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Was traut uns der Staat zu?

Unser ehemaliger Stipendiat Matthias Rüping über das Leitbild des mündigen Bürgers

Das Bürgerliche Gesetzbuch in seiner Ursprungsform war vom Leitbild des mündigen Bürgers geprägt. Dieser trägt eigenverantwortliche Entscheidungen und trägt deren Konsequenzen. Davon ist heute nicht mehr viel übrig, findet der Rechtswissenschaftler Matthias Rüping. In seiner kürzlich veröffentlichten Doktorarbeit "Der mündige Bürger? Leitbild der Privatrechtsordnung" beschäftigt sich der ehemalige Stipendiat der Friedrich-Naumann-Stiftung mit der Frage, wie der Gesetzgeber den Bürger sieht und was er ihm zutraut. Mit freiheit.org hat er dazu gesprochen. 

Herr Rüping, wie kam es zu der Wahl Ihres Dissertationsthemas? Fühlen Sie sich vom Staat gegängelt?

Schon zu Beginn meines Studiums hat mich die Frage interessiert, wie der Gesetzgeber den Bürger „behandelt“ und was er ihm zutraut. Im Vertragsrecht wird diese Frage besonders plastisch: Wenn zwei Private einen Vertrag miteinander abschließen, ist der Staat daran zunächst einmal nicht beteiligt. Jeder Eingriff in solche privaten Vertragsbeziehungen – etwa durch ein Verbot bestimmter Vertragsinhalte – ist eine Einschränkung individueller Freiheitssphären und nur unter engen Voraussetzungen zulässig. Ich habe den Eindruck, dass sich die Grenze zwischen individueller Vertragshoheit und staatlicher Lenkung durch verpflichtende Vertragsvorgaben in den vergangenen Jahrzehnten wahrnehmbar verschoben hat. Beispiele dafür finden sich etwa im Mietrecht, im Arbeitsrecht oder im Verbraucherrecht. „Gängelung“ würde ich das allerdings nicht nennen, weil dies den durchaus ehrenhaften Motiven des Gesetzgebers – meistens geht es ihm um den Schutz der Schwachen – nicht gerecht wird. Allerdings habe ich den Eindruck, dass eine umfassende Beschäftigung mit den realen Konsequenzen von Regulierungen nicht immer sorgfältig genug geschieht. Viele Regulierungsmaßnahmen lösen auch unerwünschte Steuerungseffekte aus, die dem eigentlichen Ziel „Schwächerenschutz“ genau zuwiderlaufen. Da wäre es häufig besser, wieder mehr Vertrauen in die Mündigkeit der Bürger zu haben.

Sind wir heute weniger mündig als noch vor zehn Jahren?

Hier müssen wir zwei Fragestellungen unterscheiden: Wie mündig, also fähig zum Treffen eigenverantwortlicher Entscheidungen, sind die Bürger auf kognitiver Ebene und wie viel Mündigkeit traut der Staat den Bürgern zu, für wie mündig hält er sie also. Die erste Frage ist sehr schwer zu beantworten. Auf der einen Seite steigen die juristisch-intellektuellen Anforderungen in einer ökonomisierten und digitalisierten Alltagswelt. Auf der anderen Seite nehmen – global betrachtet – Alphabetisierung und Akademisierung weiter zu – die Menschen sind für die steigenden Anforderungen also besser „gewappnet“. Wie sich das im Einzelnen auspendelt, habe ich in meiner Arbeit nicht untersucht. Mir geht es nämlich primär um die zweite, normative, Frage: Wie behandelt der Gesetzgeber den Bürger, wie schätzt er ihn ein? Und da müssen wir für die letzten zehn Jahre deutliche Abstriche vermerken: Im Verbraucherrecht, im Arbeitsrecht und im Mietrecht dreht sich die Regulierungsspirale munter weiter. Es gibt eine Reihe von Geschäften, die heute – anders als vor zehn Jahren – nicht mehr rechtswirksam abgeschlossen werden können. Die Preisfindungsregeln anhand des Mindestlohns oder der Mietpreisbremse sind zwei plastische Beispiele.

Matthias Rüping

Matthias Rüping

© BMH BRÄUTIGAM & PARTNER

Die Mietpreisbremse soll einen exorbitanten Anstieg von Mietpreisen verhindern und so Mieter schützen - klingt nach einer guten Sache. Oder?

