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Warum es falsch wäre, jetzt die Russland-Sanktionen zu lockern

Ein Zwischenruf aus Kiew
Sanktionen

Die Sanktionen sollten bleiben - gleichzeitig aber Räume für den Dialog offen gehalten werden

© GettyImages-Valery Bocman

Die Rufe nach einer schrittweisen Aufhebung der Sanktionen gegen Russland werden in Deutschland häufiger und lauter. Doch es geht um mehr als die Belastung der deutschen Exportwirtschaft. Ein Ende der Sanktionen wäre das falsche Signal an ein Regime, das auf die Schwächung des freien Europa hinarbeitet.

In den letzten Wochen mehren sich in der deutschen medialen Diskussion die Stimmen, die eine schrittweise Aufhebung der Sanktionen gegen Russland fordern.

Die Argumente reichen vom Schaden der Sanktionen für deutsche Unternehmen und Arbeitsplätze über Vorwürfe an die NATO wegen Säbelrasselns und Osterweiterung bis hin zur Sinnlosigkeit der Sanktionen für eine Umsetzung des Minsk-Abkommens in der Ostukraine. Stützen können sich die Befürworter eines Sanktionsendes laut einer Umfrage auf 58 Prozent der deutschen Bevölkerung, von 81 Prozent der AfD-Anhänger bis zu immerhin noch 44 Prozent bei den Anhängern der Grünen.

Die Diskussion lässt die militärische Aggression im Osten der Ukraine außer Acht, durch die über 10.000 Menschen gestorben sind und die immer noch fast täglich Menschenleben fordert, und sie verkennt vor allem die Interessenlage und Handlungslogik des russischen Regimes. Der Ernst der Lage drängt dazu, ein weiteres Mal auf grundlegende Tatsachen hinzuweisen.

Sanktionen richtig sortieren

Die EU-Sanktionen gegen Russland sind seit März 2014 sukzessive eingeführt worden, teils in Reaktion auf die Annexion der Krim, teils wegen der Destabilisierung im Osten der Ukraine. Sie umfassen im Wesentlichen diplomatische Maßnahmen wie die Suspendierung Russlands vom G8-Format, persönliche Beschränkungen für Personen, die mit ihrem Handeln die Souveränität der Ukraine verletzt haben, Beschränkungen der Wirtschaftsbeziehungen zur Krim und Sewastopol (den beiden Verwaltungseinheiten auf der Halbinsel Krim, die von Russland annektiert wurden) und Wirtschaftssanktionen. Letztere limitieren namentlich den Zugang zum Kapitalmarkt und verbieten den Handel mit Waffen, den Export von Dual-use-Gütern sowie bestimmter Technologien für die Ölförderung. Die Aufhebung der mit dem Krieg in der Ostukraine verbundenen Sanktionen sind an eine vollumfängliche Umsetzung des Minsk-II-Abkommens geknüpft worden. Russland reagierte seinerseits mit einem Importverbot für Lebensmittel und Agrarprodukte aus der EU.

Die gegenseitigen Sanktionen haben in der Tat zu einem Einbruch der Exportzahlen geführt. Die Auswirkungen sind jedoch, wenn man den Effekt des zeitgleich eingetretenen Ölpreisschocks herausfiltert, weit weniger dramatisch als vielfach angenommen. Im Jahr 2016 betrug einer vom Bundeswirtschaftsministerium finanzierten Studie zufolge die sanktionsbedingte Auswirkung auf das Brutto-Inlandsprodukt der EU-Staaten zwischen vier und sieben Mrd. Euro (0,03 bis 0,05 Prozent), nicht wie gelegentlich kolportiert bis zu 90 Mrd. Euro. Obwohl Deutschland in absoluten Zahlen mit 30% die Hauptlast des Exportverlusts trägt, liegt auch hier die relative Auswirkung nur wenig über dem EU-Mittel. Gesamtwirtschaftlich sind die EU-Exporte seit 2013 trotz der Sanktionen gestiegen, das BIP hat sich normal entwickelt und es hat keinen Einbruch bei den Arbeitsplätzen gegeben. Dies mag auch daran liegen, dass Russlands Bedeutung als Handelspartner viel geringer ist, als man gern glaubt – im Falle Deutschlands macht es ein Handelsvolumen von zwei Prozent aus und kommt damit bei weitem nicht an die Bedeutung der EU-Nachbarstaaten heran. Vor allem aber rührt die Belastung der besonders betroffenen Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie eben nicht von den EU-Sanktionen, sondern von den russischen Gegensanktionen her. Dass diese bei einem einseitigen Entgegenkommen ihrerseits gelockert würden, ist keinesfalls garantiert.

