Foto 
  Karl-Heinz
 
  Paqué
Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

100. Geburtstag
Herbert Giersch – Der Pionier

Herbert Giersch, Vordenker der Globalisierung, wurde vor 100 Jahren geboren. Er prognostizierte die weltumspannende Arbeitsteilung der Köpfe. Sie ist heute Realität.
Giersch Die Zukunft der Globalisierung

Am 11. Mai 2021 jährt sich zum hundertsten Mal der Geburtstag von Herbert Giersch. Aus diesem Anlass veranstaltet die Herbert Giersch Stiftung in Kooperation mit dem IfW Kiel einen Festvortrag am 10. Mai sowie ein Online-Symposium zur Zukunft der Globalisierung am 11. und 12. Mai.

"Abschied von der Nationalökonomie" lautet der Titel eines Buches von Herbert Giersch, das 2001 im F.A.Z.-Verlag erschien, in seinem 80. Lebensjahr. Er blickte damals auf fünf Dekaden als Volkswirt zurück, zuletzt als emeritierter Professor der Wirtschaftlichen Staatswissenschaften an der Universität Kiel. Sein Fazit war, dass sich sein Fach in dieser Zeit komplett verändert hatte. Nicht mehr das "Nationale", der "Staat" oder gar das "Volk" standen im Mittelpunkt, sondern die Weltwirtschaft - als großer integrierter Markt, in dem bei gutem Willen die gesamte Menschheit ihren Platz der Spezialisierung finden würde. So sah er die Entwicklung, so wünschte er sie sich.

Herbert Giersch stammte aus Reichenbach in Schlesien. Er studierte an den Universitäten von Breslau, Kiel und Münster, habilitierte sich dort 1950. Es folgten eine Privatdozentur in Münster sowie ein Aufenthalt bei der OEEC (heute OECD) in Paris, der Spuren hinterließ. Giersch genoss die internationale Atmosphäre, im späteren Nobelpreisträger Robert Solow fand er dort einen lebenslangen Freund. 1955 wurde Giersch Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken - in einer Atmosphäre des geistigen Aufbruchs, in der eine Reihe liberal gesinnter Intellektueller auch aus anderen Fachbereichen im Kontakt mit ihm standen wie Ralf Dahrendorf und Werner Maihofer. Er publizierte zu Fragen der Methodik und normativen Kriterien der Volkswirtschaftslehre, unter anderem in der Theorie des internationalen Handels.

Das erste große Ergebnis dieser Zeit war Gierschs "Allgemeine Wirtschaftspolitik". Unter dem altmodischen Titel seines ersten Lehrbuchs 1961 verbirgt sich ein Kompendium der Wohlfahrtsökonomik und Sozialphilosophie mit all ihren Folgerungen für rationale Wirtschaftspolitik. Giersch liefert eine beispiellos differenzierte Darstellung. Er präsentiert Systeme, Ideologien und Entwürfe der Wirtschaftspolitik - vom Merkantilismus über den klassischen Liberalismus bis zu marxistischen Leitbildern sowie, in der damaligen Terminologie, Neomerkantilismus und Neoliberalismus einschließlich der sozialen Marktwirtschaft. Selbst heute fast vergessene Ideen des Konkurrenzsozialismus im Geiste des großen polnischen Ökonomen Oskar Lange finden Erwähnung. Dies zeigt, wie ernst Giersch die Auseinandersetzungen jener Generation von Volkswirten und Philosophen nahm, die im Angesicht der totalitären Großexperimente der dreißiger und vierziger Jahre ihre intellektuelle Kraft einsetzten, um bessere Leitbilder zu entwickeln als den Kollektivismus. Er sah sich in ihrer Tradition, auf dem Weg in eine liberale marktwirtschaftliche Gesellschaft. Einen tiefen Einschnitt in Gierschs Werdegang brachte 1963 seine Berufung als Gründungsmitglied des neugeschaffenen Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, der späteren "Wirtschaftsweisen". Fortan betrieb er die wirtschaftspolitische Beratung mit jener streitbaren Leidenschaft, die für ihn typisch wurde. Es war der Beginn der großen Zeit keynesianischer Steuerung. Giersch wurde zu einer zentralen intellektuellen Figur in der Vorbereitung und Umsetzung des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes mit seinen vier Zielen: Preisstabilität, Vollbeschäftigung und außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei angemessenem Wachstum, das sich damals nach den Jahren des deutschen Wirtschaftswunders zu normalisieren begann.

