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Sicherheitsgesetz
Erstes Urteil in Hongkong nach „Sicherheitsgesetz“: Zerfall der Grundrechte und des Menschenverstands

TONG YING-KIT
picture alliance / ZUMAPRESS.com | Eddie Stringer

"Freiheit für Hongkong, Revolution unserer Zeit": Dieser Spruch ist bei Protesten in Hongkong allgegenwärtig – nach dem neuen „Nationalen Sicherheitsgesetz“ aber ist er verboten. Der erste Angeklagte ist nun auf Grundlage dessen zu mehrjähriger Haft verurteilt worden. Das stellt einen gefährlichen Präzedenzfall dar.

 

Etwas länger als ein Jahr lang gilt das sogenannte Nationale Sicherheitsgesetz (NSL) in Hongkong  – nun ist das erste Verfahren abgeschlossen, das auf dessen Grundlage geführt worden war. Der Fall an sich ist schnell skizziert. Am 1. Juli 2020 zeigte der Angeklagte ein politisches Banner und fuhr mit seinem Motorrad in eine Polizeiabsperrung. Niemand wurde dabei verletzt. Ein Video des Vorfalls zeigt, dass der Angeklagte auf die Bremse trat, als er sich den Polizisten näherte. Ohne das neue Gesetz wäre der Angeklagte wohl wegen gefährlichen Fahrens angeklagt worden. Der 1. Juli 2020 war jedoch der erste Tag, an dem das sogenannte Sicherheitsgesetz nach der Verkündung durch den Ständigen Ausschuss des Nationalen Volkskongresses in Peking in Kraft trat. Die Staatsanwaltschaft klagte den Motorradfahrer wegen Sezession und terroristischen Aktivitäten an.

Ein Gremium aus drei Richtern führte das Verfahren. Geschworene gab es nicht. Die Richter waren zuvor von der Chief Exekutive, die den Vorsitz der Nationalen Sicherheitskommission führt, ausgewählt worden. Der Prozess selbst drehte sich vor allem um die Bedeutung des Slogans: "Freiheit für Hongkong, Revolution unserer Zeit", der auf einem Banner am Motorrad des Angeklagten zu sehen war.

Nur 24 Stunden vor dem fraglichen Zwischenfall war dieser Slogan in Hongkong noch extrem weit verbreitet und wurde im Laufe des vergangenen Jahres von Millionen Menschen in der Stadt ausgerufen. Am Tag des Inkrafttretens des neuen Gesetzes konnte niemand ahnen, dass etwas so Weitverbreitetes nun als etwas Illegales verstanden werden könnte. Derselbe Spruch prangt auf vielen Aufklebern, Graffiti und anderen Protestkunstwerken, die aus der Bewegung des Jahres 2019 hervorgegangen sind. Neben dem Angeklagten wurden Hunderte Menschen in den ersten Tagen nach dem Inkrafttreten des sogenannten Sicherheitsgesetzes verhaftet. Einige wurden verhaftet, weil die Polizei auch bei ihnen Banner und Aufkleber mit dem Slogan fand.

Hat der Spruch eine sezessionistische Bedeutung?

Nun liegt der Regierung von Hongkong ein Gerichtsurteil vor, mit dem sie das vollständige Verbot des Slogans (und aller anderen Slogans, auf die das Urteil angewendet werden kann) rechtfertigen kann. Der Vorgang illustriert damit den raschen Zerfall der Grundrechte und des Menschenverstands, die in den vergangenen 150 Jahren in den Rechtssystemen von Hongkong aufgebaut wurden.

Die Experten und Expertinnen waren sich einig, dass Sezession eine der vielen Bedeutungen dieses politischen Slogans ist. Die Richter entschieden, dass es reiche, wenn der politische Slogan eine sezessionistische Bedeutung haben kann, um als Anstiftung zur Sezession und damit als Straftat gewertet zu werden. Es gab keine Berücksichtigung der Meinungsfreiheit des Angeklagten und seiner Freiheit, andere politische Meinungen zu vertreten. Die Grundrechte, die angeblich im Rahmen des sogenannten Sicherheitsgesetzes selbst und des Grundgesetzes (die Mini-Verfassung von Hongkong) garantiert werden, berücksichtigten die Richter nicht. Der internationale Standard der Menschenrechte, der in Hongkong einst aufrechterhalten wurde, wird nun vom Gericht völlig außer Acht gelassen.

