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Serbien
Es brodelt in Serbien – anhaltende Massenproteste

Demonstranten am Montag in Belgrad

Demonstranten in Serbien.

© CRTA

Angefangen hatte es im November mit Studentendemonstrationen. Doch mittlerweile sind es Massenproteste quer durch die serbischen Generationen, die Druck auf das Herrschaftssystem von Präsident Aleksandar Vučić ausüben. Schon sah der sich genötigt, seinen Ministerpräsidenten Miloš Vučević zu opfern. Im Interview mit Lennart Jürgensen erklärt der FNF Projektleiter Westbalkan, Markus Kaiser, in Belgrad die Hintergründe.

 

Lennart Jürgensen: Wie kam es zu dem Rücktritt von Ministerpräsident Vučević? Welche Rolle spielen dabei die seit November andauernden Proteste der Studentinnen und Studenten?

Markus Kaiser: Die Studierenden fordern vordergründig die lückenlose Aufklärung eines Unglücks, das am 1. November aufgrund von Pfusch am Bau fünfzehn Menschen in Novi Sad das Leben kostete. Hauptsächlich fordern sie jedoch Rechtsstaatlichkeit ein, und dass die in der serbischen Verfassung vorgesehenen Institutionen das Land regieren, und nicht der allmächtige Präsident Aleksandar Vučić im Alleingang. Deshalb war die Tragödie in Novi Sad der Auslöser, nicht aber die Ursache für die Massenproteste.

Wir haben es inzwischen mehr mit einer Gesellschaftskrise als mit einer Regierungskrise zu tun, meine ich. Seit anderthalb Jahrzehnten bereichert sich ein kleiner, aber signifikanter Teil der serbischen Gesellschaft – ca. zehn Prozent der serbischen Bevölkerung sind Mitglied in der alles beherrschenden Serbischen Fortschrittspartei (SNS) von Aleksandar Vučić – auf Kosten der anderen. Die Folgen wie Rechtlosigkeit, Korruption und Zukunftslosigkeit sind vielen Serbinnen und Serben bewusst, allein hatten viele von ihnen bisher Angst vor Repressionen. Diese Angst haben die Studierenden einem Teil der Gesellschaft nun genommen.

 

Proteste in Serbien
© FNF

Wie ordnest Du den Rücktritt von Ministerpräsident Vučević ein? Kann Präsident Vučić die Unruhen im Land damit ruhigstellen, oder zeigt er damit die Fragilität seiner Machtposition?

Mit dem Rücktritt von Ministerpräsident Vučević versucht Vučić, das Heft des Handelns zurückzuerlangen. Nachdem der Präsident gestern Abend in einer wie immer landesweit von allen Sendern übertragenen Ansprache die Erfüllung aller Forderungen zugesagt hatte, wird einen Tag späterseinMinisterpräsident geopfert. Genau dieses Verhalten zeigt, dass in Serbien restlos alles vom Präsidenten entschieden wird, und genau diese Verfassungswidrigkeit ist es, die die Menschen auf die Straßen treibt. Auch wenn der Rücktritt des Ministerpräsidenten das größtmögliche Angebot ist, das Vučić unterbreiten kann, ist es zugleich das größtmögliche Eingeständnis, dass alles in Serbien von ihm gelenkt wird.

Doch die serbische Gesellschaft hat sich vor 25 Jahren schon einmal gegen einen Staatschef aufgelehnt und danach tiefgreifende Brüche in ihren Lebensentwürfen erfahren. Ob die Menschen bereit sind, dieses Wagnis ein zweites Mal einzugehen, ist die große Frage. Die Erinnerungen an den Sturz von Slobodan Milošević und die unsichere Zeit danach schweben hier über allem.

 

Proteste in Serbien
© FNF

Wie sollte sich die EU bzw. Deutschland positionieren? Wie können die serbische Opposition und Zivilgesellschaft unterstützt werden und demokratische Werte im Land mehr Gehör finden?

Die EU hat Aleksandar Vučić bisher gewähren lassen, weil er ihr Stabilität und zuletzt auch Rohstoffe wie Lithium versprach. Dieses jahrelange Protegieren ist den Menschen hier sehr wohl bewusst. So wie die EU Rechtsstaatsverstöße im Inneren anspricht und auch finanziell ahndet, könnte sie es auch bei EU-Beitrittskandidaten, denn ein solcher ist Serbien nach wie vor, handhaben. Die Kritiklosigkeit selbst bei massivem Wahlbetrug ließ die serbische Zivilgesellschaft wiederholt im Regen stehen.

Allerdings besteht die serbische Opposition aus russophilen Parteien, Oligarchenparteien und nur zu einem Teil aus wirklich pro-europäisch und demokratisch eingestellten Parteien. Fünfzehn Jahre nationalistischer Regierungspropaganda haben bei der wählenden Bevölkerung Spuren hinterlassen. Schon jetzt verbreitet das Regime das Narrativ, dass die Proteste eine aus dem Ausland gesteuerte Farbrevolution seien, und nur die Regierungspartei könne Serbien vor der Übernahme durch ausländische Mächte bewahren – was umso zynischer ist, da vor allem die EU und ihre Mitgliedstaaten bisher nichts getan haben, um die Stabilität des Regimes ernsthaft zu gefährden. Es steht daher zu befürchten, dass unter den gegenwärtigen Bedingungen in Serbien, mit einer die Opposition verunglimpfenden, völlig ergebenen und regierungsgesteuerten Medienlandschaft, die kommende Wahl ebenso unfrei verlaufen wird wie die zurückliegenden. Das serbische Volk, das gerade sein grundsätzliches Missfallen mit der Situation im Land ausdrückt, ist politisch wahrlich nicht zu beneiden.

 

Markus Kaiser ist Büroleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit für die Staaten des Westbalkans mit Sitz in Belgrad.

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Florian von Hennet
Florian von Hennet
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