Die systematische Unterdrückung der Opposition unter Orbán
Ungarns nächste Wahl: Ein Test für die Demokratie
In Artikel 2 Absatz 1 des ungarischen Grundgesetzes heißt es: „Die Parlamentsabgeordneten werden von den Bürgern auf Grund des allgemeinen, gleichen Wahlrechts in direkter und geheimer Wahl mit einem freien Ausdruck des Willens (…) gewählt.“
Doch genau dieses Grundrecht könnte im kommenden Frühjahr auf eine harte Probe gestellt werden. In Ungarn stehen Parlamentswahlen an – und es besteht die Gefahr, dass sie nicht den Prinzipien von Freiheit und Gleichheit entsprechen werden.
Seit Viktor Orbán in den 2000er Jahren bereits einmal von der Zuschauertribüne aus erleben musste, wie andere die Geschicke des Landes bestimmen, hat er alles darangesetzt, eine Rückkehr in die politische Bedeutungslosigkeit zu verhindern. Seither baut er systematisch an einem Machtapparat, der ihn unangreifbar machen soll. Doch seit letztem Jahr gibt es einen Herausforderer, der ihm sein Amt streitig machen könnte. Péter Magyar, Orbáns ehemaliger Parteifreund, führt in den Umfragen und könnte so Viktor Orbán gefährlich werden.
Péter Magyar war fast zwanzig Jahre mit Orbáns Fidesz verbunden, er war mit der ehemaligen Justizministerin Ungarns verheiratet und saß für Fidesz im EU-Parlament. Seit Anfang 2024 ist Péter Magyar der größte politische Gegner Orbáns. Mit der Tisza-Partei holte Magyar bei der Europawahl fast 30% der Stimmen, Fidesz wurde zwar Wahlsieger, erring aber ihr schlechtestes Ergebnis. Tisza trat im EU-Parlament der EVP-Fraktion bei, aus der Fidesz vor einigen Jahren ausgetreten war. Die Popularität Magyars entspringt vor allem aus dem Skandal seiner Ex-Frau, die aufgrund der Begnadigung einer Person, die Kindesmissbrauch vertuscht hatte, zurücktreten musste. Im Zuge dessen veröffentlichte Magyar einen Audiomitschnitt, indem seine Ex-Frau Vertuschungen in Justizkreisen zugab und Magyar der Regierung Mafia-ähnliches Verhalten vorwarf. Daraufhin organisierte Magyar die größten Anti-Regierungs-Demonstrationen seit Jahren. Magyar und Tisza haben seitdem an Popularität und Zuspruch gewonnen, besonders unter Oppositionswählern. Gefährlich werden könnte er Orbán unter anderem durch sein Insider-Wissen.
In diesem Artikel geht es darum, welche Hindernisse Orbán in den letzten Jahren errichtet hat, um seine Macht gegen jede Bedrohung aus der Opposition abzusichern. Hierfür werden im Folgenden verschiedene Gesetze betrachtet, die der Opposition bei der nächsten Wahl gefährlich werden könnten.
Die Maßnahmen im Überblick
Souveränitätsgesetz
Bereits im Dezember 2023 schuf das ungarische Parlament ein neues Amt für Souveränitätsschutz. Dieses sollte Organisationen und Personen überwachen, die angeblich ausländische Interessen verfolgen würden, weil sie Gelder aus dem Ausland annehmen. Das Amt erhielt weitreichende Befugnisse und darf etwa in die Ermittlungstätigkeiten anderer Behörden eingreifen. Betroffenen könnten bis zu drei Jahre Haft drohen. Das Gesetz sorgte für Kritik aus der EU. Die EU-Kommission zog vor Gericht und warf Ungarn vor, gegen demokratische Grundprinzipien wie dem Recht zur freien Meinungsäußerung zu verstoßen. Am Dienstag dem 16.09.2025 begann zu diesem Gesetz die mündliche Verhandlung vor dem Europäischen Gerichtshof.
Anfang dieses Jahres (2025) erreichte die Entwicklung eine neue Eskalationsstufe. Kurz nach Orbáns Ankündigung, die „Bugs“ (Käfer/Wanzen) aus Ungarn vertreiben zu wollen, legte ein Fidesz-Abgeordneter dem Parlament einen Entwurf vor, der das Souveränitätsgesetz erweitern soll. Das Amt soll weitere Befugnisse erhalten, wie etwa die, ein mögliches Verbot der betroffenen Organisationen auszusprechen, was dazu führen könnte, dass Oppositionelle nicht zum Wahlkampf nächstes Jahr zugelassen werden könnten. Der Gesetzesentwurf wirft Einzelpersonen und Organisationen vor, ausländische Gelder zu verschleiern, obwohl zivilgesellschaftliche Gruppen ihre Gelder bereits jetzt so transparent offenlegen, wie es das Gesetz ihnen vorschreibt. Das Gesetz betrifft erneut vor allem Oppositionelle, Journalisten und Organisationen, die sich insbesondere für die Vielfalt von Geschlechtern einsetzen. Der Zeitpunkt ist kaum zufällig: Mit Péter Magyar liegt Orbáns größter Herausforderer derzeit in den Umfragen vorn.
