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Der Kreml gegen die Krimtataren

Die Urbevölkerung der Krim sucht neue Wege, der russischen Besatzung zu widerstehen
Putin

Seit dem Frühjahr 2014 besetzt Russland die Krim.

© iStock/ Lux_D

1944: Verräter. 2017: Terroristen“. Ein Mann mit diesem Plakat in der Hand steht am Straßenrand nahe  einer Stadt auf der Krim. Er will damit kundtun, dass sein Volk, die Krimtataren, seit mehr als einem halben Jahrhundert verfolgt werden. 1944 hatte Stalin alle Krimtataren, mehr als 200.000 Menschen, wegen angeblicher Kollaboration mit Hitler von der Krim vertrieben. Jetzt werfen ihnen die russischen Besatzungsbehörden grundlos terroristische Pläne vor.

Es dauert nicht lange, bis die Polizei kommt und den Krimtataren auf die Wache bringt. Nach den russischen Gesetzen, die nun auf der Krim wirken, ist er ein Störenfried und potenzieller Krimineller. Einzelmahnwachen wie seine, weitab von öffentlichen Gebäuden und belebten Straßen, sind heute die einzige Möglichkeit, die Unterdrückung publik zu machen. An nur einem Oktobertag haben zugleich mit diesem Aktivisten etwa einhundert weitere Krimtataren auf der ganzen Krim protestiert.

Krimtataren als Gefahrenquelle

Nachdem Russland im Frühjahr 2014 gegen alle internationalen Regeln und ohne Kriegserklärung die Halbinsel Krim besetzt hat, sind dort fast alle Möglichkeiten für freie gesellschaftliche Aktivitäten zerstört worden.  Die Krimtataren als Ureinwohner der Halbinsel wurden inoffiziell als Gefahrenquelle für die russische Macht erklärt. Von insgesamt dreihunderttausend Krimtataren waren Zehntausende gezwungen, auf das ukrainische Festland überzusiedeln, ihre politischen Organisationen wurden zerschlagen, die Möglichkeiten ihrer nationalen Entwicklung  blockiert.

Die nationale Regierung – die Medschlis – sowie das Parlament der Krimtataren wurden durch die russischen Behörden für illegal erklärt. Gegen zwei stellvertretende Medschlis-Vorsitzende wurden strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet, beide befinden sich im Gefängnis. Einem von ihnen, Ahtem Chiygoz, wird zur Last gelegt, im Februar 2014 eine Kundgebung gegen die russische Invasion organisiert zu haben. Der andere, Ilmi Umerov, wird beschuldigt, im ukrainischen Fernsehen  die Befreiung der Krim von der russischen Macht gefordert zu haben. Um einem gleichen Schicksal zu entgehen und die Rechte der Krimtataren ungehindert verteidigen zu können, befinden sich andere Medschlis-Führer inzwischen in Kiew.

Eskender Bariiev

Eskender Bariiev

© Akim Seitablayev

Die nationale Regierung der Krimtataren wurde auf dem Territorium Russlands zur "extremistischen Organisation" erklärt und ihre Aktivitäten sind verboten. Die UNO, das Ministerkomitee des Europarates, das Europäische Parlament und die ukrainische Regierung haben sich gegen dieses Verbot ausgesprochen. Der Internationale Gerichtshof hat Moskau per Gerichtsentscheid aufgefordert, die Möglichkeit für die Aktivitäten der Medschlis wiederherzustellen.

Menschen „verschwinden“

Seit Beginn der russischen Besetzung der Krim sind 14 Menschen verschollen, ohne dass die Behörden etwas zu ihrem Wiederauffinden unternommen hätten. Dies lässt den Verdacht aufkommen, dass die Behörden selbst diese Menschen entführt und möglicherweise getötet haben – die Vermissten waren als Gegner der Besatzung bekannt. Zehn Aktivisten wurden getötet und ihre Leichen gefunden – vollwertige Ermittlungen blieben aus. Die Mehrheit von ihnen sind ethnische Krimtataren.

Zur gleichen Zeit wurden auf der Krim 53 Personen aufgrund weit hergeholter Anklagepunkte verhaftet. Mehr als tausend wurden gezwungen, auf Polizeistationen vorstellig zu werden, wo sie wegen ihrer offenen politischen Position eingeschüchtert wurden.

Dieser Tage nun erfinden die moskauhörigen Krimbehörden Bestrafungsmaßnahmen für die Teilnehmer der Einzelmahnwachen. Formell haben diese zwar kein Gesetz verletzt, jedoch versucht die Polizei zu beweisen, dass es sich um eine koordinierte extremistische Gruppe handelt. Die Teilnehmer der Aktion werden zu Verhören geladen und psychologischem Druck ausgesetzt mit dem Ziel, dass sie sich selbst anzeigen.

Verhandlungen vonnöten

Während der Erstellung dieses Beitrags wurde bekannt, dass Ilmi Umerov und Ahtem Chiygoz auf persönlichen Befehl Wladimir Putins aus dem Gefängnis entlassen wurden. Russische Geheimdienste haben sie in die Türkei verbracht, von dort reisten sie nach Kiew. Hiermit demonstriert Putin einmal mehr, dass es in seinem Land einfach ist, eine Person festzunehmen und auch wieder freizulassen, ohne Zwang von Gesetzen und rechtlichen Verfahren. Mit der Überstellung von Umerow und Chiygoz in die Türkei vermied der russische Präsident die Demütigung, sie direkt in die Ukraine zu bringen. Ohne Zweifel ist die Freiheit von Umerov und Chiygoz das Ergebnis langwieriger Verhandlungen seitens der Präsidenten der Türkei und der Ukraine, der langfristigen Arbeit der krimtatarischen Gemeinschaft, der ukrainischen Diplomatie und westlicher Menschenrechtsorganisationen.

Eskender Bariiev leitet das Zentrum für politische Analyse und Prognose „Die Krim“. Er lebt derzeit im Exil in Kiew.