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Krieg in Europa
Millionen Binnenvertriebene: Wie die Ukraine den durch die russische Aggression ausgelösten humanitären Herausforderungen begegnet

Flüchtlingsunterkunft für Binnenflüchtlinge in der ostukrainischen Region Charkiw

Flüchtlingsunterkunft für Binnenflüchtlinge in der ostukrainischen Region Charkiw

© picture alliance / photothek | Thomas Trutschel

Am 24. Februar 2022 begann die Russische Föderation, unterstützt durch ihren Verbündeten Belarus, einen blutigen Krieg auf dem europäischen Kontinent. Die Ukraine musste all ihre Anstrengungen und Ressourcen auf die Verteidigung des Landes gegen die Invasoren konzentrieren und stand gleichzeitig vor der größten humanitären Herausforderung ihrer Geschichte.

Millionen von Menschen mussten ihre Heimat verlassen, entweder auf der Flucht vor den Kampfhandlungen, die in den ersten Stunden der Invasion begannen oder aus Angst, von russischen Soldaten besetzt, misshandelt und ermordet zu werden. Nach Schätzungen sowohl internationaler Organisationen als auch ukrainischer Beamter waren im Mai 2022 etwa 7-8 Millionen Ukrainer Binnenvertriebene.

Die erste Welle von Binnenvertriebenen und deren Bedürfnisse

Diese Millionen von Menschen zogen in den ersten Wochen der Aggression innerhalb kürzester Zeit in sicherere Regionen. In den allermeisten Fällen nahmen die Menschen nur ein Minimum an den notwendigsten persönlichen Dingen mit. Zuallererst ging es um die Befriedigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse: Die Suche nach einer sicheren Unterkunft, die Versorgung mit Lebensmitteln und Hygieneartikeln sowie notwendigen Medikamenten, Futter für Haustiere, Kleidung (der Beginn der Invasion war im Spätwinter, und schon nach einem Monat war die Winterkleidung nicht mehr für das Wetter geeignet).

Unter diesen Bedingungen zeigte die ukrainische Zivilgesellschaft ein unglaubliches Maß an Solidarität und Selbstorganisation und arbeitete mit lokalen Behörden zusammen, um allen Bedürftigen zu helfen. Lokale Behörden unterstützten die Menschen dabei, eine kostenlose Unterkunft in Wohnheimen, Erholungszentren, Schulen usw. zu erhalten. Freiwilligenorganisationen versorgten Binnenvertriebene mit der notwendigen humanitären Hilfe in Form von Lebensmitteln und anderen Gütern des täglichen Bedarfs. Die Menschen unterstützten ihre Mitbürger nach besten Kräften: Lokale Unternehmen stellten ihre Räumlichkeiten als vorübergehende Unterkunft zur Verfügung; Anwohner spendeten Geld und Sachgüter und beteiligten sich an verschiedenen Arbeiten, um den Binnenvertriebenen zu helfen.

Wichtige Schritte wurden auch von der Zentralregierung unternommen. Für jeden offiziell registrierten Binnenvertriebenen wurden monatliche Zahlungen geleistet, wobei Familien mit Kindern und Menschen mit Behinderungen gesonderte Zahlungen erhielten. Darüber hinaus erhielten berufstätige Vertriebene eine staatliche Unterstützung in Höhe des Mindestlohns. All dies half den Menschen, einen Teil ihrer Ausgaben zu decken, sodass ihre persönlichen finanziellen Ersparnisse für einen längeren Zeitraum ausreichen konnten.

Natürlich verlief nicht alles reibungslos. Obwohl der ukrainische Staat über beträchtliche Erfahrung in der Arbeit mit Binnenvertriebenen verfügte (Stand April 2020 waren in der Ukraine etwa 1,4 Millionen Binnenvertriebene registriert, die aus der von Russland besetzten Krim und den besetzten Gebieten der Oblaste Donezk und Luhansk gezogen waren), waren die Informationssysteme der entsprechenden Behörden nicht darauf ausgelegt, Informationen über so viele neue Personen auf einmal zu verarbeiten. Daher funktionierte die Software oftmals nicht richtig, und es waren mehrere Versuche erforderlich, um sich offiziell als Binnenvertriebene zu registrieren.

