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„Der härteste Wahlkampf seit langer Zeit“

Josef Lentsch über die Nationalratswahlen in Österreich
NEOS

Wahlplakate der liberalen Partei NEOS

© Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

Vor den österreichischen Nationalratswahlen am Sonntag stehen die Zeichen auf Wechsel. Im Interview mit freiheit.org erklärt Josef Lentsch, Direktor des liberalen Think Tanks NEOS Lab und Vorstandsmitglied des European Liberal Forums (ELF), den Hype um Kanzlerkandidat Sebastian Kurz, skizziert Aussichten für die Regierungsbildung und zeigt auf, welche Rolle die NEOS nach der Wahl spielen werden.  

Herr Lentsch, können Sie uns den Hype um den konservativen Kanzlerkandidat Sebastian Kurz erklären? 

Sebastian Kurz ist zweifelsohne ein großes politisches Talent. Er hat die Übernahme der ÖVP seit langer Zeit vorbereitet, mit Unterstützung der Jungen ÖVP und einiger gewichtiger Schutzherren innerhalb der Partei. Strategisch hat er die ÖVP ähnlich der CSU positioniert – insbesondere mit der harten Kante beim zentralen Thema Migration. Kommunikativ setzt die Partei fast exklusiv auf ihn als Persönlichkeitsmarke („Liste Kurz – die neue ÖVP“). Man kann fast schon von einem Kult sprechen. Zusätzlich hat er es geschafft, zur Projektionsfläche für viele zu werden, die sich dringend Veränderung für Österreich wünschen. Und das, obwohl die ÖVP mittlerweile die Partei ist, die am längsten ununterbrochen an der Macht ist: seit 1987. Ich habe die Partei in den letzten 20 Jahren noch nie so diszipliniert gesehen. Die Kampagne ist hochprofessionell organisiert. Das liegt auch daran, dass die ÖVP weiß: das ist ihre letzte Chance. Es stellen sich mehrere Fragen: wird nach der Wahl die traditionelle ÖVP in Person der „schwarzen Fürsten“ in den Ländern und ÖVP-Teilorganisationen erwachen und ihre Machtansprüche geltend machen? Werden die von Kurz persönlich nominierten Bundeslisten-Kandidaten, die in den letzten Wochen teils vor der Presse abgeschirmt wurden, zum Problem? Und stellt sich heraus, dass Kurz beim derzeitigen Dirty Campaigning-Skandal der SPÖ (siehe weiter unten) doch nicht nur Opfer war?

Angenommen die ÖVP wandelt diesen Hype am Sonntag auch in Stimmen um, sehen wir dann einer schwarz-blauen Koalition entgegen? Was würde das für Österreich und für Europa bedeuten? 

Auf Basis der letzten Umfragen gehen sich rein rechnerisch drei Koalitions-Varianten aus: Schwarz-Blau (ÖVP-FPÖ), Schwarz-Rot (ÖVP-SPÖ), und Rot-Blau (SPÖ-FPÖ). Rot-Blau setzt wohl einen Wechsel an der Spitze der SPÖ voraus, von Christian Kern zum derzeitigen Verteidigungsminister Hans-Peter Doskozil, und würde die angeschlagene Partei vor eine Zerreißprobe zwischen rechtem und linkem Flügel stellen. Wahrscheinlicher ist da eine Fortsetzung der alten „Großen Koalition“ mit einem Kanzlerwechsel zur ÖVP. Das wiederum wäre aber nichts Neues, und würde den Zynismus der Bürger noch befeuern. Eine schwarz-blaue Regierung, laut Umfragen die mittlerweile am wenigsten unbeliebte Koalitionsvariante, ist daher am wahrscheinlichsten. Für Österreich hieße das wohl eine weiter verschärfte Asyl- und Migrationspolitik, Aushöhlung der Grundrechte sowie Reformstau bei wichtigen Themen wie Bildung und Pensionen. Auch innenpolitische Skandale wie die Eurofighter-Beschaffung unter der früheren schwarz-blauen Koalition werden wohl nicht lange auf sich warten lassen. Für Europa hieße es, dass sich Österreich stärker nach Osten hin orientiert und sich innerhalb der EU bei den Visegrád-Staaten einordnet. Unter dem Schlagwort Subsidiarität würde Österreich Druck aufbauen, derzeitige Kompetenzen der EU zu re-nationalisieren. Gleichzeitig würde es wohl bei einer Reform der Agrarförderung auf der Bremse stehen.

