Die systematische Unterdrückung der Opposition unter Orbán
Orbáns Weg zur ewigen Macht
Im April 2026 wählt Ungarn ein neues Parlament. Möglicherweise ist dies eine Schicksalswahl für das immer autoritärer werdende Land. Seit 2010 regiert Ministerpräsident Viktor Orbán mit einer klar illiberalen Agenda. Während seiner Amtszeit wurden Grundrechte eingeschränkt und die Medienlandschaft unter staatliche Kontrolle gebracht. Systematisch werden Demokratie und Rechtsstaatlichkeit abgebaut. Damit stellt er nicht nur die demokratischen Rechte der ungarischen Bürgerinnen und Bürger in Frage, sondern auch die grundlegenden Prinzipien der Europäischen Union. 2022 sprach das Europäische Parlament in einer nicht bindenden Erklärung Ungarn den Status einer Demokratie ab. Mit zahlreichen Gesetzesinitiativen versucht Orbán, das politische System so umzubauen, dass er hoffen kann, politische Gegner damit auszuschalten. Doch seit einem Jahr gibt es einen ernstzunehmenden Herausforderer, der Orbáns Machtanspruch bedrohen könnte.
Wird es ihm, diesem Gegner, gelingen, Orbáns Machtapparat zu bedrohen?
Diese kleine Artikelserie soll zeigen, wie Orbán systematisch daran arbeitet, sich die Macht dauerhaft zu sichern.
Umbau eines Staates
Viktor Orbán ist nicht nur der dienstälteste Regierungschef der EU, er ist auch der umstrittenste. Schon 1998 stand er an der Spitze Ungarns. Nach einer Wahlniederlage 2002 verschwand er zwar aus dem Amt, nicht aber von der Bildfläche. Im Gegenteil: Er nutzte die Jahre in der Opposition, um sich neu zu erfinden. In dieser Zeit durchlebte er eine massive politische Krise; er litt stark darunter, nicht mehr an der Macht zu sein. Nach seiner Wiederwahl 2010 verlor er keine Zeit und begann mit dem radikalen Umbau des Staates. Wo es ihm möglich war, wechselte er die Schlüsselpersonen aus. Die Medienlandschaft wurde auf Linie gebracht, die Verwaltung zentralisiert und die Unabhängigkeit der Justiz beschnitten. Das Verfassungsgericht besetzte er mit regierungstreuen Juristinnen und Juristen. Wer nicht in sein religiös-konservatives, nationalistische Bild von Staat, Familie und Politik passt – queere Menschen, Oppositionelle, Journalistinnen und Journalisten –, der wird durch Gesetze diskriminiert. Orbán untergräbt dabei gezielt Werte wie Gleichberechtigung, individuelle Freiheiten und den Schutz von Minderheiten, essentielle Werte einer liberalen, pluralistischen Gesellschaft. Kritiker werfen Orbán den Abbau von demokratischen und rechtsstaatlichen Elementen vor. Die EU stoppte den Fluss europäischer Fördermittel. Doch Orbán zeigte sich unbeeindruckt. Ohne jeden Skrupel kündigte er bereits in einer Rede 2014 das Ziel an, Ungarn zu einem illiberalen Staat umbauen zu wollen, der sich an Russland und China, aber nicht mehr an der EU orientieren werde.
Orbán ging es von jeher um Machtgewinn und -erhalt. Bereits in der Frühphase seiner politischen Karriere drängte er unliebsame Rivalen aus der Partei und sicherte sich so seinen Einfluss.
Auch das Wahlrecht änderte er so ab, dass sichergestellt war, dass er sein Ministerpräsidentenamt nicht so schnell verlieren würde. Die Erfolge dieser Änderung zeigten sich bei der letzten Wahl 2022. Unabhängige Beobachter beanstandeten eine Benachteiligung der Opposition. Die Wählerinnen und Wähler hatten beispielsweise kaum die Chance, sich über Gegenkandidaten von Orbán zu informieren, weil die Kandidaten ihre Wahlplakate nicht auf Werbetafeln projizieren durften. Die Medien sind mehrheitlich in den Händen von Orbáns Verbündeten, sodass die Berichterstattung über die Opposition überwiegend aus Falschbehauptungen besteht. Unabhängige, regierungskritische Journalistinnen und Journalisten wurden in der Vergangenheit unter anderem mit dem Spionagesystem Pegasus ausgespäht.
Der letzte unabhängige Radiosender wurde 2021 eingestellt. Die Gleichschaltung der Medien ist ein wichtiger Schritt hin zum Staatsumbau. Demokratie, freie Meinungsbildung und Medienfreiheit werden systematisch untergraben. Auch gab es in der Vergangenheit verschiedene Änderungen im Wahlsystem, die den Wahlausgang beeinflusst haben könnten. Vorwürfe der Manipulation von Wahlzetteln im Ausland zugunsten von Fidesz wurden erhoben. Es gibt Zweifel an der Unabhängigkeit der Mitglieder der Wahlbehörden, da diese ohne entsprechende Debatte vom Parlament ernannt werden. Die Stimmabgabe von im Ausland lebenden Ungarinnen und Ungarn wird erschwert. Die Manipulation und aktive Einflussnahme auf Wahlen untergraben nicht nur die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn, sondern gefährdet auch die demokratische Integrität der Europäischen Union. Das hat sich zuletzt im Juni 2024 bei den Wahlen zum Europäischen Parlament gezeigt.