Jenseits wirtschaftlicher Erwägungen stellt sich die Frage nach Sinn und Wirksamkeit der Sanktionen. Das Argument, eine wortgetreue Umsetzung des Minsk-II-Abkommens sei unrealistisch, ist aus verschiedenen Gründen richtig. Minsk II ist jedoch alles, was wir im Moment haben. Wie immer ein Fortschritt in der Donbas-Frage aussehen wird – einer Lockerung der Sanktionen müssen substantielle Schritte der russischen Seite vorausgehen: Abzug der schweren Waffen, Ende der Kampfhandlungen, Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine, kurz gesagt eine Rückkehr auf den Boden des Völkerrechts. Dafür gibt es bisher nicht das geringste Anzeichen.

Das freie Europa verteidigen

Ein Grundproblem in der Argumentation der Sanktionsgegner ist die Annahme, man könne westliche Moralvorstellungen und Handlungslogiken auf Putin übertragen. Man müsse quasi nur den ersten Schritt tun, die Hand zum Dialog ausstrecken und dem Kreml mit mehr Respekt begegnen, um Verständigung oder gar eine Friedenslösung für die Ukraine zu erreichen. Diese Annahme verkennt die Interessenlage und Denkweise Putins in verhängnisvoller Weise.

Ruinen
Im Krieg zerstörte Gebäude in der Donbass-Region © CC BY-NC-ND 2.0 Flickr.com/ Roberto Maldeno

Die konfrontative russische Außenpolitik dient einerseits dem inneren Machterhalt Putins (die Umfragewerte nach Krimannexion und Syrienintervention sowie die aktuelle Wiederwahl mit 76 Prozent geben ihm Recht), andererseits der (Re-)Etablierung Russlands als Weltmacht und Kraftzentrum einer autoritären Internationale. Sie richtet sich bei weitem nicht nur gegen die Ukraine oder die syrische Opposition, sondern längst ganz zentral gegen die Europäische Union, die mit der Attraktivität ihrer Freiheiten, ihres Wohlstands und ihrer Rechtsstaatlichkeit als Gegenentwurf und Gefahr für das eigene autoritäre System wahrgenommen wird. Der Begriff des „hybriden Krieges“ versucht zu erfassen, was in Europa erst allmählich zur Kenntnis genommen wird: zielgruppengerecht geführte Propagandakampagnen, der Betrieb von „Troll-Fabriken“ mit Tausenden bezahlter Meinungsmacher in den sozialen Netzwerken, die strategische Unterstützung ultrarechter (und linker) Parteien in ganz Europa und fortwährende Hackerangriffe auf Behörden und Infrastruktur (zuletzt medial bedeutsam der Angriff auf die Bundesregierung, täglich Brot jedoch für die Ukraine). Dazu gehören auch Propagandamythen wie die Theorie der gezielten „Einkreisung“ Russlands durch die NATO, die leicht zu enttarnen sind und doch durch Medien und Köpfe geistern – bis in die Argumente der Sanktionsgegner hinein.

Diese vielfältigen strategisch angelegten Aktivitäten verstärken innenpolitische Risse und Probleme der EU und zielen auf die Schwächung des liberalen westlichen Politikentwurfs. Dass ihre Herkunft sich oft schwerer beweisen lässt als die Herkunft einer Rakete, liegt in ihrer „hybriden“ Natur und ist Teil ihrer Wirksamkeit. Ein Grund, die Augen vor dem Problem zu verschließen, ist dies nicht.

Die Frage ist, wie man unter diesen Vorzeichen eine Lösung des kriegerischen Konflikts in der Ostukraine und generell eine Verbesserung der immer mehr eskalierenden Beziehungen zu Russland erreichen kann. Ein andauernder und auf vielen Ebenen geführter Dialog ist dafür unabdingbar, und die erfolgte Schließung von Gesprächskanälen sollte ernsthaft auf ihre Sinnhaftigkeit überprüft werden. Dialog ist aber davon abhängig, dass beide Seiten ihn wollen. Und er sollte in der richtigen Sprache geführt werden. Die Erfahrung zeigt, dass dies im Falle Moskaus nur eine Sprache der Stärke sein kann, und die Sanktionen sind das einzig probate Mittel, mit dem die EU Gemeinsamkeit und Stärke auch wirkungsvoll demonstrieren kann. Aus dieser Position kann und muss dann sinnvoll verhandelt werden – und zwar als erstes über eine neutrale UN-Mission im Donbass.

Beate Apelt ist Projektleiterin der Stiftung für die Freiheit für die Ukraine & Belarus mit Sitz in Kiew.

Für Medienanfragen kontaktieren Sie unsere Ukraine-Expertin der Stiftung für die Freiheit:

Projektleiterin Türkei
Telefon: +90 212 219 72 53