Von 1966 an entstand das kongeniale Gespräch mit dem damaligen Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller (SPD), dem politischen Repräsentanten der keynesianischen "Globalsteuerung". Dem Gespräch entstammt der Begriff "konzertierte Aktion" für jene Abstimmung von Geld-, Fiskal- und Lohnpolitik, die eine konjunkturelle Stabilisierung ermöglichen sollte, durch Kooperation statt Konfrontation. Die ambitionierten Ideen standen Pate bei der Überwindung der scharfen, kurzen Rezession 1967. Weniger erfolgreich waren sie im inflationären Boom, der 1969 zu wilden Streiks und gewaltigen Lohnerhöhungen führte.

Giersch und Schiller erkannten früh, dass die zu niedrige Bewertung der D-Mark im Rahmen des Bretton-Woods-Systems fester Wechselkurse den Boom unmäßig befeuerte, die industriellen Kapazitäten übermäßig auslastete und den Arbeitsmarkt überhitzte - mit der Folge scharf steigender Löhne und Preise. Der Ausweg war die drastische Aufwertung der Währung, doch die kam erst später mit dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems 1973, als Giersch nicht mehr Mitglied des Sachverständigenrats und Schiller nicht mehr Minister war.

Giersch hatte 1969 eine neue Aufgabe übernommen: als Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel und Inhaber eines volkswirtschaftlichen Lehrstuhls an der dortigen Universität. Von der Förde aus begleitete er die dramatischen Wirtschaftsentwicklungen der frühen siebziger Jahre, die im Gefolge drastischer Verteuerung des Erdöls in die tiefe Rezession 1973/75 mündeten, die bisher schwerste seit der Währungsreform 1948. Schneller als andere erkannte Giersch, dass sich Grundlegendes verändert hatte. Deutsche Industrieprodukte verteuerten sich auf den Weltmärkten durch die starke Erhöhung von Löhnen und Rohstoffpreisen im vorangegangenen Boom. Das war nicht mit keynesianisch hochgefahrener Nachfrage über expansive Geld- und Fiskalpolitik zu kurieren, die nur die Inflation weiter anheizen würde. Das adäquate Instrument war die Rentabilitätspolitik, ein frühes Synonym für den später aus dem angloamerikanischen Raum stammenden Begriff der "supply side policy", zu Deutsch: Angebotspolitik. Gemeint war eine Verbesserung der Angebotsbedingungen, um das Produktionspotential der Volkswirtschaft preiselastischer zu machen.

Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit war also laut Giersch ganz anders zu führen als in der Vergangenheit. So begannen für ihn Jahre der Auseinandersetzung mit Ökonomen und Politikern, die den Wandel der Zeit nicht wahrhaben wollten. Zudem sorgte die schubweise Schrumpfung der Industrie in den beiden Konjunkturkrisen 1973/75 und 1981/83 für den Anstieg der Arbeitslosenquote bis auf 9 Prozent, der nur strukturell zu deuten war: als das Ende der Phase massiver industrieller Expansion und Beginn eines verschärften Strukturwandels, der mehr Flexibilität, Wettbewerb und Innovation erforderte, als das traditionelle Industriemodell eines "Rheinischen Kapitalismus" ermöglichte.

