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50 Jahre Freiburger Thesen
Die Freiburger Thesen der FDP – ein Meilenstein für den Liberalismus

50 Jahre Freiburger Thesen

„Freiburg! Kein anderes Wort weckt in der FDP so viel Emotionen. Kein anderer Begriff hat solchen Symbolwert“, so Otto Graf Lambsdorff, damals Bundesvorsitzender der Freien Demokratischen Partei, im Jahr 1991, genau 20 Jahre nach Verabschiedung der sogenannten Freiburger Thesen.

Otto Graf Lambsdorff hatte Recht. Aber warum? Alle paar Jahre passen demokratische Parteien ihre Programme den veränderten Themen und Umständen an, so auch die F.D.P. mit Beschluss vom 27. Oktober 1971. Was war da so Besonderes? Auf diese Frage gibt es drei unterschiedliche Antworten, die sich gegenseitig verstärken, nicht ausschließen.

Die erste lautet: Es lag an der politischen Gesamtlage. Seit 1969 befand sich die FDP wieder im Bund in Regierungsverantwortung, und zwar in einer sozialliberalen Koalition. Die Leitfiguren dieser Koalition waren Kanzler Willy Brandt (SPD) und Außenminister Walter Scheel (F.D.P.), beide auch Vorsitzende ihrer jeweiligen Partei. Das Bündnis funktionierte, trotz (oder auch wegen) einer äußerst knappen parlamentarischen Mehrheit sehr gut. Das Zusammengehen mit der SPD war allerdings vor allem für die F.D.P. ein innerparteiliches Erdbeben, denn die Partei verstand sich traditionell als Vertretung der Interessen des gewerblichen und freiberuflichen Mittelstands, und als solche stand sie den Sozialdemokraten sehr distanziert gegenüber. Es kam zu massenhaften Parteiaustritten, aber auch zu einer Welle der Neumitgliedschaften von Bürgerinnen und Bürgern, die der F.D.P. instinktiv die Rolle der treibenden Kraft bei einer Modernisierung Deutschlands zuschrieben und von dieser Rolle begeistert waren. Eine solche Rolle rief geradezu nach einer programmatischen Erneuerung. Wer sollte die anstoßen?

Hier liegt die zweite Antwort: Es gab herausragende Intellektuelle, die mit maximaler Leidenschaft und Motivation diese Erneuerung in die Hand nahmen - natürlich im vollen Einvernehmen mit dem Parteivorsitzenden Walter Scheel, der ein Gespür für das Innovative hatte, sich selbst aber auf die politische Durchsetzung - und nicht die Entwicklung - neuer Ideen konzentrierte. Die intellektuellen Leistungen kamen vor allem von den Professoren Werner Maihofer und Ralf Dahrendorf sowie Dr. Martin Bangemann. Karl-Herrmann Flach, erfahrener Journalist, lieferte kompakte und konzise Formulierungen für die breitere Öffentlichkeit. Und Fachspezialisten wie der Ministerialbeamte Peter Menke-Glückert, ein Kenner in Umweltfragen, lieferten Sonderbeiträge zu einzelnen Themen. Das Ergebnis war eine offenbar faszinierende Diskussion, kontrovers und lebhaft, aber außerordentlich fruchtbar. Was dabei herauskam, konnte sich sehen lassen.
 

Die „Freiburger Thesen zur Gesellschaftspolitik“, wurde ein extrem spannendes Dokument, das tatsächlich den Nagel der Zeit auf den Kopf traf und in der Öffentlichkeit breit diskutiert wurde.

Karl-Heinz Paqué
Karl-Heinz Paqué

Dies führt zur dritten Antwort: Das Ergebnis, die „Freiburger Thesen zur Gesellschaftspolitik“, wurde ein extrem spannendes Dokument, das tatsächlich den Nagel der Zeit auf den Kopf traf und in der Öffentlichkeit breit diskutiert wurde. Es füllte in vier Themenbereichen - Eigentumsordnung, Vermögensbildung, Mitbestimmung und Umweltpolitik - den Liberalismus mit programmatischem Leben, und zwar weit über den traditionellen reinen Abwehrkampf gegen einen übermächtigen Eingriffsstaat hinaus, der ja zum „Eisernen Bestand“ der Freien Demokratischen Partei gehörte. Zur „negativen Freiheit“ als Abwehrrecht trat die „positive Freiheit“ als Schaffung von Bedingungen, die erst ein erfülltes selbstverantwortliches Leben ermöglichen. Deswegen wurden die Freiburger Thesen später auch zu einer Art Leitschrift des „Sozialliberalismus“, wobei dies möglicherweise ein Missverständnis ist: Es ging ja inhaltlich eigentlich nicht um politische Richtungen, sondern um das Ausfüllen des Freiheitsbegriffs mit zukunftsweisender Substanz - im festen Blick auf die Herausforderungen der Zeit.

Eben dies gilt für alle vier Themenschwerpunkte, die zum Teil inzwischen auch historisch unkontrovers geworden sind, so etwa die Mitbestimmung, die in den Freiburger Thesen viel Raum einnimmt. Am besten lässt sich deshalb aus heutiger Warte die überragende Innovationskraft der Thesen ermessen, wenn man auf die Umweltpolitik blickt. Was sich dort an Forderungen fand, hat an Aktualität nicht verloren, sondern dramatisch gewonnen - bis hin zur aktuellen Klimapolitik. Man könnte gar sagen: Die Freiburger Thesen nahmen den Geist des Berichts des Club of Rome zu den Grenzen des Wachstums, der erst 1972 erschien, um wenige Monate vorweg. Die F.D.P. wurde damit zum Pionier in einem völlig neuen politischen Gebiet, und sie hat dies auch praktisch umgesetzt: durch Schaffung einer Umweltabteilung im Bundesinnenministerium, der Vorläuferin eines eigenständigen Umweltministeriums, das dann ein Jahrzehnt später folgte.

Der „Mythos Freiburg“ liegt in dieser Innovationskraft begründet. Er wirkt bis heute nach. Der kalendarische Zufall will es, dass er genau 50 Jahre nach dem legendären Parteitag eine besondere Bedeutung gewinnt - diesmal auf dem Weg zu einer sogenannten Ampel-Koalition. Auch diese soll - so das erklärte Ziel von FDP, Grünen und SPD - die Modernisierung Deutschlands voranbringen. Die Schwerpunkte sind dabei Bildung, Digitalisierung und Klimapolitik – bei Wahrung solider öffentlicher Finanzen und ohne Steuererhöhungen. Kurzum: ein umfassendes Konzept der Nachhaltigkeit – von der Ökologie über Technologie und Wirtschaft bis hin zum Staatshaushalt. Es bleibt zu hoffen, dass diese Modernisierung zustande kommen wird, ganz ähnlich wie der Fortschritt in den siebziger Jahren zu Zeiten der SPD/FDP-Regierungen von Brandt/Scheel und Schmidt/Genscher. Deutschland, Europa und die Welt wartet gespannt.

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