Das Gericht stützte sich stattdessen auf eine Reihe jahrzehntealter Fälle aus dem Common Law, von denen einige sogar bis ins 19. oder frühe 20. Jahrhundert zurückreichen. Laut dem Gericht war die Handlung des Angeklagten ausreichend, um als terroristischen Akt eingestuft zu werden, da die Polizei das Symbol von Recht und Ordnung darstellt. Die Handlungen des Angeklagten stellten demnach dieses Symbol in Frage.

Das Urteil: neun Jahre Gefängnis

Der Angeklagte wurde aufgrund der Anstiftung zur Sezession zu sechseinhalb Jahren im Gefängnis verurteilt und bekam wegen Begehung von terroristischen Akten eine achtjährige Haftstrafe aufgebrummt. Das Gericht erklärte, dass der Angeklagte Tong Ying-kit in abschließender Gesamtbetrachtung zweieinhalb Jahre seiner Strafe für das terroristische Vergehen zusammen mit der 6,5-jährigen Haftstrafe für die erste Anklage verbüßen muss. Demzufolge wird Tong insgesamt neun Jahre Haftstrafe verbüßen.

Dieser Fall stellt einen gefährlichen Präzedenzfall dar und ebnet den Weg für potenziell weitere Verurteilungen auf Grundlage des sogenannten Sicherheitsgesetzes gegen Oppositionelle, Studentenführer, politische Aktivisten und Journalisten, die wegen Verstößen gegen das Gesetz angeklagt sind und nicht gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt werden. Die Angeklagten müssen nachweisen, dass sie keine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellen, wenn sie auf Kaution freigelassen werden wollen. Das ist für Personen, die auf Grundlage des sogenannten Sicherheitsgesetzes angeklagt sind, eine fast unmögliche Aufgabe. Gespräche mit internationalen Reportern oder Kaffeetrinken mit Diplomaten anderer Länder gelten bereits als "Beweis" für die Gefahr, dass die Angeklagten die nationale Sicherheit weiterhin gefährden würden. Wie man die nationale Sicherheit durch jahrzehntelang als normale empfundene Aktivitäten einer internationalen Stadt gefährden kann, ist jenseits aller Vernunft.

Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass das Konzept der nationalen Sicherheit in dem sogenannten Sicherheitsgesetz nicht definiert ist. In der Volksrepublik ist es ein Konzept, das alles umfasst, von industriellen Schlüsselsektoren wie Finanzen, Technologie, Infrastruktur bis zur Kultur. Aufgrund der extraterritorialen Wirkung des Gesetzes könnte die internationale Gemeinschaft außerhalb von Hongkong unbewusst einen Verstoß gegen das Gesetz begehen. Die Kommunistische Partei in Peking könnte eines Tages beschließen, das sogenannte Sicherheitsgesetz auf wirtschaftliche Aktivitäten in Hongkong und darüber hinaus anzuwenden. Die Regierung von Hongkong wird zweifellos solche Anweisungen aus Peking befolgen.

Als der oberste Richter von Hongkong kürzlich mit dem Präsidenten des obersten Volksgerichtes in Peking zusammentraf, drängte dieser die Hongkonger Justiz, das Gesetz über die nationale Sicherheit und den Grundsatz "Patrioten verwalten Hongkong" genau und umfassend umzusetzen. Die Definition von Patriotismus wird natürlich von der Regierung in Peking festgelegt. Richter in Hongkong können jetzt fristlos entlassen werden, wenn Peking ihre Urteile oder Handlungen als unpatriotisch und daher als Bruch ihres Eids betrachtet. Dies ist die strukturelle Herausforderung, vor der das gesamte Justizwesen in Hongkong nun steht.

 

*Dennis W. H. Kwok war Abgeordneter im Parlament Hongkongs (Legislative Council), dort war er Vorsitzender des „Gremium für Justizverwaltung und Rechtsdienstleistungen“ und des „House Committees“. Im Juli 2020 wurde er zusammen mit weiteren Vertretern der demokratischen Opposition von Neuwahlen ausgeschlossen.

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