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Noch immer weckt der Kampf gegen die Kurden nationale Emotionen

Die Türkei und die Folgen der „Operation Olivenzweig“

Unser Türkei-Experte Hans-Georg Fleck über die Hintergründe und Konsequenzen der "Operation Olivenzweig". 

Am vergangenen Wochenende hat die Türkei die seit längerem angedrohte Militäraktion gegen die kurdischen Organisationen im Nordwesten Syriens begonnen. Hinter dem als „Operation Olivenzweig“ titulierten, massiven Vorgehen der türkischen Armee steht die erklärte Absicht, die „terroristische Bedrohung“ türkischen Staatsgebiets zu unterbinden und den Bestrebungen nach einer kurdischen Staatlichkeit in Nordsyrien für immer den Garaus zu machen. Unser Türkei-Experte Hans-Georg Fleck erklärt, wie die Ereignisse in der Türkei wahrgenommen werden und wie sie sich auf die labilen Außenbeziehungen des Landes auswirken können.     

In den vergangenen Monaten ist immer wieder von der Polarisierung der türkischen Gesellschaft durch das Agieren von Präsident Erdoğan die Rede. Wie steht es nun mit der „Operation Olivenzweig“, die so deutlich die Handschrift des Präsidenten trägt? Wird diese Operation von der türkischen Bevölkerung mitgetragen?

Eigentlich kann diese Frage nur mit einem eindeutigen Ja beantwortet werden! Die übergroße Mehrheit der türkischen Bevölkerung unterstützt das Vorgehen ihres Präsidenten und folgt ohne größere Einwände seiner Begründung für den Einmarsch türkischer Einheiten in das südliche Nachbarland, unterstützt von den zumeist arabisch-sunnitischen Einheiten der sogenannten „Freien Syrischen Armee“. Demnach dient das Vorgehen gegen die kurdischen „Volksbefreiungseinheiten“ (YPD), den militärischen Arm der syrisch-kurdischen  „Partei der demokratischen Union“ (PYD), primär dazu, gegen „terroristische Bedrohungen“ der Türkei aus den kurdisch kontrollierten Gebieten im Sinne eines Aktes der Selbstverteidigung vorzugehen. Zugleich soll die arabische und turkmenische Bevölkerung des syrischen Distrikts Afrin von kurdischer Dominanz und Bevormundung „befreit“  werden.

Aus türkischer Sicht ist die PYD nämlich nichts anderes als der syrische Zweig der terroristischen Kurdenorganisation PKK, mit der der türkische Staat seit vielen Jahrzehnten eine periodisch immer wieder aufflammende, blutige Konfrontation führt, die schon Zigtausende Menschenleben gefordert hat. Das türkische Agieren ist in diesem, von den türkischen Medien nahezu unisono transportierten Verständnis nichts anderes als eine legitime „Vorwärtsverteidigung“ gegen ein konzertiertes Agieren von PYD und PKK – heute in Nordsyrien und Nordirak, morgen möglicherweise in der Türkei.

Bekanntlich hat die türkische Führung den NATO-Partner USA in den zurückliegenden Monaten immer wieder nachdrücklich wissen lassen, dass sie  Kooperation und militärische Aufrüstung von PYD bzw. YPG als unfreundlichen Akt gegen die Türkei und ihre erklärten Interessen ansieht. Die Türkei hat sich in dieser Position auch nicht durch die Tatsache beirren lassen, dass die auch als „Syrische demokratische Kräfte“ firmierenden kurdischen Einheiten einen ganz zentralen Part in der Bekämpfung und letztlichen Niederringung des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS) gespielt haben. Schon 2016/17 hatte die Türkei durch die Militäraktion „Schutzschild Euphrat“ gezeigt, dass sie auf keinen Fall gewillt ist, die Bildung eines „kurdischen Korridors vom Mittelmeer bis in den Irak“ hinzunehmen. Schon damals wurde die offene Konfrontation mit US-amerikanischen Interessen nicht gescheut.

