Argentinien
Ein Jahr Wirtschaftspolitik von Javier Milei
Im November 2023 wurde Javier Milei mit einer deutlichen Mehrheit von 56% zum Präsidenten Argentiniens gewählt und trat sein Amt im Dezember an. Bei seinem Amtsantritt übernahm Milei ein schweres Erbe von der peronistischen Vorgängerregierung mit Hyperinflation 2023 von 211%, Rezession von 1,6% und hoher Armutsquote von 45%. Den bevorstehenden ersten Jahrestag der neuen Regierung nehmen wir zum Anlass, die bisherigen Erfolge in der Wirtschaftspolitik und weiterbestehende Herausforderungen zu beleuchten und hieraus aus unserer Perspektive angemessene Handlungsempfehlungen abzuleiten.
Erste wirtschaftspolitische Erfolge der neuen Regierung
- Deutlicher Rückgang der Inflation
Milei hatte von der peronistischen Vorgängerregierung unter Führung von Alberto Fernández eine desaströse Wirtschafts- und Finanzpolitik übernommen. Argentinien wies 2023 mit rund 211% die höchste Inflationsrate der Welt auf. In Umfragen zur Wahl nannte die Bevölkerung die Hyperinflation die größte Sorge. Milei hatte im Wahlkampf versprochen, die Bekämpfung der Inflation zu seiner wichtigsten Priorität zu machen. Bereits unmittelbar nach seinem Amtsantritt legte Milei ein ehrgeiziges Wirtschaftsprogramm vor mit einem umfassenden Omnibusgesetz („Ley Bases“) mit über 600 Maßnahmen und einem Notstandsdekret “Decretos de Necesidad y Urgencia (DNU)” mit rund 300 Maßnahmen. Milei verfügt mit seiner Bewegung „La Libertad Avanza“ („Die Freiheit schreitet voran“) allerdings in keiner der beiden Kammern über eine eigene Mehrheit und ist daher auf die Unterstützung bürgerlicher sowie gemäßigter peronistischer Abgeordneter angewiesen. Nach einem gescheiterten ersten Anlauf im April gelang es Milei im Juli, das Omnibusgesetz im Kongress durchzubringen, wenn auch in deutlich abgespeckter Form mit rund 200 Maßnahmen. Das Notstandsdekret, ein Instrument, mit dem auch frühere argentinische Präsidenten regiert hatten, ist weiter in Kraft, nachdem es zwar vom Senat abgelehnt wurde, aber – zumindest bisher noch nicht – vom Abgeordnetenhaus. Insbesondere mit der Verabschiedung des Omnibusgesetzes hat Milei einen wichtigen Meilenstein erzielt, zum einen als Beweis für seine Handlungsfähigkeit in herausfordernder parlamentarischer Konstellation, wie auch im Hinblick auf sein wirtschaftspolitisches Programm mit Fokus auf Reduzierung von Staatsausgaben, Abbau von Bürokratie und Vorlage einer Privatisierungsagenda.
Milei ist es mit einem harten Einsparkurs gelungen, die Inflationsrate im ersten Jahr seines Amtes deutlich zurückzuführen. Auf monatlicher Basis beläuft sich die Inflation jetzt (Stand Oktober) – im historischen Maßstab nur noch – auf rund 2,7 %. Insbesondere die Preise für Lebensmittel stiegen zuletzt weniger stark an, während die Preise für Mieten und Energie weiterhin überdurchschnittlich anstiegen. Auf Jahresbasis beträgt die Inflationsrate allerdings derzeit immer noch rund 200%, dürfte allerdings in den nächsten Monaten weiter zurückgehen, alleine schon aufgrund des statistischen Effektes, dass schrittweise die von der Vorgängerregierung geerbten hohen monatlichen Inflationsraten aus der Jahresbetrachtung herausfallen.