Der Gesetzentwurf löste eine Welle von Protesten aus, was ungewöhnlich für die ungarische Bevölkerung ist. Gleichzeitig zeigt jedoch eine Umfrage, dass rund 20 Prozent der Bevölkerung die Ziele des Gesetzes unterstützt. Es sieht vor, die Unabhängigkeit Ungarns, sowie Themen wie Ehe, biologisches Geschlecht und die christliche Kultur vor der Einflussnahme anderer Regierungen zu beschützen.
Aufhebung ungarischer Staatsbürgerschaft
Auch das zweite Gesetz, das hier betrachtet werden soll, schränkt insbesondere die Rechte Oppositioneller ein:
Im Januar 2025 verabschiedete das ungarische Parlament ein Gesetz, das tief in die Rechte der ungarischen Bürger eingreift: Wer neben der ungarischen eine zweite Staatsbürgerschaft besitzt, dem kann die ungarische aberkannt werden. Laut §9/B Absatz 1a ungarisches Grundgesetz betrifft dies Personen, die eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen. Besonders brisant ist der Zusatz, dass jeder Bürger einen Vorschlag einreichen kann, wem die Staatsbürgerschaft entzogen werden sollte.
Betroffen von dem Gesetz sind insbesondere Oppositionspolitiker und Regierungskritiker. Das Gesetz beruht auf dem Vorwurf, dass sie im Namen einer anderen Regierung beziehungsweise Macht handeln würden und damit Ungarn Schaden zufügen wollen.
Die Staatsbürgerschaft kann für bis zu zehn Jahre entzogen werden. Eine solche Regelung ist international einmalig. Auch die Entstehung dieses Gesetzes sprach Bände, da es ohne öffentliche Debatte im Parlament durchgereicht wurde und noch am selben Tag vom Präsidenten unterschrieben worden war. Dieses Vorgehen offenbart nicht nur den Umbau des Staates nach Orbáns Vorstellungen, sondern auch einen direkten Angriff auf EU-Recht und die Grundwerte liberaler Demokratien.
Änderung der Wahlkreise
Das folgende Gesetz erweckt zunächst nicht den Anschein eines Angriffs auf die Grundwerte einer liberalen Demokratie. Auf dem zweiten Blick zeigt sich jedoch auch hier, dass die Opposition von dem Gesetz benachteiligt und damit die Demokratie unterwandert wird.
Bereits 2011 nahm die Regierung erste tiefgreifende Änderungen an den Wahlkreisen vor. Damals wurde nicht nur die Zahl der Parlamentsabgeordneten halbiert, sondern auch festgelegt, dass jede Partei in mindestens zwei Dritteln der Verwaltungsbezirke Kandidat*innen aufstellen muss. Eine Hürde, die vor allem kleinere oppositionelle Parteien kaum überwinden können.
Im November 2024 wurden dann erneut die Wahlkreise geändert, sodass es in Budapest zwei Direktmandate weniger gibt, im ländlichen Umland dafür zwei mehr. Mit einer möglichen Bevölkerungswanderung kann dies nicht gerechtfertigt werden, so ein Wahlforscher vom Thinktank Political Capital. Vielmehr liegt der Verdacht nahe, dass die Opposition geschwächt werden soll: In Budapest holte sie in der Vergangenheit immer sichere Mandate, die nun reduziert wurden.
Änderung der Stimmzettel-Ausgabe
Ein Gesetz anderer Natur, aber ähnlicher Wirkung ist Folgendes:
Vor weniger als einem Jahr haben die Anhänger der Fidesz-Partei im Justizausschuss für eine Änderung des Wahlgesetzes gestimmt. Seitdem dürfen keine Umschläge mehr für die Stimmzettel ausgegeben werden. Über die Gründe für das Gesetz kann man nur spekulieren, aber man kann die Vermutung anstellen, dass das Gesetz auf eine Schwächung der Opposition abzielt.
Die Opposition warnt vor einem Angriff auf das Wahlgeheimnis und sieht darin einen weiteren Versuch, die Grundlagen für freie und geheime Wahlen auszuhöhlen. So können beispielsweise in kleineren Gemeinden die Wahlbeamte leichter kontrollieren, wer für welchen Kandidaten abgestimmt hat.