Wie stets war Gierschs Denken auf Fakten gestützt. Er lieferte eine pragmatische Interpretation der Welt, wie er sie sah, und zog wirtschaftspolitische Schlüsse daraus. Dogmatismus lag ihm fern. Aber natürlich diffamierten Gierschs Gegner in der aufgeheizten Atmosphäre seine Abwendung von der Nachfragepolitik als sture neoklassische Modellanwendung, was sie nie war. Dies zeigte sich deutlich in den frühen achtziger Jahren, als Giersch die Steuersenkungen von Ronald Reagan in den Vereinigten Staaten als angebotspolitische Instrumente nachdrücklich befürwortete, auch wenn sie zu hohen Budgetdefiziten führten. Dies hielt er für den richtigen Weg: Erhöhung der Elastizität des gesamtwirtschaftlichen Angebots bei gleichzeitiger Nachfragesteigerung, nicht einseitige Angebotspolitik. Dass die Finanzmärkte diesen Politik-Mix mit hohen Kapitalzuflüssen bei scharf steigendem Dollarkurs belohnten, erschien ihm logisch.

Diesen wirtschaftspolitischen Mut wünschte Giersch sich auch in Europa. Er sah ihn aber zunächst nicht, weshalb er eine europäische Krankheit diagnostizierte: "Eurosklerose". Damit bezeichnete er jene Kombination aus hoher Besteuerung und Regulierung der Arbeits- und Produktmärkte, wie er sie in Kontinentaleuropa und allemal in Deutschland beobachtete. Eine Liberalisierung, wie sie Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff (FDP), ein enger Freund Gierschs, schon 1982 forderte, fanden dessen volle Unterstützung. Echte Fortschritte auf europäischer Ebene erkannte Giersch erst mit der Initiative von EU-Kommissionspräsident Jacques Delors zur Vollendung des Binnenmarktes. In ihr sah Giersch eine große Chance zur Minderung der Eurosklerose.

Gierschs unersättliche intellektuelle Neugierde hatte sich da längst anderen Zielen zugewandt. Sein zweites großes Lehrbuch "Konjunktur- und Wachstumspolitik" (1977) markierte den Bruchpunkt. In diesem Buch finden sich noch die reichen Erkenntnisse von eineinhalb Jahrzehnten der konjunkturpolitischen Beratung, ergänzt um wachstums- und strukturpolitische Überlegungen, die fortan in den Vordergrund rückten. Der Katalysator war sein Institut für Weltwirtschaft. Mit einer Serie von Tagungen schuf Giersch die wissenschaftlichen Voraussetzungen für eine neue Vorstellung des weltwirtschaftlichen Wandels. Dazu zählten damals völlig neue Themen: die Umweltökonomik und Arbeitsmarktforschung, der Handel mit Dienstleistungen und die internationale Kapitalmobilität.

Der Kern seines Denkens schälte sich seit den späten siebziger Jahren in einem Modell des weltwirtschaftlichen Wandels heraus, dem wir Studierende einen prägnanten Namen gaben: Gierschs Vulkantheorie. Sie fügt Elemente der deutschen Raumwirtschaftstheorie in der Tradition von August Lösch und der Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung von Joseph Schumpeter pragmatisch zusammen. Die Weltwirtschaft wird interpretiert als Kegel, dessen hochindustrialisiertes Zentrum die global höchste Arbeitsproduktivität und das höchste Einkommen aufweist. Dieser Kegel wird zum Vulkan, weil in seinem Gipfel durch Innovationen immer neues Wissen erzeugt wird, das dann als "Lava" das niedrigere Gelände, also die bisher ärmeren Länder, befruchtet, die es sich durch Adaption aneignen. Ob es global eine Divergenz oder Konvergenz der Pro-Kopf- Einkommen gibt, hängt von der relativen Geschwindigkeit von Innovation und Adaption ab. Hier spielt die Politik eine entscheidende Rolle. Sie kann die Innovations- und Adaptionskraft stärken oder schwächen, je nachdem, wie offen die Gesellschaft, wie marktwirtschaftlich die Steuerung der Ressourcen und wie leistungsfähig das Bildungssystem ausfällt.

Es geht also um ein permanentes Wettrennen zwischen "Reich" und "Arm" oder "Nord" und "Süd". Maßgeblich für den Erfolg ist auch die Richtung der Kapitalflüsse: Wer die politischen Weichen richtig stellt, zieht Kapital an - und begabte Menschen, die sich mit ihrem Wissen in die weltumspannende "Arbeitsteilung der Köpfe" einklinken wollen. Wichtig ist: Die Arbeitsteilung ist offen. Sie beschränkt sich eben nicht auf die "alten" Industrieländer, sondern umfasst weite Teile der Erde, die in der traditionellen Terminologie des (arroganten) Westens als "Dritte Welt" bezeichnet wurden. Sie hat die Chance aufzuholen und, wenn der Westen in Sklerose verfällt, diesen zu überholen.