Ja, klingt erstmal ausgezeichnet. Ich habe auch keine Zweifel daran, dass diese und andere Regulierungen vom Gesetzgeber „gut gemeint“ sind. Wenn man sich die Mietpreisbremse genauer anschaut, werden allerdings schnell die Schwachstellen offenbar – gut gemeint ist eben nicht immer gut gemacht. Zum einen ist schon fragwürdig, ob diejenigen, die der Gesetzgeber vor allem schützen wollte – nämlich sozial Schwache – wirklich von der Neuregelung profitieren. Letztlich liegt es doch nahe, dass ein Vermieter unter mehreren Mietinteressenten in der Regel den solventesten auswählt und nicht den bedürftigsten. Wenn der gut verdienende Unternehmensberater dann in seine mietpreisgebremste Wohnung einzieht, degeneriert die Mietpreisbremse zu einem Subventionsinstrument für diejenigen, die am wenigsten staatliche Unterstützung benötigen. Daneben darf man auch vor der systemischen Steuerungswirkung von solchen Regulierungen nicht die Augen verschließen: Auch wenn der Gesetzgeber Neubauten von der Mietpreisbremse ausnimmt, sendet er doch ein ganz klar abschreckendes Signal an potenzielle Investoren. Dringend nötige Investitionen in Neubauten werden durch eine ausufernde Regulierung jedenfalls nicht gerade ermutigt.

Stichwort Rauchverbote oder Regularien bei Alkoholkonsum -  Wann ist ein Schutz des Bürgers sinnvoll und wann wird er bevormundet?

Wenn man auf diese Frage eine juristische Antwort sucht, landet man bei dem Verhältnismäßigkeitsprinzip: Einschränkungen oder Verbote sind nur dann rechtmäßig, wenn sie zur Erreichung des verfolgten Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen sind. Die Bewertung dieser Kriterien ist dann natürlich in gewisser Weise politisch aufgeladen. Ob man das Rauchverbot in Gaststätten als illegitime Einschränkung bürgerlicher Freiheiten oder notwendigen Schutz Unbeteiligter empfindet, richtet sich deswegen eher nach dem politischen Wertekompass als nach streng juristischen Kriterien. Der für mich entscheidende Unterschied ist in der Regel, ob Dritte von dem verbotenen Verhalten betroffen sind oder nicht. Sollen durch die Regulierung Dritte geschützt werden, kann eine Einschränkung eher hinnehmbar sein. Geht es ausschließlich um den Schutz des Bürgers vor sich selbst, handelt es sich um Paternalismus, der meines Erachtens nur in sehr engen Grenzen akzeptabel ist.

Warum traut uns der Staat in einigen Bereichen wichtige Entscheidungen zu, in anderen aber nicht?

Das scheint mir im Wesentlichen eine Frage politischer Opportunitäten zu sein. Bei sozial motivierten Regelungen, die den Schwächerenschutz zum Ziel haben – etwa im Miet- oder Arbeitsrecht – ist der Gesetzgeber einem hohen politischen Gestaltungsdruck ausgesetzt. Eine streng rationale Betrachtung wird hier häufig durch aktionistisch veranlagte Symbolpolitik ersetzt. In anderen Bereichen, insbesondere im Wahl- und Abstimmungsrecht, bewegt sich der öffentliche Druck in die entgegengesetzte Richtung: Der Ruf nach „direktdemokratischer“ Partizipation wird immer lauter und partizipatorische Elemente wie der Volksentscheid sind auf Landes- und Kommunalebene, z.B. in Berlin, sehr beliebt. Wir haben es also mit gegenläufigen Entwicklungen zu tun. Konsequenz ist, dass dem Bürger in seiner Rolle als demokratischem Souverän fortlaufend mehr zugetraut wird – Landesparlamente wählt er mitunter mit 16, mit 18 kann er in Volksentscheiden und Wahlen die Geschicke des Gemeinwesens lenken. Im Vertragsrecht dagegen degeneriert dieser autonome Souverän zum kompetenzlosen Mündel, das nicht einmal die privatautonome Entscheidungskapazität dafür aufbringt, beim Online-Kauf von Rasierklingen auf sein Widerrufsrecht zu verzichten.

Was würden Sie sich in diesem Zusammenhang als Lösungsvorschlag vom Gesetzgeber wünschen?

Mein Vorschlag lautet, individueller Eigenverantwortung wieder größeren Wert beizumessen. Meines Erachtens kann das am besten funktionieren, wenn der Gesetzgeber sich bei neuen Regulierungsvorhaben stets die Frage stellt, ob ein Regulierungsmittel auch wirklich das mildeste in Frage kommende Mittel zur Zweckerreichung ist. Verbote wie etwa der Mindestlohn oder die Mietpreisbremse (die bestimmte Miethöhen untersagt) sind dabei nur das schärfste Schwert, die ultima ratio. Weniger drastisch sind etwa Informationspflichten, Formvorschriften oder die zurzeit intensiver diskutierten „opt-out-Modelle,“ bei denen die Betroffenen von einer vorgeschlagenen Lösung (etwa der Einräumung eines Widerrufsrechts) noch proaktiv abweichen können. Wenn der Gesetzgeber sich diese Abfolge an stärker werdenden Eingriffen zu Herzen nähme und stets das mildeste zur Zweckerreichung geeignete Mittel wählen würde, wäre schon viel gewonnen.