All dies ist überhaupt nur möglich da Orbán mit seinem Parteienbündnis Fidesz-KDNP (rechtspopulistische christlich-demokratische Volkspartei) seit 2010 über eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament verfügt, mit der Gesetzesänderungen wie diese möglich sind. Die beiden Parteien treten seit 2006 als Bündnis bei Wahlen an.
In Ungarn wird das sogenannte „Grabenwahlsystem“ angewendet, bei dem zwei Wahlverfahren parallel zueinander existieren, ohne miteinander verrechnet zu werden. Die Wählerinnen und Wähler haben zwei Stimmen: Mit der Erststimme wählen sie einen Direktkandidaten aus dem Wahlkreis, mit der Zweitstimme eine Partei. Ungarn, die im Ausland leben, können lediglich die Zweitstimme abgeben. Mit Orbáns Wiederwahl 2010 veränderte er das Wahlsystem. Der erste Schritt war die Verkleinerung des Parlaments und der Neuzuschnitt der Wahlkreise. Auch die Registrierung für Parteien, Kandidatinnen und Kandidaten wurde verändert und insbesondere für kleinere Parteien erschwert. Die Wahlrechtsreform wurde ausschließlich von den Regierungsparteien Fidesz und KDNP unterstützt. Alle anderen Parteien stimmten dagegen oder boykottierten die Parlamentssitzung.
Orbáns Angst vor der Opposition
Über ein Jahrzehnt lang schien Orbán unantastbar. Doch seit 2024 ist das Machtgefüge ins Wanken geraten. Anfang 2024 verließ Péter Magyar, lange Zeit rechte Hand Orbáns, die Fidesz-Partei und trat der Tisza-Partei bei. Wenige Monate später errang er mit Tisza knapp dreißig Prozent der Stimmen bei den europäischen Parlamentswahlen. Die Fidesz-Partei erzielte wiederum ihr schlechtestes Ergebnis seit zwanzig Jahren.
Der Bruch Magyars mit Orbáns Partei hat verschiedene Gründe. Seine Ex-Frau Judit Varga, ehemalige Justizministerin, musste im Februar 2024 zurücktreten, da sie einen Mann begnadigt hatte, der pädophile Tätigkeiten vertuscht hatte. Nach der Scheidung und dem Bruch mit Fidesz kritisiert Magyar offen Korruption und Machtmissbrauch innerhalb der Orbán-Partei und Regierung. Auch politisch distanziert sich Magyar zumindest in der Haltung gegenüber NATO und EU vom Regierungschef. Er hält die Westbindung hoch, grenzt sich scharf von Russlands Krieg gegen die Ukraine ab und sicherte der NATO Bündnistreue zu. In anderen Punkten stimmt er jedoch mit Fidesz überein: Er ist gegen eine schnelle Aufnahme der Ukraine in die EU, will die Migrationspolitik Orbáns fortführen, und auch mit einer Liberalisierung der LGBTIQ+ -Rechte ist nicht zu rechnen. Ein radikaler Kurswechsel gegenüber der aktuellen Politik ist von ihm eher nicht zu erwarten sein, lediglich ein gemäßigteres Auftreten - keine guten Aussichten für die westliche Wertegemeinschaft.
Nicht nur der abtrünnige Magyar bereitet Orbán Kopfschmerzen, sondern auch das System, das er selbst sich aufgebaut hat. Es fängt an zu bröckeln, denn es beruht nicht auf ideologischen Überzeugungen, sondern auf Geldzuwendungen. Seitdem die EU die Zahlungen eingestellt hat, funktioniert dieses System nicht mehr.
Orbáns Reaktion auf diese Gefahr ließ nicht lange auf sich warten. Im März 2025 sprach er davon, sein Land vom „Ungeziefer“ befreien zu wollen, von Journalistinnen und Journalisten, NGOs, Oppositionellen und allen politischen Aktivistinnen und Aktivisten, die vermeintlich im Namen einer ausländischen Macht agieren und Ungarn Schaden zufügen wollen. Diese Behauptung ist offenkundig doppelzüngig, da Orbán seinerseits seine Macht durch eine mafiaähnliche Politik am Leben erhält.
Mit dieser Begründung wurde im Juni 2025 ein Gesetz erlassen, dass den Entzug der doppelten Staatsbürgerschaft möglich macht. Mit der Einstufung von Personen als „staatsgefährdend“ könnten diese im äußersten Fall aus Ungarn ausgewiesen werden. Dies betrifft insbesondere Regierungskritiker, denen vorgeworfen wird, für eine andere Regierung zu arbeiten und die daher vermeintlich eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellen. Auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von NGOs oder Oppositionelle, wie Mitglieder der liberalen Momentum-Partei, wären davon betroffen, da viele von ihnen doppelte Staatsbürgerschaften besitzen. Das Gesetz stellt einen wichtigen Eckpfeiler in Orbáns Strategie dar, Kritiker mundtot zu machen.
Wie geht es weiter?
Die Sorge Orbáns, seine Macht bei den Parlamentswahlen im Frühling 2026 womöglich an seinen ehemaligen Parteifreund zu verlieren, ist groß. Diese Sorge manifestiert sich darin, dass seit Ende 2023 verschiedene Gesetze erlassen wurden, die vor allem die Opposition in ihrer Arbeit einschränken. Schon Jahre zuvor hatte Orbán damit begonnen das Wahlsystem zu seinen Gunsten umzubauen. Einige der markantesten Beispiele werden im nächsten Artikel vorgestellt.