ausgeschöpft ist. Nur: dieser Weg ist den Menschen in der Türkei ja versperrt“, zeichnete das Vorstandsmitglied der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit das Dilemma der inhaftierten türkischen Journalisten. Und findet: „Der Europäische 

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Menschengerichtshof könnte mit der jetzigen Situation auch anders umgehen, weil es zurzeit keinen Rechtsschutz in der Türkei gibt.“

Deutschland könne eine eigene Beschwerde einreichen, dann müsste sich der Europäische Menschenrechtshof damit befassen, befand die ehemalige Justizministerin. „Es wäre ein richtiger Weg. Ich sehe im Moment nicht die Möglichkeit, mit Diplomatie und Dialog etwas zu erreichen“, so Leutheusser-Schnarrenberger. Das Thema ständig wieder auf die Tagesordnung des UN-Sicherheitsrat zu heben, sei eine weitere Option. Leutheusser-Schnarrenberger: „Aber es hat nicht die Wirkung, die der Europäische Menschengerichtshof erreichen könnte.“ Michael Windfuhr, stellvertretender Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte sagte, dass auch seine Institution versuche, Einfluss zu nehmen. Die Tendenz weltweit freie Meinungsäußerungen einzuschränken, sei wieder da.

Kontrovers diskutiert: Sollen wir die Beitrittsverhandlungen abbrechen?

„Die Beitrittsverhandlungen abbrechen? Dann würden wir die einzigen Kontrollmechanismen aufgeben, die wir überhaupt haben. Das ist keine Lösung“, findet der Sprecher der türkischen Gemeinde in Deutschland, Sinanoglu. Und argumentiert weiter: „Wir müssen uns zur liberalen demokratischen Türkei bekennen, Partner suchen und auf politischer Ebene versuchen, Einfluss zu nehmen.“ Das sieht Sabine Leutheusser-Schnarrenberger anders. „Ich sehe im Moment keinen Weg dahin, vernünftige Verhandlungen mit der Türkei über ihren Beitritt zur EU zu führen. Und wir können diese Verhandlungen ja nicht mit der Zivilgesellschaft führen, sagt die ehemalige Justizministerin.

Wer von beiden hat recht? Wichtig ist Leutheusser-Schnarrenberger, die schweigende Mehrheit in der Türkei zu ermutigen. Dazu unterstütze die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit mit der Arbeit ihres Istanbul-Büros Kräfte vor Ort. „Aber wir erleben auch, wie sehr unsere Partnerorganisationen unter Druck geraten.“ Sinanoglu plädiert dafür, verbal abzurüsten, pauschale Bilder zu hinterfragen und die türkische Zivilgesellschaft zu stärken.

Die interessantesten Fragen aus dem Publikum:

Die Türken in Deutschland scheinen in doppelter Hinsicht privilegiert zu sein, konstatiert ein Berliner Besucher der Veranstaltung. Diese könne sich schließlich in der freien Presse informieren. „Wie erklären Sie die Spaltung in der türkischen Community?“, will der Fragensteller von Sihan Sinanoglu wissen. Der Sprecher der türkischen Gemeinde in Deutschland gibt zu bedenken, dass sich einige Türken in Deutschland strukturell diskriminiert fühlten. Etwa auf dem Wohnungs- oder dem Jobmarkt. „Manche Deutschtürken fühlen sich ausgegrenzt. Ich habe von unserer Kanzlerin nicht einmal gehört: ihr seid auch unsere Bürger“, kritisiert Sinanoglu. Gibt aber auch zu: „Es gibt ein Demokratie-Verständnisproblem. Da ziehe ich Parallelen zur AfD.“

Stipendiat Lukas Lasser will von Leutheusser-Schnarrenberger wissen: „Warum gibt es keine eindeutige Reisewarnung der Regierung?“ Die zweimalige Justizministerin erhält für ihre Antwort Szenenapplaus vom Publikum: „Zurzeit ist es mehr so ein Gewurschtele“, beschreibt die FDP-Frau ihren Eindruck. Und antwortet mit einer Gegenfrage: „Was spricht in der jetzigen Situation mehr dafür als eine deutliche Reisewarnung“?

Das Fazit nach dem Talk: Eine Entspannung der Menschenrechtssituation in der Türkei ist nicht in Sicht. Inhaftierte Journalisten, entlassene Lehrer und Richter sowie kritische zivilgesellschaftliche Akteure, müssen durch Öffentlichkeitsarbeit ermutigt und gestärkt werden, ihre Meinung weiterhin frei zu äußern. Rechtliche Schritte durch den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof hält die ehemalige Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) für angebracht, als auch eine Reisewarnung für die Türkei.