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Freiheit nach 400 Tagen

Cumhuriyet-Journalisten Ahmet Şık und Murat Sabuncu aus Gefängnis entlassen
Ahmad Şik

Ahmad Şik kann nach 430 Tagen in seine Zeitung zurückkehren

© Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

Während Raif Badawi Award-Preisträger Ahmet Şık und Cumhuriyet-Chefredakteur Murat Sabuncu unter Auflagen freigelassen werden, muss der Herausgeber der Zeitung weiterhin im gefürchteten Hochsicherheits- gefängnis von Silivri ausharren.

Es ist ein Foto der Freude. Mehrere Dutzend Menschen sitzen an einem langen Tisch, lachen und umarmen sich. Die Erleichterung spiegelt sich in ihren Gesichtern. Der Raum ist pickepacke voll, die meisten müssen stehen. Es ist einer der schönsten Momente der letzten Monate. In der Türkei, in der seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 der Ausnahmezustand herrscht und nichts mehr normal scheint, gab es schon lange nicht mehr so eine ausgelassene Stimmung. Es ist der Tag nach der Freilassung von Cumhuriyet-Chefredakteur Murat Sabuncu und Investigativjournalist Ahmet Şık. Sie pusten sogar Kerzen aus und essen eine Geburtstagstorte. Doch das Geburtstagskind ist nicht unter ihnen, was die Stimmung doch etwas trübt. Herausgeber Akın Atalay bleibt weiterhin in Untersuchungshaft. „Der Kapitän geht als Letzter von Bord“, soll der zuständige Richter gesagt haben, als er die weitere Inhaftierung Atalays verkündete.

Fadenscheinige und absurde Vorwürfe

Şık kehrt nach 430 Tagen zurück in seine Zeitung und bei Sabuncu sind es sogar fast 500. Sie gehörten zu den über 150 in türkischen Gefängnissen inhaftierten Journalisten. Seit Freitagnacht sind sie wieder auf freiem Fuß. Doch der Prozess gegen sie ist damit noch lange nicht am Ende; am 16. März soll es weitergehen. Bis dahin hat das Gericht verfügt, dass beide das Land nicht verlassen dürfen und dass sie sich jeden Sonntag bei der Polizei zu melden haben. Im Cumhuriyet-Prozess wird 18 Mitarbeitern der regierungskritischen Zeitung Unterstützung verschiedener Terrororganisationen vorgeworfen. Ihnen drohen bis zu 43 Jahre Haft. Bei den Terrorvorwürfen geht es um Unterstützung der Gülen-Bewegung, der kurdischen Terrororganisation PKK und der linksextremen DHKP-C; es sind Organisationen aller Couleur. Noch absurder kann ein Vorwurf eigentlich kaum sein. Es ist – zum besseren Verständnis – als ob jemandem vorgeworfen wird, gleichzeitig Reichsbürger und Mitglied des Schwarzen Blocks zu sein. In den seit Juli 2017 andauernden Verhandlungen war die Beweisführung immer die Gleiche: Sie beruhte auf den Nachrichten, die die Zeitung veröffentlicht hatte. Doch in der heutigen Türkei zählen Verschwörungstheorien und Dolchstoßlegenden mehr als eine rechtsstaatliche Beweisführung.

Es gehört zur Jobbeschreibung eines guten Journalisten, sich nicht einschüchtern zu lassen und Şık machte bei seiner Freilassung genau dort weiter, wo er vor 430 Tagen aufgehört hatte: ,,Der Tag, an dem wir uns freuen werden, wird kommen. Denn ich garantiere Ihnen, dass dieses Mafia-Sultanat enden wird‘‘, sagte er noch vor dem Gefängnis von Silivri in Richtung Ankara. Auch Sabuncu mahnte trotz aller Freude über seine Freilassung zur Zurückhaltung auf: „Nur weil wir jetzt auf freiem Fuß sind, heißt das nicht, dass alle Probleme der Türkei gelöst sind“. Er erinnerte an die weiterhin inhaftierten Journalisten, Anwälte und Abgeordneten. Während Cumhuriyet ‘Endlich Freiheit‘ titelte, hatte die Freilassung der beiden Journalisten für regierungsnahe Medien keinen Nachrichtenwert; sie berichten lieber von der Front und dem patriotischen Kampf türkischer Soldaten gegen kurdische Terroristen im Norden Syriens.

Fortschreitende Realitätsverweigerung in Ankara

Die bislang einzige offizielle Reaktion seitens der Regierung kam von Justizminister Abdülhamit Gül, der sich in ritueller Rhetorik verlor. In der Türkei sei „die Justiz unabhängig“. Egal wie die Entscheidung des Gerichts ausgehe, „wir haben diese zu akzeptieren“.  In den Ohren von Ahmet Şık, Murat Sabuncu, Deniz Yücel und alle anderen weiterhin inhaftierten Journalisten, die ohne Anklageschrift mehrere Monate, gar Jahre hinter Gittern verbracht haben und mit fadenscheinigen Vorwürfen angeklagt wurden, müssen sich die Worte des Ministers wie ein schlechter Witz anhören.

Vor dem Gefängnis erinnerte Sabuncu nochmals an die Bedeutung der Solidaritätskampagne, die er für die Freilassung der Journalisten als sehr wichtig ansieht. Bis alle inhaftierten Journalisten freigesprochen sind, heißt es auch weiterhin: #FreeThemAll.

Aret Demirci ist Projektkoordinator im Stiftungsbüro in Istanbul