Diese gelegentlichen bürokratischen Schwierigkeiten erscheinen jedoch unbedeutend, wenn man bedenkt, wie viele Menschen, die vor den Schrecken des Krieges flohen und oft mehrere Tage auf der Straße verbrachten, schließlich eine sichere Unterkunft und die nötige Hilfe von ihren Mitbürgern erhielten. Tragischerweise hatten nicht alle so viel Glück. Heute kann man in vielen ukrainischen Städten die beschossenen Autos von Menschen sehen, die aus dem Kriegsgebiet evakuiert wurden. Und viele Menschen kamen überhaupt nicht an ihr Ziel, weil russische Soldaten zivile Fahrzeuge zerstörten und Insassen töteten.

Dennoch gelang es den Ukrainern im Allgemeinen, der ersten Welle von Binnenvertriebenen zu helfen und gleichzeitig den Aggressor zurückzudrängen.

Wie die Dynamik von Kampfhandlungen die Probleme von Binnenvertriebenen beeinflusst

Von März bis April änderte sich die Dynamik der Kampfhandlungen, was sich auf die Probleme der Binnenvertriebenen auswirkte. Einerseits befreite die ukrainische Armee im April die Oblaste Schytomyr, Kyjiw, Tschernihiw und Sumy vollständig von den Besatzern. Dies ermöglichte vielen Menschen die Rückkehr nach Hause, worauf sie seit mehr als einem Monat gewartet hatten. Laut Kyjiws Bürgermeister Vitali Klitschko gab es am 10. Mai bereits 2,5 Millionen Einwohner in Kyjiw (2/3 der Bevölkerungszahl vor der russischen Invasion). Die ukrainischen Streitkräfte drängten auch die russischen Truppen nördlich von Charkiw zurück, woraufhin viele Einwohner der Stadt begannen, nach Hause zurückzukehren.

Andererseits wurde deutlich, dass viele Binnenvertriebene in naher Zukunft nicht zurückkehren können. In Kiew war das Ausmaß der Zerstörung relativ gering, aber kleine Städte und Dörfer in den Regionen der Nordukraine litten stark und wurden manchmal fast vollständig zerstört. Auch Bewohner der Gebiete Donezk und Luhansk können in absehbarer Zeit nicht nach Hause zurückkehren, weil die russische Armee eine Taktik der verbrannten Erde anwandte: Sie zerstörte Siedlungen mit Artillerie und Luftwaffe vollständig und versuchte anschließend, sie mit Bodentruppen einzunehmen. Auch die von der Ukraine kontrollierten Siedlungen der Oblaste Mykolajiw, Saporischschja und Charkiw stehen unter ständigem Beschuss, und wegen des Mangels an schweren Waffen ist nicht klar, wann die besetzten Teile dieser Oblaste befreit werden können.  

Von April bis Mai wurde deutlich, dass die Ukraine zwar durchaus in der Lage war, sich effektiv zu verteidigen, ihr aber die Feuerkraft fehlte, um die Invasoren vollständig von ihrem Territorium zu vertreiben. Der Krieg hat inzwischen einen langfristigen Charakter angenommen und viele Menschen sind gezwungen, ihren Wohnort für längere Zeit zu wechseln.

In den ersten Wochen nach der Invasion schien die Lage äußerst ungewiss zu sein, sodass niemand Pläne für die Zukunft machte, nicht einmal für ein paar Tage im Voraus. Die Menschen kümmerten sich nur darum, ihr Leben hier und heute zu retten. Doch jetzt, nachdem der anfängliche Schock überwunden ist und die kurzfristigen Grundbedürfnisse der Binnenvertriebenen gedeckt sind, ist es an der Zeit, sich mit den langfristigen Problemen der Binnenvertriebenen zu befassen.

Was sind die wichtigsten langfristigen Probleme der Binnenvertriebenen?

Eine Studie, die von der Democratic Initiatives Foundation (DIF) mit Unterstützung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit durchgeführt wurde, ergab, dass die Beschäftigung vielleicht die größte Herausforderung ist, der sich Binnenvertriebene gegenübersehen. Dies macht Sinn, denn eine Beschäftigung ermöglicht es den Menschen, über finanzielle Mittel zu verfügen, um andere Bedürfnisse zu befriedigen.

