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„Ich hätte mir zehn Kandidaten gewünscht!“

Ägypten wählt einen neuen Präsidenten - es wird der alte bleiben
MMM-Kampagne

Kampagne des einzigen Gegenkandidaten, Mousa Moustapha Mousa "MMM"

© Ahmed Samih

„Ich schwöre bei Gott, ich wünschte, es hätte zehn der besten Kandidaten gegeben und das Volk hätte auswählen können, wen es bevorzugt. Aber wir sind noch nicht so weit, darin liegt keine Schande.“ So wird das vollständige Zitat aus einem TV-Interview von Präsident Abdel Fattah al-Sisi im offiziösen Organ Ahram Online (20.3.2018) widergegeben. Es spiegelt die beiden wesentlichen Problembereiche der Präsidentenwahl in Ägypten wider: Amtsinhaber Sisi hat keinen ernstzunehmenden Gegenkandidaten, seine Wiederwahl steht also bereits fest – und dies, weil in Ägypten keine demokratischen Zustände herrschen, was aber hingenommen werde könne.

An drei Tagen, vom 26. bis 28. März, sind die Wahlberechtigten im Lande aufgerufen, ihren Präsidenten für die kommenden vier Jahre zu wählen; im Ausland lebende Staatsbürger – knapp zehn Prozent der mittlerweile mehr als 100 Millionen Ägypter, so die Schätzungen, leben nicht im Lande – hatten diese Möglichkeit bereits vom 16. bis 18. März. Das Ergebnis soll am 2. April verkündet werden, denn eine Stichwahl wird es nicht geben. Möglicherweise wird Präsident Sisi sein Wahlergebnis von 97% aus dem Jahre 2014 sogar noch übertreffen. Sein einziger Gegenkandidat ist weithin unbekannt, und viele Oppositionsgruppen haben zum Wahlboykott aufgerufen. Die Machtverhältnisse sind also fest zementiert, eine Aussicht auf einen demokratisch herbeigeführten Wandel gibt es nicht. Präsident Sisi und sein Regime haben in den vergangenen Monaten auch alles dafür getan, dass daran kein Zweifel aufkommen konnte.

Der „Rückzug“ potentieller Gegenkandidaten

Dabei hatte es vor einigen Monaten durchaus noch nach ein bisschen Spannung ausgesehen. Immerhin hatten zwei exponierte Repräsentanten des militärischen Establishments um den Jahreswechsel 2017/18 herum ihre Kandidatur angekündigt: der ehemalige Kommandeur der Luftwaffe und kurzzeitige, noch von Husni Mubarak ernannte Ministerpräsident (29.1.-3.3.2011) Ahmad Shafiq, der bereits bei der Präsidentschaftswahl 2012 angetreten war und in der Stichwahl nur knapp dem Kandidaten der Muslimbruderschaft Mohammed Mursi unterlag; und der ehemalige Generalstabschef der ägyptischen Streitkräfte Sami Anan – bis August 2012 der Vorgänger von General Sisi in diesem Amt.

Beide Kandidaten erlebten jedoch unmittelbar nach Ankündigung ihrer Absicht, gegen Sisi antreten zu wollen, die volle Wucht des Staatsapparats im Umgang mit unliebsamen Herausforderern des gegenwärtigen Machthabers. Shafiq, der einige Jahre in den Vereinigten Arabischen Emiraten gelebt hatte, verschwand nach seiner Rückkehr nach Ägypten am 2. Dezember 2017 für kurze Zeit aus der Öffentlichkeit. Er soll dabei massiven Bedrohungen seitens des ägyptischen Geheimdienstes ausgesetzt gewesen sein, bestritt aber später entsprechende Medienberichte; Tatsache ist, dass er bereits am 7. Dezember seine Kandidatur zurückzog, mit dem Verweis darauf, dass er die Gründe für seine Entscheidung zur Kandidatur vom Ausland aus falsch eingeschätzt habe. Ahmad Shafiq entging dabei dem Schicksal Sami Anans, der wenige Tage nach Bekanntgabe seiner Kandidatur im Januar 2018 sogar verhaftet und dessen Privatbesitz bis auf weiteres beschlagnahmt wurde. Grundlage dieser Maßnahmen durch die Militärgerichtsbarkeit war der Vorwurf, Anan habe nicht die Autorisierung für eine Bewerbung um ein öffentliches Amt eingeholt, derer er als ehemaliger Generalstabschef und immer noch aktiver Soldat bedurft hätte. Beide Kandidaten sahen sich zugleich einer massiven Medienkampagne ausgesetzt. Sie wurden wahlweise der Nähe zur Muslimbruderschaft, verschwörerischer Umtriebe mit feindlichen auswärtigen Mächten (vor allem Qatar) und der Unterminierung des Staates bzw. der Streitkräfte bezichtigt, ohne dass sie sich medial oder juristisch dagegen wehren konnten. Die weiteren Konsequenzen für ihre persönliche Freiheit und ihre materielle Existenz mögen derzeit noch unklar sein – die politische Rolle beider Männer im gegenwärtigen Ägypten ist allerdings beendet.

