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KRIEG IN EUROPA
Bildung gegen den Krieg

Wie ukrainische Lehrerinnen in einer Unterrichtsstunde 125.000 Hrywnja für die ukrainischen Streitkräfte sammelten
Євгенія Татарова

9 Stunden lang während der Live-Übertragung tauschten ukrainische Lehrer ihre Erfahrungen, Fähigkeiten und Kenntnisse mit Kollegen aus der ganzen Welt aus.

Jewhenija Tatarowa, die Direktorin des Kiewer Büros der Weiterbildungsschule für Englischlehrer, wurde zu Beginn des Krieges zum zweiten Mal zur Vertriebenen. Um unseren Sieg näher zu bringen, hielt sie ein mehrstündiges Seminar mit Englischlehrern ab, das 4.000 US-Dollar einbrachte. Die gesammelten Spenden übergab sie an die Serhij Prytula Stiftung für das ukrainische Militär. Im Projekt „Die Unbeugsamen“ erzählt Jewhenija Tatarowa darüber, wie man während des Krieges neue Bedeutungen findet und wie die englische Sprache der Armee hilft. 

Zweifache Geflüchtete

Mein Sohn ist meine ganze Familie in der Ukraine. So kam es, dass wir 2014 unser Zuhause in der Ostukraine verlassen mussten. Mein Sohn war damals fast sieben Jahre alt, er legte seine Hand in meine und wir fuhren mit einem kleinen Koffer vom Zuhause weg von dem Krieg. Wie es sich herausstellte, für immer. Er sah mich mit seinen Äuglein an und ließ mich nicht Halt machen. Wenn ich nachts weinte, wachte er auf und fragte: „Tut dir etwas weh?“ Und ich konnte noch nicht antworten, dass die Seele auch weh tun kann. 

Wir mussten noch umziehen, ich arbeitete hart an meiner beruflichen Entwicklung als Lehrerin, als Expertin, ich zählte die Minuten, die ich in waagerechter Lage verbringen konnte. Auf einer Konferenz in Baku wurde mir angeboten, die Leitung der Kiewer Zweigstelle der Schule zu übernehmen, die ein zertifiziertes Cambridge-Vorbereitungszentrum und eine Weiterbildungsschule für Englischlehrer ist. Ich war ständig unterwegs und arbeitete in verschiedenen Städten. Mein Sohn begleitete mich oft und war Ausbildungsstudent für Lehrer aus 15 Ländern.

Євгенія Татарова
© Євгенія Татарова | Jewhenija Tatarowa | Yevheniia Tatarova

Am 25. Februar führten wir noch einen früher geplanten Online-Workshop durch. Danach verbrachten mein Sohn und ich drei Tage im Badezimmer wegen ständiger Sirenen. Als bekannt wurde, dass die rote Linie der Kiewer U-Bahn schließt, war mir klar, dass dies unsere letzte Chance war, hier wegzukommen, da ich kein eigenes Auto habe. Wir kamen zum Hauptbahnhof, nahmen den ersten Zug nach Lwiw. Da wir eine große Lehrergemeinschaft haben, bot eine Lehrerin ihre Hilfe an. In Lwiw verbrachten wir drei Tage. Natürlich ging es nicht ums Geschäft: Ich webte zusammen mit Lwiwern Tarnnetze. Es war eine Gelegenheit, nützlich zu sein und Lwiw irgendwie für seine Gastfreundschaft zu danken. Dann zogen wir nach Mukatschewo, wieder zu einer Kollegin. Leider habe ich keine Verwandten in der Ukraine, die uns Zuflucht gewähren würden. Durch andere Kollegen erfuhr ich von der Zufluchtsmöglichkeit in Schweden. So fand ich mich in Sicherheit: Ein völlig fremder Mensch gab mir nicht nur ein Zuhause, sondern auch bedingungslose Unterstützung. Endlich konnte ich meine Gedanken darüber sammeln, was ich für unseren Sieg nützlich machen kann.

Hilfe für die Ukraine

Zunächst arbeitete ich als Logistikerin für die Freiwilligen, die die Menschen aus Butscha herausbrachten: Online füllte ich die erforderlichen Dokumente aus und erstellte Listen. Der Sohn sah die Nachrichten über Butscha, Irpin, Hostomel, Mariupol. Und er wiederholte: „Mama, wir haben Glück...“ Es bricht mir das Herz, dass unsere Kinder das „Glück haben“, am Leben zu sein. 