Dies war Gierschs Vision ab den späten siebziger Jahren, einige Zeit bevor sich China und Indien marktwirtschaftlich öffneten und in Osteuropa und Ostdeutschland die Planwirtschaft endgültig zugrunde ging und verschwand. Lediglich die vier ostasiatischen Tigerländer - Hongkong, Singapur, Südkorea und Taiwan - dienten ihm damals als Beispiele. Aber seine Vulkantheorie, die er als paradigmatisches Vehikel nutzte, wurde zu einem Vorläufer der Theorie des endogenen Wachstums, die durch Ökonomen wie Paul Romer, Gene Grossman und Elhanan Helpman in den achtziger und neunziger Jahren in mathematisierter Form die Journals beherrschte. Auch Paul Krugmans neue Handelstheorie sowie seine raumwirtschaftliche Interpretation des Handels stehen in der Tradition von Giersch, der mit ihm darüber intensiv diskutiert hatte.

All dies belegt die Fruchtbarkeit seines Denkens in der Wissenschaft: Giersch war eben ein Pionier. Die Früchte seiner Arbeit bestanden allerdings nicht direkt in neuen akademischen Denkschulen, sondern bereiteten diese vor. Dafür gibt es leider keine Nobelpreise, wie einer seiner Schüler, der frühere F.A.Z.-Wirtschaftsressortleiter Hans D. Barbier, bedauernd bemerkte. Immerhin wurde Giersch eine Fülle anderer Ehrungen zuteil. Viel wichtiger war allerdings die Breitenwirkung seines Werks: Viele von jenen, die begeistert bei ihm studierten, wurden von seinem Denken beeinflusst. Wer sich heute zur Veränderung der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung äußert, der weiß vielleicht gar nicht, wie stark seine Gedanken indirekt von Giersch geprägt sind.

Dieser Einfluss reicht bis in den ethischen Diskurs hinein. Gerade im Alter betonte Giersch immer wieder, dass die liberale offene Gesellschaft nicht nur wirtschaftlich nützlich ist, weil sie Wohlstand und Wachstum schafft. Sie ist auch als ethisches Prinzip unentbehrlich, denn sie stärkt die Position des Außenseiters, der noch keine Fürsprecher hat, um seine Interessen zu vertreten, sondern nur durch seine Ideen und Leistungskraft einen würdigen Platz in der Gesellschaft finden kann. Das war für Giersch die "Moral des Marktes", gerade auch im Wandel der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung und im Umgang mit künftigen Generationen. 

Ein Pionier ist kein Prophet. Die letzten Jahrzehnte der Globalisierung haben Phänome hervorgebracht, die Giersch nicht voraussagte: eine globale Finanzkrise als Folge verdeckter Risiken aus neuen Anlageformen; einen säkular niedrigen Realzins, der auf eine Kapitalschwemme hindeutet, die ihm fremd war; einen chinesischen Staatskapitalismus, der unter dem Deckmantel der Marktwirtschaft geostrategische Ziele erreichen will; zuletzt eine Pandemie, die den Handelsketten einen harten Schlag versetzt hat.

Was hätte er zu alldem gesagt? Diese Frage ist bei Giersch falsch gestellt. Er war ein Meister darin dazuzulernen, auch ohne es bekennen zu müssen. Das hatte er schon in den siebziger Jahren im Streit um Nachfrage und Angebotspolitik bewiesen. Das "Unerklärbare" war für ihn kein Schrecken, sondern hat seine Neugierde angestachelt. Diskurs statt Dogma, das war seine Leitlinie - ganz im Stil jener Philosophie, zu der er sich bekannte: dem Kritischen Rationalismus von Karl Popper.

Dieser Beitrag erschien erstmals am 30.04.2021 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.