Nachdem die Amerikaner kürzlich die Bildung einer kurdisch geführten „Grenzsicherungseinheit“ in Nordsyrien angekündigt hatten, hat Ankara aus Sicht vieler türkischer Beobachter nun schlicht die Reißleine gezogen. Lieber heute die Konfrontation mit der außenpolitisch wenig konsistenten US-Führung suchen als sich morgen einem gestärkten kurdischen Irredentismus gegenübersehen! Und diesem Kurs folgt man gern – genießt man doch so zusätzlich das vorsichtige Wohlwollen Moskaus, das seinerseits alles tut, was Washington schadet, die NATO destabilisiert -  und dem eigenen Protegé Assad nützt. 

Wenn die Interessen Ankaras und Washingtons in Syrien heute so konträr sind, wird dies zu einer weiteren Zerrüttung des bilateralen Verhältnisses bis hin zu einer etwaigen Infragestellung der NATO-Mitgliedschaft der Türkei führen?

Hier lautet die Antwort: Bis auf weiteres: Nein! Die ersten Reaktionen der Trump-Administration auf den Einmarsch triefen geradezu von Verständnis für die „legitimen Interessen“ des „wichtigen NATO-Partners“, mit dem sich die USA allerdings niemals einig gewesen sind über den Vorrang des Kampfes gegen den IS. Die Türkei verfolgte stets ihre eigenen Interessen in Syrien, die höher rangierten als der Kampf gegen den Kriegsverbrecher Assad oder gar gegen die zu „Staatsgründern“ mutierten Kopf-Ab-Islamisten des IS. Insofern klingt der heutzutage in den türkischen Systemmedien  wohlfeile Vorwurf des „Verrats“, der den USA seit den Tagen Barack Obamas lautstark angelastet wird, allenfalls verlogen: Auch die Türkei hat ihrer Interpretation des Terrorkampfes immer den Vorrang vor den gemeinsamen Vereinbarungen der NATO-Partner gegeben. Und da hießen die „Staatsfeinde Nr. 1 (und 2)“ FETÖ – die quasi für alle Weltübel herhaltende „Gülen-Bewegung“ – und PKK. Die beschworene Allianz gegen den islamistischen Terror hielt die Türkei über Jahre nicht davon ab, Waffenunterstützung an die Islamisten ebenso zu dulden wie deren Nutzung der Türkei als Rückzugs- und Rekreationsareal.

Aus türkisch-gouvernementaler Sicht sieht das aber ganz anders aus. Da dominiert das Bild vom „Verrat“ der westlichen Partner. Die Aktion von Afrin wird mit der Schlacht um Çanakkale 1915 in einem Atemzug genannt: als Akt der Befreiung von westlicher Bevormundung, als Wiederanknüpfung an große, legitime „Forderungen und Stärke“. Mit diesem „Gen“ – so drückt es der unnachahmliche AKP-Ideologe Ibrahim Karagül aus – knüpfe die Türkei endlich wieder an das an, was sie „seldschukisch und osmanisch“, also schlicht: imperial, gemacht habe. Wenn die Claqueure des Systems derartige „Geschütze“ auffahren und die Imame auf Weisung der Religionsbehörde die „Eroberungssure“ (Sure 48) anstimmen, um der Armee den Segen Gottes mit auf den gerechten Militäreinsatz zu geben, wer soll es dann noch wagen, sich nationalem und religiösem Überschwang entgegenzustellen? Der Staatspräsident hat ohnehin schon allen etwaigen Protestlern angekündigt, dass sie „einen hohen Preis“ für ihren nationalen Verrat zahlen müssten.

Istanbul, Anschläge, Terror, Türkei, Hans-Georg Fleck

Hans-Georg Fleck ist Leiter des Stiftungsbüros in Istanbul.

© Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

Lassen wir einmal die Tatsache beiseite, dass die militärische Eskalation in den bislang vom Krieg weitgehend verschonten Gebieten Nordsyriens neues Leid und Flucht bringen wird – wem nützt und wem schadet die „Operation Olivenzweig“? Wie fügt sie sich ein in das kaum durchschaubare Interessengerangel im Bürgerkriegsland Syrien? Und kann Präsident Erdoğan  ein weiteres Mal – getragen vom Jubel seiner Anhänger in der Türkei, in Deutschland und andernorts – als „Sieger“ vom Platz gehen?

