1989: Thirty Years Later
Am 3. November 2019 fand im Rahmen der von der Mikhail-Prokhorov-Stiftung in Krasnoyarsk organisierten Buchmesse (KRJAKK) die russische Premiere des Stücks «30.nach.1989» statt. Diese einzigartige Theaterproduktion entstand dank dem Projekt 30.past.89.
Gestartet wurde das Projekt im Frühjahr 2019. Junge Menschen aus Polen, Russland und Deutschland wurden beauftragt, Interviews mit ihren Eltern, Omas und Opas aufzuzeichnen. Lokale Geschichten einzelner Personen, Verwandten der Projekteilnehmer, ihre Erinnerungen, Emotionen und Erlebnisse bildeten die Grundlage des Projektes und später auch der Aufführung. Junge Schauspieler setzten sich nicht an, den Gang der Ereignisse der letzten 30 Jahre vom historischen Standpunkt zu analysieren, vielmehr ging es ihnen darum, über die Erinnerungen ihrer Eltern jener Zeit nachzuempfinden, sie stellten sich vor als seien sie in ihre Umstände versetzt und machten sich Gedanken darüber, was sie an ihrer Stelle tun würden. Sie machten sich Gedanken, ohne dass sie sich in ihren eigentlichen Ländern abkapselten. Gemeinsam machten sie sich Gedanken und gingen dabei auf Reisen nach Warschau und Gdansk, Moskau und Jaroslawl, Berlin und Leipzig. Während der Reisen kamen sie mit Augenzeugen der historischen Ereignisse von Anfang der 90-er Jahre zusammen. So traf sich das Theaterteam beispielsweise in Russland mit Irina Prochorowa und Grigorij Jawlinskij, dem führenden Politiker der Partei Jabloko. In Polen kamen sie mit den Mitgliedern der Solidarność zusammen. Diese und andere Treffen wurden ebenfalls zu einem wichtigen Element des Projektes und halfen den Teilnehmern, über Emotionen ihrer Nächsten die Chronologie zu verstehen.
Genau das ist der Reiz – die Umbrüche von 1989 aus der Perspektive derjenigen gespiegelt zu bekommen, die sich ihr Geschichtspuzzle vor allem aus dem Unterricht sowie den Erzählungen von Eltern und Großeltern zusammensetzen.
Das Projekt war im Endeffekt wichtige Hilfe für seine Teilnehmer, denn junge Leute sind bewusst oder unbewusst Träger der Vergangenheit. Durch ihre Geschichten, durch Emotionen und Erinnerungen suchten die Jugendlichen nach eigenen Identitäten, sie suchten nach ihrer Stellung im eigenen Land, in Europa und in der globalen Welt. Nur die Zeit kann einmal zeigen, ob das Projekt sein Ziel erreichte. Nur sie kann die Antwort auf die Frage liefern, was die jungen Menschen in Polen, Russland und Deutschland formt, nachdenklich macht, bewegt, trennt und verbindet.
Die deutsche Version der Aufführung wurde auf der Bühne des Deutschen Theaters Mitte Oktober gezeigt, zwei Wochen später trafen sich die Schauspieler und die Inszenierungsgruppe in Krasnojarsk, um hier die russische Version zu zeigen, die sehr positiv vom russischen Publikum aufgenommen wurde.
Zwar dauerte die Aufführung fast 2 Stunden, doch blieben danach die meisten Zuschauer wegen der Diskussion mit Projektteilnehmern und der Regisseurin Uta Plate. Möglicherweise erhielten manche wichtigen historischen Fakten nicht den nötigen Klang – gerade danach fragte Irina Prochorowa – doch das Spiel der nicht-professionellen Akteure fand den Schlüssel zu den Herzen aller Zuschauer. Da blieb niemand gleichgültig: Erinnerungen der älteren Generation, Interesse für das Geschehen der damaligen Jahre in den Augen der Jugendlichen, Lachen und Weinen – alles war an dem Abend im Haus der Theaterschaffenden zu sehen.
Bitterernstes wechselt mit lustigen Interventionen in diesem animierten Geschichtslabor zur lebendigen Erinnerungskultur. Das Publikum spürt richtig, wie sich die an diesem Intensivkurs des Lebens Beteiligten, angeleitet von Regisseurin Uta Plate und Dramaturgin Birgit Lengers, während des gemeinsamen Recherche- und Probenprozesses nahe gekommen sind, Freundschaften geschlossen haben.
Der Abend ist Patchwork und kann auch nichts anderes sein, ein Sammelalbum voller Ausschnitte aus einer viel größeren, längeren, nur rudimentär vermittelbaren gemeinsamen Erfahrung, eine – durchaus elaborierte, Postkarte aus einem Urlaub, bei dem der Empfänger nicht dabei war. Und er funktioniert dann am besten, wenn er sich mit dem Verstehen, dem Verstehenwollen des Anderen, ob nun über Generationen- oder geografische Grenzen hinweg, befasst.