Diese Freiwilligenarbeit war nicht genug. Da die Arbeit unserer Kiewer Lehrerschule zum Stillstand kam, dachte ich, dass es sich lohnen würde, die Erfahrungen mit der Durchführung großer Online-Veranstaltungen zu nutzen, um Mittel für die Bedürfnisse der Ukrainischen Streitkräfte zu sammeln. So entstand die Idee eines neunstündigen Marathons, an dem Lehrer aus mehr als 20 Ländern teilnahmen. Sie konnten kurze Meisterklassen abhalten und als Live- oder aufgezeichnete Redner auftreten. Unser Marathon war völlig kostenlos, aber wir baten die Teilnehmer, wohltätige Beiträge in beliebiger Höhe zu leisten.

Neun Stunden lang teilten ukrainische Lehrer ihre Erfahrungen, Fähigkeiten und ihr Wissen während der Live-Übertragung mit Kollegen aus der ganzen Welt. Diese Länder leisteten Beiträge auf der Ebene der Bildungseinrichtungen – Ukraine, Slowenien, Georgien, Brasilien, Polen. Ich betonte, dass die Anzahl der Spenden und die Höhe der Summen davon abhängen, inwieweit es jedem Redner gelingt, die Stimmung zu vermitteln. Sie erscheint nur, wenn man über das spricht, was man liebt und kennt. Wir sammelten 125.000 Hrywnja, was mehr war, als wir erhofft hatten. Insgesamt zählten wir mehr als 800 Teilnehmer. Die Sammlung dauerte noch zwei Tage nach dem Ende des Marathons an. Zuerst wollten wir das Geld auf die Konten des Verteidigungsministeriums überweisen, haben uns dann aber für die Serhij Prytula-Stiftung entschieden, der nicht nur direkt hilft, sondern auch Rechenschaft ablegt.

Als ich meinen Kollegen die für den 27. März geplante Veranstaltung ankündigte, schrieb ich:

Gemeinsam können wir mehr erreichen, als wir uns jetzt vorstellen können. Ich bin sicher, dass wir alle einer Meinung sind und verstehen, dass jetzt nicht jeder Auftritt ein eigenständiger Auftritt ist. Wir sind nicht mehr jeder für sich selbst. Jetzt sind wir ein Team, in dem jeder von uns die Verantwortung für das Gesamtergebnis trägt.

Über Gegenwart und Zukunft

Solche Marathons sind sehr schwierig, vor allem wenn sie unter Bedingungen höherer Gewalt vorbereitet werden, aber es gibt eine Nachfrage nach solchen Veranstaltungen, und wir werden versuchen, in dieser Richtung weiterzugehen.

Mein Geschäft, die Kiewer Schule macht jetzt Pause. Es ist klar, dass wir nicht die ganze Zeit umsonst arbeiten können, aber im Moment ist es auch beschämend, Vorkriegsgelder von unseren Menschen zu nehmen, die unter dem Krieg leiden. Um unsere Schule am Laufen zu halten, möchte ich mich darauf konzentrieren, unseren Kollegen, die im Ausland sind und dort arbeiten möchten, zu helfen, internationale Zertifikate für Englischlehrer zu erhalten. Internationale Zertifikate werden weltweit anerkannt. Sobald Sie ein solches Zertifikat haben, können Sie leicht Arbeit finden, wo immer Sie sind. Ich bin jetzt mit den Vorbereitungen beschäftigt, um alle Prozesse in Gang zu bringen.

Євгенія Татарова

In unserer ukrainischen Gemeinschaft stellten wir auch fest, dass unsere Kollegen und Schüler aus anderen Ländern an den Informationen über Ereignisse in der Ukraine interessiert sind, die wir auf unseren Seiten verbreiten. Es besteht ein Bedarf an objektiven Informationen, denn die russische Propaganda lässt denkende Menschen mit vielen Fragen zurück. Deshalb planen wir eine Art Aufklärungsaktivität: Wir bereiten thematische Unterrichtsstunden über die Ukraine vor, die von Englischlehrern auf der ganzen Welt genutzt werden könnten. Die erste derartige Probestunde wurde von meiner Kollegin Jewhenija Kostenko entwickelt und sie war ein großer Erfolg, also sollten wir diese Arbeit gemeinsam fortsetzen. 

Ein Kreis von Gleichgesinnten ist eine echte Rettung in Notsituationen, wenn der Stress das Maß übersteigt. Sei es auch ein sehr kleiner Kreis, aber das werden Menschen sein, die dich akzeptieren und unterstützen. Toxische Menschen sollten gemieden und sogar abgeschnitten werden, denn jetzt geht es ums Überleben, einschließlich der Erhaltung unserer psychologischen Ressourcen, die bald nach unserem Sieg benötigt werden!

Dieser Artikel wurde im Rahmen des speziellen Autorenprojektes "Die Unbeugsamen" in Kooperation mit WoMo veröffentlicht - gefördert durch das Auswärtige Amt.

AA (OP)

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