Es gibt viele, denen die Eskalation nützt, eher wenige, denen sie schadet. Das mag zynisch klingen, entspricht aber der Sachlage. Schaden nimmt – so oder so – die Zivilbevölkerung vor Ort, die quasi in Geiselhaft genommen wird für den angeblich von ihrer Heimatregion ausgehenden „kurdischen Terror“ gegen türkisches Territorium. Schaden nimmt zweifellos auch die „kurdische Sache“. Mit welchem Maß an Dezenz die US-Administration Trump heute die Demontage ihres wichtigsten Verbündeten im Kampf gegen den IS einfach hinnimmt, ist schon atemberaubend. Das Wort vom „erneuten Verrat an den Kurden“ macht die Runde – nach den Ereignissen im Nord-Irak gestern, in Nord-Syrien heute sicher nicht überraschend! Schaden genommen haben aber auch die NATO und die atlantische Wertegemeinschaft. Offensichtlich ist es im Rahmen des Verteidigungsbündnisses nicht mehr möglich, sich anbahnenden offenen Konflikten zwischen Mitgliedsstaaten im Vorfeld durch enge Kontakte und Meinungsaustausch die Spitze zu nehmen. Was bleibt von der Wertegemeinschaft, wenn die Werte so offenkundig engen nationalen Interessen geopfert werden?

Profiteure der „Operation Olivenzweig“ kommen sehr schnell in den Sinn: Da ist der Iran, der die kurdischen Bestrebungen - im Irak wie in Syrien -  mit Sorge beobachtet hat und zwar nicht nur, weil man selbst angeblich am Aufbau eines „schiitischen Halbmonds“ in der Region strickt. Moskau sieht die „Nato-internen“ Wirren mit Wohlwollen und Zustimmung, nützen die neuen Kämpfe doch vor allem der Ablenkung vom fortschreitenden Stabilisierungsprozess des Assad-Regimes und der Demontage von Einflussnahme aus Washington. Im syrischen Verwirrspiel stört es Erdoğan derzeit kaum, dass sich sein erklärter syrischer Hauptfeind Assad immer ungestörter als Sieger im Kampf gegen „antisyrische Aufrührer“ gerieren kann. Die Türken betreiben für ihn derzeit das Geschäft der  Minimierung der Konfliktkräfte auf dem Wege zu einer neuen (staatlichen?) Ordnung in Syrien.

Bei allem dürfte der Hauptgewinner aber eindeutig Recep Tayyip Erdoğan heißen. Nun kann er sogar ungestört auf außenpolitischem Terrain fortsetzen, was ihn seit dem katastrophalen Wahljahr 2015 umtreibt: die Mobilisierung einer islamisch-nationalistischen Mehrheit der türkischen Bevölkerung. Sie will er gewinnen für sein großes Wahlprojekt im Jahre 2019 – und was ist hier besser geeignet, als das Land gegen die Bedrohung durch verräterische ausländische Mächte und ihre „kurdischen Söldner“ zu versammeln? Die AKP-Claqueure jubilieren, weil die vorgeschobene türkische Interessenlinie „Aleppo-Mossul“ näher rückt, ein weiteres Anknüpfen an das so sehr vermisste islamische Friedensreich der Osmanen.

Eine scharfsinnige Analytikerin der türkischen politischen Szenerie hat kürzlich festgestellt, Erdoğan befinde sich mit seiner „erratischen Rhetorik“ weiterhin auf der „verzweifelten Suche nach einem glaubhaften Feind“. Da kann man nur sagen: Wenn denn der Feind „FETÖ“ ausgedient haben sollte, so hat die Beschwörung der „kurdischen Gefahr“ noch immer ihren Dienst getan. Wer das nicht glauben mag, der schaue in diesen Tagen in das große, schöne Land östlich und westlich des Bosporus.