Eine wichtige Rolle spielen in der Aufführung große bunte Päckchen. Sie gehören nicht nur zu den Bühnenbild-Elementen, sie sind eine Allegorie des emotionalen Hintergrundes jedes jungen Menschen, eines Gepäckstücks aus der Vergangenheit, mit dem er lebt, der seine Ansichten und seine Weltanschauung formt.
Darum ging es auch während der Diskussion in der Buchmesse im KRJAKK-Klub zum Thema «Erfahrungen der Erlebnisse, Diskurse der neuen Generation über persönliche und soziale Geschichte der «stürmischen Jahre». Diesmal nahmen Mitarbeiter der Museen, Historiker, Politologen und Initiatoren dieses Projektes Stellung zur Theatervorstellung. Einen wichtigen Beitrag zur Verständigung bildeten die Bemerkungen von Ilja Kowalskij, eines der Projektteilnehmer, der darauf verwies, in welcher Richtung es weitergehen sollte. Indes hoffen wir darauf, dass recht bald die Video-Version der Aufführung zum Anschauen und für die nachfolgenden Diskussionen zur Verfügung steht.
Diese Theatervorstellung ist nämlich eine unwiederholbare Sache, ihre Einmaligkeit besteht auch darin, dass sie nicht wieder gezeigt wird. Die Regisseurin der Aufführung Uta Plate meint, dass das Ergebnis des Projektes unter Beteiligung gerade dieser Gruppe der Jugendlichen hier und heute gezeigt werden müsse, wiederholen nach einem halben Jahr geht nicht. Das wäre dann nämlich bereits ein anderes Projekt.
Uta Plate
Kulturpädagogik-Studium an der Universität Hildesheim, im Anschluss Leitung der afrikanisch-deutschen Theatergruppe Rangi Moja. Ihre Publikation "Fremd bleiben" beschreibt die interkulturelle Theaterarbeit (Koautorin Wiebke von Bernstorff, IKO-Verlag,1997). 1996–99 am Theater Nordhausen Leitung und Regie des Projekts "Theater im Knast" an einer Jugendstrafanstalt. Entwicklung von Theaterstücken sowohl mit Senioren im Altersheim als auch mit Kindern in Asylheimen. Uta Plate war seit der Spielzeit 1999/2000 Theaterpädagogin an der Schaubühne/Berlin. Seit Sommer 2014 arbeitet sie im internationalem Rahmen als selbständige Regisseurin und Dozentin.
Ihre Schwerpunkte ist die Arbeit mit sozial benachteiligten Gruppen ("Theater im Knast", Neuseeland, 2016), intergenerative Projekte ("Leben Lügen Sterben", Theater Neumarkt, Schweiz, 2014 ), site specific Projekte ("A way", Dänemark, 2016 ), Projekte mit Jugendlichen ("Get upstand up", Bürgerbühne Dresden, 2017), dokumentarisches Theater ("Youth Memory", Deutsches Theater Berlin, 2015 und "Hier.Stehe.Ich", Deutsches Theater Berlin, 2017) und Theaterarbeit mit Geflüchteten und Einheimischen ("Servus Salam", Residenztheater München, 2017 / "Der Pakt", UniT, 2018).
Sie lehrt als Dozentin an den Universitäten Berlin, Hildesheim, Hannover, Kopenhagen (Dänemark) und Ouagadougou (Burkina Faso). Zudem leitete sie in Burkina Faso mit der Unterstützung des Auswärtigen Amtes zwei Masterclasses mit Theatermacherinnen.
Teilnehmer:
Studenten aus Deutschland: Jan Hinnerk Henze, Katharina Hoffmann, Emil Kollmann, Molimo Mehlem, Jasmin Fifassi Sebastiani, Emma Charlotte Weiß.
Studenten aus Polen: Kornel Duchaczek, Michal Ireneusz Halas, Hania Kulnianin, Ewa Mazgajska, Anna Maziarska, Rohan Fryderyk Tryc-Bromley.
Studenten aus Russland: Prokhor Gusev, Ilya Kovalsky, Daria Kolpakova, Polina Laptyreva, Yegor Litvinov, Ioanna Meschaninova
Dramaturgie – Birgit Lengers
Künstlerische Mitarbeit - Paul Schmidt
Bühne – Lana Ramsay
Ein trinationales Theaterprojekt des Jungen Deutschen Theaters
in Kooperation mit der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Evangelischen Kirche Kirchenkreis Teltow-Zehlendorf
Projektpartner Fundacja im. Dr. Michaela Dethloffa und Stanislavsky-Elektrotheater
gefördert von der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, dem Auswärtigen Amt, dem Deutsch-Polnischen Jugendwerk, der F.C.Flick Stiftung gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Intoleranz und der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit
30.nach.89 ist Dokument eines Such- und Findungsprozess, Versuch seiner theatralen Übersetzung, Teil und Endpunkt eines Projekts, ohne das er nicht denkbar ist ... Da trägt der Enthusiasmus der wunderbaren jungen Spieler*innen den Zuschauer hinein in den magischen Raum, in dem das Unmögliche möglich erscheint: einander kennen zu lernen, die anderen zu verstehen, von einander zu lernen.