Foto 
  Karl-Heinz
 
  Paqué
Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

Hartz IV
Fördern und fordern!

Die Grundsätze des deutschen Arbeitsmarkts und der Sozialpolitik müssen so bleiben, wie sie sind. Daran ändert das Sanktionsmoratorium bei Hartz IV gar nichts.
Bundesagentur für Arbeit

Der Grundsatz „Fördern und Fordern“ ist unverändertes Leitbild

© picture alliance / Geisler-Fotopress | Christoph Hardt/Geisler-Fotopres

Wie so oft war es das Bundesverfassungsgericht, das den politischen Stein ins Rollen brachte. Mit seiner Entscheidung vom November 2019, dass Empfängern von Arbeitslosengeld II maximal 30 Prozent des Regelsatzes gestrichen werden können, stieß das höchste deutsche Gericht die Tür auf zu einer Reform der Hartz IV-Gesetzgebung und Praxis. Seither sind die Arbeitsagenturen ohnehin gehalten, die 30-Prozent-Marke zu respektieren. Im Vertrag der Ampelkoalition wurde dann der Übergang zu einem Bürgergeld beschlossen. Darin sollen – auf Initiative der FDP – wieder Leistungskürzungen bis zu 30 Prozent des Regelsatzes in Extremfällen möglich sein. In der Zwischenzeit – bis Mitte 2023 – liegt die Grenze bei nur 10 Prozent, ein koalitionsinterner Kompromiss als Antwort auf die Forderung der Grünen, ein komplettes Sanktionsmoratorium einzuführen.

Diagramm
© Bundesagentur für Arbeit

So also die Grundkonstellation. Sie ist politisch brisant. Oppositionspolitiker wie Herrmann Gröhe (CDU) rufen bereits polemisch, die Ampelkoalition gäbe das Prinzip „Fördern und Fordern“ komplett auf, was allerdings allein schon deshalb als politische Polemik abgetan werden kann, weil die Rückkehr zu höheren Sanktionssätzen für die Zeit nach dem Moratorium fest geplant ist.

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Inhalt ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.

Gleichwohl geht es natürlich nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts darum, eine Lösung zu finden, die auch bei den gesamtwirtschaftlichen Bedingungen der Gegenwart und Zukunft rechtlich, ökonomisch und sozial auf Dauer Bestand hat. Immerhin stammen die Hartz-IV-Gesetze aus einer Zeit der hohen Arbeitslosigkeit, die längst der Vergangenheit angehört. Die demografische Entwicklung sorgt inzwischen für ein großes Überangebot an offenen Stellen selbst für minderqualifizierte Erwerbspersonen, sodass die Chancen auf Vermittlung auch ohne allzu harten Sanktionsdruck der Arbeitsagenturen verbessert sein sollten. Was die Arbeitslosenquote betrifft, liegt Deutschland bei 5 Prozent, nach internationalen Vergleichsstandards sogar unter 3 Prozent. Es spricht deshalb vieles dafür, dass die Aufgabe der Re-Integration von Hartz-IV-Beziehern doch leichter geworden ist. Und bei Inflationsraten von zuletzt 7,4 Prozent dürfte es ohnehin den Arbeitsagenturen schwerfallen, auf größere Sanktionen zurückzugreifen, wenn die Realeinkommen der Hartz-IV-Bezieher deutlich nach unten gehen.

Kurzum: Das Moratorium kommt eigentlich zu einem recht günstigen Zeitpunkt, um neue Beobachtungen am Arbeitsmarkt auswerten zu können. Es ist aus wissenschaftlicher Sicht ein durchaus willkommenes natürliches Experiment: Bis Mitte des Jahres 2023 werden wir in einer Welt leben, in der die Sanktionshöhe auf 10 Prozent herabgedrückt ist – statt der früheren 30 Prozent. Die Bundesagentur der Arbeit wird in diesem Zeitraum gut feststellen können, wie sich dies auf die Sanktionsquote, also den Anteil an Sanktionsfällen an der Gesamtzahl der Hartz IV-Empfänger auswirken wird. Diese lag bis 2019 bei über 3 Prozent, danach – wegen der Corona-bedingten Zurückhaltung der Bundesagentur in der Sanktionsanwendung – bei knapp unter 1 Prozent. Diese ohnehin niedrigen Werte dürfen aber nicht als Maß für die Wirksamkeit von Sanktionen interpretiert werden, denn es ist ja gerade der Sinn der Möglichkeit von Sanktionen, den Anreiz zur Meldedisziplin und Arbeitsaufnahme bei jenen zu erhöhen, deren natürliche Neigung dazu eher gering ausfällt. Deren Zahl ist unbekannt, aber wohl erheblich höher als die der tatsächlichen Leistungsverweigerer.

Fazit: Nutzen wir die Zeit, um unser Arbeitsmarkt- und Sozialsystem weiter zu verbessern – auch durch kluge Auswertung der Erfahrungen bis Mitte 2023. Ein neu zu schaffendes Bürgergeld kann dann diese empirischen Erkenntnisse fruchtbar nutzen. Auch moralische Grundprinzipien müssen dabei natürlich Beachtung finden: Wer sich wirklich auf Kosten der Gemeinschaft alimentieren lässt, ohne selbst seine Möglichkeiten zur produktiven Arbeit zu nutzen, darf nicht mit der vollen Unterstützung der aktiv arbeitenden Bevölkerung rechnen. Dies muss die ethische Grundlage unserer Arbeits- und Sozialverfassung bleiben, auch in der Gesetzgebung und Praxis eines Bürgergelds, das Hartz IV ersetzen soll. Ein neuer Name ersetzt eben nicht die moralische Substanz. Der Grundsatz „Fördern und Fordern“ ist unverändertes Leitbild.