Das Zusammenspiel von Druck durch die Sicherheitsbehörden, juristischer Verfolgung und medialer Anprangerung stellte im „Wahlkampf“ durchaus ein gängiges Muster dar, dem sich auch die übrigen, politisch unbedeutenderen tatsächlichen oder prospektiven Kandidaten ausgesetzt sahen. Zu letzteren gehört etwa der Neffe des gleichnamigen ehemaligen Präsidenten Muhammad Anwar al-Sadat, Vorsitzender der Partei „Reform und Entwicklung“. Dem umtriebigen Kritiker des Präsidenten und des politischen Establishments war bereits Anfang 2017 sein Abgeordnetenmandat entzogen worden, weil ihm unrechtmäßige und staatsgefährdende Verbindungen zu ausländischen Mächten vorgeworfen wurden. Obgleich er über keinen sonderlichen politischen Rückhalt in der Bevölkerung verfügt, war ihm durchaus eine streitbare Kampagne zugetraut worden, die vor allem den Zustand der Menschenrechtssituation und die demokratischen Perspektiven des Landes in den Mittelpunkt gerückt hätte. Sadat gab Mitte Januar bekannt, dass er nach nochmaliger Überprüfung der politischen Rahmenbedingungen von einer Kandidatur absehe. Einigen anderen politischen Einzelkämpfern, die ebenfalls mit einer Kandidatur liebäugelten oder von Oppositionskreisen dazu aufgefordert wurden, erging es ebenso. Auch sie sahen sich massivem medialem und juristischem Druck ausgesetzt – kurzzeitige Verhaftungen unter den genannten Vorwürfen und sogar die Verurteilung zu einer mehrjährigen Haftstrafe für einen weiteren aktiven Soldaten, der gegen Sisi antreten wollte, eingeschlossen. Sie zogen entweder ihre Kandidatur zurück oder wurden erst gar nicht als Kandidaten zugelassen.

Dass die bevorstehende Präsidentenwahl nicht endgültig zur offen sichtbaren Farce eines Ein-Mann-Referendums wird, konnte nur dadurch verhindert werden, dass sich wenige Minuten vor Ablauf der Nominierungsfrist am 29. Januar 2018 doch noch ein Gegenkandidat fand: Moussa Mustafa Moussa, Vorsitzender der Partei „Al-Ghad“ („Morgen“). Die Partei führte in den vergangenen Jahren ein Schattendasein, nachdem ihr Gründer Ayman Nour – liberaler Gegenkandidat von Husni Mubarak bei den Präsidentschaftswahlen 2005 – in Ungnade gefallen und ins Exil gegangen war. Sie ist nicht im Parlament vertreten, und ihr Vorsitzender Moussa ist im Lande weitgehend unbekannt. Bis zur überraschenden Ankündigung seiner Kandidatur galt er als ein Unterstützer des Präsidenten und seiner Politik – und gilt es im Grunde immer noch. Grundlegende politische Alternativkonzeptionen sind weder von ihm noch seiner Partei in der Öffentlichkeit bekannt. Vielmehr wird allgemein angenommen, dass Moussas Kandidatur auf Druck des Regimes erfolgte, um die Wahl eben nicht endgültig zur Posse werden zu lassen.

Aufrufe zum Wahlboykott und internationale Kritik

Die Verhinderung von Gegenkandidaten, die bei aller Chancenlosigkeit zumindest öffentlich wahrnehmbar die Politik des Präsidenten und die gegenwärtigen Machtstrukturen kritisiert hätten, während in letzter Minute ein hilfloser Scheinkandidat mit welchen Mitteln auch immer gewissermaßen aus dem Hut gezaubert wird – das ist die Ausgangslage bei der gegenwärtigen Wahl zum Präsidenten des bevölkerungsreichsten arabischen Staates, des einstigen Hoffnungsträgers des Arabischen Frühlings. Die Repressalien gegen die Kandidaten durch Sicherheitskräfte und Justiz, flankiert von der Unterdrückung der Meinungsfreiheit durch die Kontrolle der Medien, gaben denn auch Anlass zu vielfältiger Kritik, sowohl in Ägypten selbst wie auch aus dem Ausland. Das Civil Democratic Movement (CDM), ein lockeres Bündnis verschiedener oppositioneller Parteien und Strömungen, die Jugendbewegung des 6. April (eine Hauptströmung während des Arabischen Frühlings), Einzelpolitiker (darunter Sadat) und nicht zuletzt die verbotene Organisation der Muslimbrüder riefen ihre Anhänger zum Wahlboykott auf.