Laut einer quantitativen DIF-Umfrage unter Binnenvertriebenen in den westlichen Regionen der Ukraine im März-April verloren 52 % der Binnenvertriebenen nach der russischen Invasion entweder ihren Arbeitsplatz oder erhielten kein Gehalt, selbst wenn die Beschäftigung offiziell erhalten blieb.

Die gleiche Umfrage ergab, dass die Mehrheit der Binnenvertriebenen über Ersparnisse für höchstens sechs Monate verfügte. Da der Krieg bereits länger als drei Monate dauert, gehen die Ersparnisse der Menschen langsam zur Neige. Die staatlichen Zahlungen für Binnenvertriebene und die Unterstützung durch Freiwillige haben dazu beigetragen, dass die Ersparnisse, die die Binnenvertriebenen zuvor angesammelt hatten, langsamer ausgegeben wurden. Dies kann jedoch nicht ewig so bleiben, und die Menschen brauchen Einkommensquellen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

Beschäftigung hat auch eine therapeutische Wirkung im psychologischen Sinne. In einem Zustand von Angst und physischer Bedrohung verbringen Menschen extrem viel Zeit damit, Nachrichten zu lesen, was die Angst nur noch verstärkt. Arbeit hilft, sich geistig abzulenken und die Aufmerksamkeit auf andere Dinge zu verlagern. Außerdem stärkt ein Arbeitsplatz das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Ziel. Wer für das Wohl der Wirtschaft des Landes arbeitet, fühlt sich am gemeinsamen Sieg über den Feind beteiligt, was auch zur Bekämpfung von Ängsten beiträgt.

Schließlich stärkt ein Job das Selbstvertrauen eines Menschen. Geld zu verdienen, macht einen weniger abhängig von der Hilfe anderer und gibt einem Menschen ein größeres Gefühl der Kontrolle über sein Leben. Dieses Vertrauen ermutigt die Menschen, in Zeiten der Not in ihrem Land zu bleiben und hier ihr Leben aufzubauen, anstatt ins Ausland auszuwandern. Ganz zu schweigen davon, wie wichtig die Beschäftigung der Bürgerinnen und Bürger für die Wirtschaft insgesamt ist.

Wiederbelebung der Wirtschaft in Kriegszeiten: mehr Fragen als Antworten

Auch die übergreifende Frage, wie die Wirtschaft während des Krieges wiederbelebt werden kann, und die Frage des Wiederaufbaus des Landes nach dem Krieg stehen zur Debatte. Wie kann man die Unternehmer in den befreiten Gebieten unterstützen, deren Betriebsvermögen durch die Kampfhandlungen betroffen ist? Ist es möglich, Investoren in einem Land zu halten, in dem jederzeit eine russische Rakete ihre Einrichtung treffen kann? Wie findet man ein Gleichgewicht zwischen unternehmerischer Freiheit und dem Füllen des Staatshaushalts? Wie können Bürgerinnen und Bürger ermutigt werden, neue Berufe zu ergreifen, die auf dem Arbeitsmarkt nachgefragt werden?

Die Ukraine befindet sich heute in einer einzigartigen Situation, in der systemische Reformen gleichzeitig mit militärischen Aktionen gegen einen mächtigen Feind durchgeführt werden müssen. Der Erfolg dieser Reformen wird auch darüber entscheiden, ob die humanitären Probleme von Millionen von Binnenvertriebenen im Lande gelöst werden können und ob die Ukraine im bewaffneten Kampf erfolgreich sein kann, denn eine starke Armee braucht eine starke Wirtschaft.

Schließlich sollten wir nicht vergessen, dass das zuverlässigste Mittel zur Lösung der humanitären Krise darin besteht, die Ukraine mit Waffen zu versorgen. Je mehr Waffen die Ukraine hat, desto eher werden die Ukrainerinnen und Ukrainer ihr Territorium befreien und die Menschen werden endlich nach Hause zurückkehren können.

 

Serhii Shapovalov, Analytiker bei der Ilko Kucheriv Democratic Initiatives Foundation (DIF).