Legitimation der Angabe falscher Wohnadresse
Auch das folgende Gesetz spielt der Fidesz-Partei in die Karten:
Seit 2022 erlaubt ein Gesetz, dass Bürger*innen fiktive Wohnadressen angeben dürfen, selbst dann, wenn sie gar nicht die Absicht haben, dort zu wohnen. Begründet wurde dies mit einer Entkriminalisierung hunderttausender Ungarn, die vergessen hätten, ihren Wohnsitzwechsel anzugeben. Kritiker sehen darin jedoch eine Möglichkeit des Wahlbetrugs. Denn bereits während der Wahl 2018 wurden hunderte Wähler illegal aus dem Ausland mit Bussen in die angrenzenden ungarischen Gemeinden gefahren, damit diese dort ihre Stimme abgeben konnten. Sie lebten angeblich zu dutzenden in Einfamilienhäusern. Deren Besitzer sollten die falsche Wohnadresse der Wähler*innen bestätigen und wurden dafür mit Jobangeboten gelockt. Mit der neuen Regelung wird diese Praktik legalisiert. Wähler konnten so 2022 legal in Gemeinden wählen, in denen sie gar nicht leben, sodass Fidesz dort auch die Stimmmehrheit verteidigen konnte. Als Gegenleistung wurden Jobs und Geld geboten.
Änderung des Wahlrechts für im Ausland lebende Ungarn
Wie das zuvor erwähnte, spielt auch das nächste Gesetz Fidesz in die Karten. Durch den Friedensvertrag von Trianon leben etwa zwei Millionen ungarisch-stämmige Bürger*innen in den angrenzenden Ländern. Während die meisten Ungarn bis zu tausende Kilometer reisen müssen, um ihre Stimme in einer ungarischen Botschaft oder Vertretung persönlich abgeben zu können, wurde das Wahlrecht für die ungarischen Minderheiten in Rumänien, Ukraine und Serbien 2018 erleichtert. Sie dürfen bequem per Briefwahl ihre Stimme abgeben. Diese Gesetzesänderung ist kein Zufall. Viele der Angehörigen der ungarischen Minderheit in den Nachbarländern sind Fidesz-Wähler, auch, weil sie von Budapests Regierung profitieren. Sie erhalten staatliche Zuwendungen wie Sozialleistungen oder den vereinfachten Zugang zur Staatsbürgerschaft.
István Székely, Vizepräsident der Demokratischen Allianz der Ungarn Rumäniens (RMDSZ) für Soziales, weist diese Vorwürfe zurück. Seiner Ansicht nach sei das Wahlrecht der im Ausland lebenden Ungarn ein rein symbolischer Akt. Denn es können keine einzelnen Abgeordnete gewählt werden, wodurch nur wenige Mandate errungen werden.
Bedeutung für die Opposition
All diese Gesetzesänderungen haben eins gemeinsam: Sie schränken die Arbeit der Opposition erheblich ein.
Das Souveränitätsgesetz verschleiert mit der Begründung, Ungarn vor der Einflussnahme ausländischer Staaten schützen zu wollen, die Überwachung und Kleinhaltung der Opposition. Die Einflussnahme ausländischer Staaten durch finanzielle Zuwendungen wird unter anderem auch Peter Magyar vorgeworfen. Das Gesetz über die doppelte Staatsbürgerschaft birgt die Gefahr der Ausweisung Oppositioneller aus Ungarn. Durch die Änderung der Wahlkreise wurde dafür gesorgt, dass weniger Oppositionelle im Parlament vertreten sein werden, das Verbot von Umschlägen für die Stimmzettel dient der Abschaffung des Wahlgeheimnisses. Durch das fehlende Wahlgeheimnis kann es zu Einschüchterungen kommen, sodass sich Wähler*innen nicht trauen, ihre Stimme der Opposition zu geben. Die Legalisierung fiktiver Wohnadressen führt ebenso dazu, dass Fidesz sich mehr Wählerstimmen sichern kann. Gleiche Wirkung hat die Änderung des Wahlgesetzes für im Ausland lebende Ungarn.
Die Existenz und Arbeit der Opposition ist eine Grundbedingung für eine Demokratie. In all diesen Gesetzen ist zu sehen, wie Orbán systematisch liberale Werte einer Demokratie untergräbt und Ungarn Schritt für Schritt in eine Autokratie verwandelt.
Die Folgen reichen über Ungarns Grenzen hinaus. Orbán hat bereits in naher Vergangenheit Sanktionen bezüglich Russlands sowie finanzielle und militärische Unterstützung für die Ukraine verhindert oder verzögert und auch seine Annäherungen an andere autoritäre Staaten wie China können für die Zukunft und Sicherheit Europas zum Problem werden.
Fazit
Der Artikel hat aufgezeigt, welche Maßnahmen die Regierung Orbán in den vergangenen Jahren ergriffen hat, um die Opposition zu schwächen und ihre eigene Machtbasis zu festigen. Da eine starke Opposition zu den zentralen Elementen einer Demokratie gehört, bedeutet diese Entwicklung eine erhebliche Belastung für das politische System. Die Wahlen 2026 werden zeigen, ob Ungarn weiterhin als funktionierende Demokratie innerhalb der EU bestehen kann.