Wahlboykott, so das CDM, sei ein verfassungskonformes Recht der Bürger und Ausdruck des Widerstands gegen ein Zwangssystem, das Wahlen ihrer genuinen Bedeutung beraubt habe und alle Versuche verhindere, eine Wahl, die diesen Namen verdiene, durchzuführen. Der Hohe Kommissar für Menschenrechte der Vereinten Nationen (UNHCHR) drückte seine Besorgnis über das „Klima der Angst“ und die Repressalien gegen die Herausforderer des Amtsinhabers Sisi aus. Auch die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Bärbel Kofler, kritisierte die Begleitumstände der Wahl und forderte „…die ägyptischen Staatsorgane mit Nachdruck dazu auf, die Repression und Unterdrückung der Zivilgesellschaft und der Medien zu beenden und allen Bürgerinnen und Bürgern Ägyptens die ungehinderte Ausübung ihrer in der ägyptischen Verfassung verbrieften Rechte auf Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit zu ermöglichen.“ (Pressemitteilung des Auswärtigen Amtes v. 15.3.2018)

Die ägyptische Regierung weist derartige Kritik in der Regel gereizt als unangemessene Einmischung in innere Angelegenheiten zurück. Ägypten verfolge einen standhaften Weg der demokratischen Konsolidierung und halte die Menschenrechte ein. Zugleich wird jedoch auf die Gefährdungen durch den Terrorismus verwiesen, mit denen gemeinhin die Einschränkungen der Versammlungs-, Demonstrations-, Meinungs- bzw. Publikationsfreiheit sowie der politischen Freiräume von zivilgesellschaftlichen Organisationen legitimiert werden. „Die Menschen sind frei hinsichtlich ihrer Meinungsäußerungen und ihrer Aktivitäten“, wie Ahram Online (20.3.2018) Präsident Sisi zitiert, „ aber sie sind nicht frei, dem Land durch gewaltsame Handlungen zu schaden.“ Die Menschen sollten denken, bevor sie sprechen, und keine Missverständnisse über die Situation im Lande erzeugen, so Sisi weiter. Wie eng der Staatsapparat diese Grenzen zieht, und wie er auf „Missverständnisse“ reagiert, hat er im Vorfeld der Präsidentenwahl erneut deutlich gemacht.

Wie fest sitzt Präsident Sisi im Sattel?

Die einzige Unbekannte mit Blick auf die Wahl bleibt die Wahlbeteiligung, d.h. die Frage danach, bis zu welcher Größenordnung das Regime die Bürger mobilisieren kann, dem Präsidenten ihre Unterstützung für eine weitere Amtszeit zu geben. Denn vor allem die bisherige wirtschaftliche Leistungsbilanz der Präsidentschaft Sisis hat die Erwartungen vieler Ägypter nicht befriedigt – im Gegenteil: Viele Menschen empfinden, dass sich ihr Lebensstandard in den vergangenen vier Jahren eher weiter verschlechtert hat. Dies gilt nicht nur für die große Zahl der Armen im Lande, sondern auch für die Mittelschichten. Der Wertverfall des ägyptischen Pfundes setzt sich fort, die Inflation galoppiert und liegt bei über 30 Prozent; Zinssenkungen, Subventionsstreichungen für Verbrauchsgüter und andere Maßnahmen des nationalen Sparkurses als Voraussetzung für internationale Kreditwürdigkeit treffen gerade die breite Bevölkerung. Die Angst der Machteliten und der Klientel ihrer Anhänger vor einer spontanen „Revolution der Hungernden“, sollten sich die Perspektiven nicht verbessern, ist durchaus nicht unbegründet. Obwohl viele Ägypter das Argument der Regierung bislang mehr oder weniger akzeptiert haben, wonach kurzfristige Einschränkungen nötig sind, um langfristig Wohlstand zu erreichen, erreicht die Geduld der Menschen ihre Grenzen.

Hinzu kommt die nach wie vor prekäre Sicherheitslage. Während die demokratische Opposition an die Kette gelegt werden konnte, zeigen sich die Sicherheitskräfte offenkundig nicht in der Lage, gewaltbereite dschihadistische Gruppierungen entscheidend zu bezwingen, wie die Situation in weiten Teilen der Sinai-Halbinsel belegt. Die verbotene und – ob zu Recht oder nicht – pauschal als Terrorgruppierung behandelte Organisation der Muslimbrüder verfügt weiterhin über eine breite Verankerung in weiten Teilen des Landes; ihre Anhängerschaft stellt nach wie vor eine latente Gefahr für das gegenwärtige politische System dar.