 

Wahlplakate

Der Wahlkampf ist in vollem Gange

© Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

Der Wahlkampf ist bereits von zwei größeren Skandalen überschattet worden, bei dem die SPÖ Fake-Seiten über Kanzlerkandidat Kurz ins Netz stellte und die ÖVP versuchte, einen Top-Berater der SPÖ abzuwerben. Wird in diesem Wahlkampf also mit besonders harten Bandagen gekämpft? Und wie wirken sich diese Enthüllungen auf die Wähler aus?

Dieser Wahlkampf ist sicherlich der härteste seit langer Zeit. Sowohl SPÖ als auch ÖVP wissen, dass sie möglicherweise für eine Dekade aus der Regierung fliegen könnten. Die Angst vor dem Verlust der gewohnten Macht ist für sie so bedrohlich, dass insbesondere der SPÖ fast jedes Mittel recht ist. Aber auch die Rolle der ÖVP in diesen Skandalen wird nach dem 15.10. noch zu beleuchten sein. Absehbar ist, dass diese Machenschaften das Vertrauen in die Demokratie und das politische System noch weiter untergraben werden. Profitieren wird wieder einmal die FPÖ, die neben einer Regierungsbeteiligung schon den nächsten Preis vor Augen sieht: den Wiener Bürgermeister.

In den letzten Umfragen liegen die NEOS bei rund 5 Prozent der Stimmen. Wie haben Sie es geschafft, sich in diesem schwierigen Wahlkampf mit pro-europäischen, liberalen Vorschlägen Gehör zu verschaffen? Welche Rolle werden die NEOS in der neuen Legislaturperiode spielen?

NEOS hat eine sehr gut konzipierte, kompakte und fehlerfreie Kampagne gefahren. Unter dem Motto „Perspektivenwechsel“, mit dem NEOS den Blick der Bürger eingenommen hat, wurde die eigene Geschichte als liberale Bürgerbewegung aus der Mitte der Gesellschaft gut zum Ausdruck gebracht. Seit dem Parlamentseinzug 2013 laufend bearbeitete Zielgruppen wurden gut abgeholt, indem innovative „Chancenpläne“ in Kernthemen wie Bildung, Europa oder nachhaltiger Wirtschaftspolitik mit Unterstützung von Experten erarbeitet und präsentiert wurden. Wie immer setzte NEOS als „digital first“-Partei bei der Kommunikation ganz stark auf soziale Medien. Die datenbasierte Mobilisierung erreichte, mit Unterstützung der europäischen ALDE Partei, eine neue Stufe der Professionalisierung. Und nicht zuletzt: Spitzenkandidat Matthias Strolz war unermüdlich unterwegs und hat in den vielen TV-Duellen (insgesamt schier unglaubliche 41 zur Nationalratswahl!) ganz stark performed.

Josef Lentsch

Josef Lentsch

© Josef Lentsch

Wie geht es nach dem 15.10. weiter? Möglich, wenn auch aus heutiger Sicht unwahrscheinlich, ist eine Rolle für NEOS im Rahmen einer Jamaika- (in Österreich: Dirndl-) Koalition mit ÖVP und Grünen, oder im Rahmen einer Minderheitsregierung der ÖVP. Deutlich wahrscheinlicher ist die Rolle einer weiter gestärkten, sachlich harten aber lösungsorientierten Oppositionspartei, die mit allen Parlamentsparteien spricht. Einer Bürgerbewegung, die weiterhin mit gutem Beispiel vorangeht, was Transparenz und Offenheit sowie evidenzbasierte Programmatik betrifft.  

Die Fragen stellte Caroline Haury, European Affairs Managerin im Regionalbüro Brüssel der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.