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"Seid zornig!"

Can Atalay, Anwalt des vor wenigen Tagen freigelassenen Journalisten Ahmet Şık, über die Freilassung seines Mandanten und Absurditäten der Anklage
Can Atalay

Can Atalay, Anwalt des vor wenigen Tagen freigelassenen Journalisten Ahmet Şık

© Can Atalay

Nach mehr als 430 Tagen hinter Gittern ist der bekannte Investigativjournalist und Raif Badawi Award- Preisträger Ahmet Şık zusammen mit dem Chefredakteur der regierungskritischen Tageszeitung Cumhuriyet, Murat Sabuncu, unter Auflagen aus der Haft im Hochsicherheitsgefängnis Silivri entlassen worden. Am 16. März wird der Prozess gegen ihn fortgesetzt. Ihm und den übrigen Angeklagten im Cumhuriyet-Prozess wird vorgeworfen, die Redaktionslinie der Zeitung zugunsten terroristischer Organisationen verändert zu haben. Bei seiner Freilassung deutete Şık noch vor den Toren des Gefängnisses an, dass er genau dort weitermachen werde, wo er aufgehört hatte: „Ich garantiere Ihnen, dass dieses Mafia-Sultanat enden wird.“ freiheit.org hat mit dem Anwalt von Ahmet Şık, Can Atalay, über die Freilassung seines Mandanten gesprochen.

Hatten Sie erwartet, dass Ihr Mandant Ahmet Şık und Murat Sabuncu am 09. März unter Auflagen freikommen? Wieso mussten sie solange in Untersuchungshaft bleiben?

Unter juristischen Gesichtspunkten hätten Şık und Sabuncu nicht einen Tag in Haft bleiben dürfen. Am Tag seiner Verhaftung war Sabuncu erst seit 2,5 Monaten Chefredakteur der Cumhuriyet. Der Vorwurf der Änderung der Redaktionslinie binnen so kurzer Zeit ist also sehr gewagt.   

Im Falle von Şık wurden Vorwürfe in die Anklage aufgenommen, deren staatsanwaltliche Untersuchung schon längst eingestellt worden ist, so z. B. das Interview, das Şık per Handy mit den Kidnappern des Staatsanwalts Mehmet Selim Kiraz während dessen Geiselnahme durchgeführt hatte. Trotz der offiziellen Einstellung holten die Staatsanwälte zwei Jahre später diesen Ordner aus den staubigen Regalen heraus und werteten den Fall als „neuen Beweis“. Ein Interview mit Anführern der bewaffneten PKK oder  Şıks  Artikel über die mutmaßlichen Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an syrische Extremisten sind weitere „Beweise“, die dem türkischen Presserecht zufolge verjährt sind, nun aber als Begründung für seine Verhaftung herangezogen wurden. Şıks Tweets über die Ermordung des Präsidenten der Rechtsanwaltskammer von Diyarbakır, Tahir Elçi, oder seine Kritik an der Politik Ankaras im Südosten des Landes wurden auch als Gründe aufgeführt, die zur Verhaftung Şıks geführt hatten, obwohl er zwei Monate zuvor genau wegen diesen Tweets ausgesagt hatte und danach freigelassen worden war. Journalisten machen Nachrichten und kritisieren. Journalismus ist kein Verbrechen.

Wieso verfügte das Gericht, dass Cumhuriyet-Herausgeber Akın Atalay weiterhin in Haft bleiben muss? Erwarten Sie beim nächsten Termin am 16. März einen Gerichtsbeschluss?

Leider weiß ich auch keine logische Antwort auf diese Frage. Ich begnüge mich lieber mit den Worten des Gerichtsvorsitzenden: „Der Kapitän geht als letzter von Bord.“

Mit welchen Problemen waren Sie als Anwalt in diesem Prozess konfrontiert?

Es ist wirklich zermürbend, als Anwalt in einem Prozess tätig zu sein, der juristisch schwer einzuordnen ist. Außerdem sind die Konditionen der Isolationshaft im Hochsicherheitsgefängnis von Silivri sehr schwierig.

Wie bewerten Sie die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft, z.B. dass die Cumhuriyet von „Fethullahistischen Elementen“, also von Gülenisten,  unterwandert worden sein soll?

Zunächst sollten wir folgendes feststellen: Bei den Fethullahisten handelt es sich um eine kriminelle Bande, die zusammen mit ihren Komplizen Verbrechen gegen die türkische Bevölkerung und gegen Menschen des Nahen Osten begangen hat. Cumhuriyet berichtet seit den 1970er Jahren über die Gefahr, die von dieser „Sekte“ ausgeht, und darüber, dass staatliche Institutionen, allen voran die militärische Bürokratie, von dieser Bande unterwandert worden ist. Auch wenn wir diese Umstände beiseitelassen, sehe ich in den Vorwürfen nicht den Hauch eines haltbaren Beweises, der die Vorwürfe belegen könnte. Das sage ich Ihnen mit aller Offenheit.

In Deutschland wird der Cumhuriyet-Prozess als politisch motiviert gewertet, nämlich als Versuch der türkischen Regierung, eine oppositionelle Stimme zum Schweigen zu bringen. Wie sehen Sie das?

Wie der Prozess in Deutschland gesehen wird, kann ich nicht sagen. Unsere Lesart des Prozesses habe ich eben zu erklären versucht.

Wie bewerten Sie die Solidaritätskampagnen im In- und Ausland?

Es macht uns natürlich glücklich zu sehen, dass Menschen sowohl in der Türkei als auch im Ausland sich mit uns solidarisieren. Ich muss aber bei aller Zufriedenheit darüber auch feststellen, dass diese Solidaritätskampagnen nicht den gewünschten Effekt erzielt haben.

Die Fälle Deniz Yücel und Ahmet Şık werden in Deutschland mit Interesse verfolgt. Kann die Freilassung dieser beiden Journalisten innerhalb kurzer Zeit als ein Signal der politischen Entspannung und Normalisierung gewertet werden? Rechnen Sie mit weiteren Freilassungen oder Freisprüchen?

Die Freilassungen von Ahmet Şık und Deniz Yücel sind zwei ganz unterschiedliche Fälle. Wir haben gesehen, unter welchen Umständen Yücel freikam. Es ist natürlich eine freudige Entwicklung zu wissen, dass er jetzt bei seiner Familie ist. Aber das zeigt auch den Zustand des türkischen Rechtsstaates. Ahmet hat in den ersten Minuten seiner Freilassung schon gezeigt, wie dies zu bewerten sei: „Ich bin nicht glücklich. Ich möchte auch nicht, dass Sie glücklich sind. Ich rate Ihnen, zornig zu sein.“

Das Interview führte Aret Demirci, Projektkoordinator im Stiftungsbüro in Istanbul. 

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