Hinzu kommen verbreitete Zweifel und teils offene Kritik an der Außenpolitik des Präsidenten. Große Empörung bis hinein in Parlament und Militär erzeugte die Überlassung der beiden Inseln Tiran und Sanafir am strategisch wichtigen Eingang der Straße von Tiran (dem Zugang zum israelischen Hafen Eilat) an Saudi-Arabien im Sommer 2016. Die Übertragung der Hoheitsrechte an das wahhabitische Königreich wurde zwar als historisch und völkerrechtlich legitim ausgelegt; sie führte aber vor allem die politische und ökonomische Abhängigkeit Ägyptens von Saudi-Arabien und damit die tatsächlichen regionalen Machtverhältnisse für alle Welt sichtbar vor Augen. Die Preisgabe dieses „Teiles des ägyptischen Vaterlandes“ empfinden viele Ägypter als Erniedrigung und Schmach – und als bleibenden Makel der Außenpolitik Sisis. Nicht unumstritten ist darüber hinaus die faktische Interessenallianz mit Israel in den regionalen Konfliktfeldern. Sie zeigt sich nicht nur in Bestrebungen zur Einhegung Irans, sondern auch hinsichtlich der weiteren Entwicklungen auf dem Sinai und im palästinensischen Gazastreifen. In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, dass die endgültige Anerkennung Jerusalems als israelische Hauptstadt durch US-Präsident Trump nur schwache rhetorische Proteste aus Kairo zur Folge hatte. Schließlich ist es Präsident Sisi nicht gelungen, ägyptische Interessen gegenüber Äthiopien im Zusammenhang mit dem „Grand Ethiopian Renaissance Dam-Project“ (GERD) verbindlich durchzusetzen. Unweit der äthiopisch-sudanesischen Grenze entsteht hier das größte hydrologische Kraftwerk Afrikas, mit möglicherweise entscheidenden Konsequenzen für die künftig nutzbaren Wasserressourcen am Unterlauf des Nils. Dies tangiert die in historischer Perspektive wichtigste Existenzfrage und Lebensgrundlage Ägyptens.

Präsident Sisi steht also vor gravierenden innen- und wirtschaftspolitischen wie auch außenpolitischen Herausforderungen. Sisi verzichtet dabei auf jegliche Form einer Parteiführerschaft, um Rückhalt für seinen politischen Kurs in der Bevölkerung zu gewinnen – anders als seine Vorgänger Mubarak, Sadat und Nasser. Die fortgesetzte Unterstützung durch das Militär und im weiteren Sinne durch den gesamten Sicherheitsapparat ist also die zwingend notwendige Voraussetzung für seine weitere Amtsführung. Das Militär beendete die Präsidentschaften von Muhammad Mursi und Hosni Mubarak, und ohne die Unterstützung des Militärs wäre Sisi kaum selbst Präsident geworden.

Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass die beiden wichtigsten Konkurrenten im Vorfeld der Präsidentschaftswahl, Ahmad Shafiq und Sami Anan, ebenfalls dem Militär entstammen. Es ist zwar von außen kaum möglich, auch nur ein einigermaßen klares Bild über Konflikte, Seilschaften oder gar unterschiedliche politische Lager innerhalb des ägyptischen Militärs zu erhalten. Aber die Vermutung liegt nahe, dass beide Männer zumindest über einen gewissen Rückhalt in den Streitkräften verfügten oder darauf mit begründeten Erwartungen spekulierten. Dass es Risse im militärischen Machtapparat gibt, ist spätestens seit der Entlassung des Verteidigungsministers Sobhy und des Generalstabschefs Hegazy (dessen Tochter mit einem Sohn Sisis verheiratet ist) im Zuge der Entwicklungen um die Inseln im Roten Meer nicht mehr zu kaschieren. Daraus lassen sich gegenwärtig keinerlei Anzeichen für einen Erosion der Macht Sisis, gar für seinen Sturz, ableiten. Sollte sich allerdings die wirtschaftliche und soziale Lage im Lande weiter verschlechtern und wie 2011 zu schwer einzuhegenden Massenprotesten führen, ist ein solches Szenario nicht ausgeschlossen. Wie auch immer die anstehende demokratische Legitimation zu bewerten ist: Der Gewinn der Präsidentschaftswahl allein ist keine Garantie für Abdel Fattah al-Sisi, die nächste Wahlperiode vollständig zu überstehen.

René Klaff leitet das Regionalbüro MENA der Stiftung für die Freiheit mit Sitz in Amman.

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René Klaff
Dr.
René Klaff
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