- Erste Haushaltsüberschüsse
Neben der Bekämpfung der Inflation hat sich Milei als zweites herausgehobenes Ziel seiner Wirtschafts- und Finanzpolitik der Haushaltskonsolidierung verschrieben. Seinem selbsterklärten Weltbild als libertärer Anarcho-Kapitalist folgend, sieht Milei den Staat als grundsätzliches Übel und erkennt als legitime staatliche Aufgaben lediglich die Sicherung der öffentlichen Ordnung und des Rechtssystems an. Bereits nach seinem Amtsantritt begann Milei, bei der Reduzierung der Staatsausgaben erste Pflöcke einzuschlagen, so durch die Abschaffung bzw. Zusammenlegung von Ministerien und von nachgelagerten Behörden. Zudem stiegen die Löhne und Gehälter im öffentlichen Sektor und die Renten langsamer als die Inflation, so dass es zu realen Haushaltseinsparungen kam. In Argentinien hat diese Politik der „kalten Progression“ sinkender Realeinkommen Tradition und wird als „La licuadora“ („Mixer“) bezeichnet. Zudem hat Milei – im Einklang mit seiner libertären Wirtschaftsphilosophie – einen praktisch vollkommenen Stopp öffentlicher Infrastrukturprojekte vorgenommen, die sich künftig privat finanzieren müssen und hierzu den inzwischen zum YouTube-Klassiker mutierten Spruch „No hay plata“ („Es gibt kein Geld“) geprägt. Harte Einschnitte für die Bevölkerung brachten der schrittweise Abbau von Sozialleistungen und Subventionen, insbesondere für Lebensmittel, Energie und öffentliche Verkehrsmittel. Weitere Reduzierungen im nationalen Budget erreichte Milei durch die – verfassungsrechtlich umstrittene -– Zurückstellung von Zahlungen der Zentralregierung an Provinzen und drohte insbesondere denjenigen Gouverneuren mit finanziellen Konsequenzen, die seinen politischen Kurs nicht mittragen. So gehört kein einziger der 24 Gouverneure des Landes (einschließlich der autonomen Hauptstadt Buenos Aires) der Bewegung Mileis „La Libertad Avanza“ an, was sich bis zu den nächsten Wahlen im Dezember 2025 auch nicht ändern wird.
Seit Januar konnte die neue Regierung jeden Monat einen Haushaltsüberschuss erzielen (erstmals seit 2008), im Juli war allerdings wieder ein leichtes Defizit zu verzeichnen, was die Regierung mit saisonbedingt höheren Ausgaben erklärte. Die begonnene Haushaltsdisziplin ist auch eine wichtige Voraussetzung für weitere Umschuldungsverhandlungen mit dem IWF, dessen größter Schuldner Argentinien ist. Ausgehandelt wurde der Kredit in Höhe von 44 Milliarden US-Dollar – und die erforderlichen graduellen Reformmaßnahmen -– 2018 unter Präsident Mauricio Macri.
- Erste Investitionsankündigungen im Energie- und Rohstoffsektor
Argentinien ist nicht nur reich an landwirtschaftlichen Erzeugnissen, sondern besitzt auch attraktive Voraussetzungen für Investitionen im Energie- und Rohstoffsektor. So verfügt das Land sowohl über erhebliche Gas- und Wasserstoffreserven und günstige klimatische Voraussetzungen für erneuerbare Energien als auch über wertvolle Rohstoffe, insbesondere Lithium, wichtig für die Batterieproduktion, wo es nach Chile und Australien zu den drei Ländern mit den größten Reserven gehört, aber zum Beispiel auch Kupfer. Bisherige Investitionen im Norden Argentiniens stammen überwiegend aus China und sind nicht zuletzt aufgrund ihrer Auswirkungen auf die Umwelt und lokale Bevölkerung umstritten. Allerdings streben inzwischen aufgrund geopolitischer und -ökonomischer Risiken westliche Länder im Energie- und Rohstoffbereich nach einer stärkeren Unabhängigkeit von autoritären Staaten wie Russland und China und arbeiten an einer Diversifizierung ihrer Beschaffungsmärkte. Argentinien bietet hier als prowestliches, demokratisches Land und aufgrund seiner vorhandenen Ressourcen ein erhebliches Potenzial. Dass dieses Angebot bisher nicht auf größere Nachfrage aus dem Westen gestoßen ist, hat insbesondere mit den bisher widrigen Investitionsbedingungen im Land zu tun. Genau hier setzte Milei an, indem er als Teil des Omnibusgesetzes das Investitionsförderungspaket RIGI („Régimen de Incentivos para Grandes Inversiones“, „Anreizsystem für Großinvestitionen“) gestartet hat, das 30-jährige Steuervergünstigungen und außenwirtschaftliche Erleichterungen für größere Investitionen (über 200 Mio. USD) in ausgewählten Sektoren (u.a. Energie, Rohstoffe, Infrastruktur, Technologie) beinhaltet. Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes im Juli kündigten bereits erste ausländische Unternehmen Investitionen an, nachdem seit dem Amtsantritt von Milei ein wachsendes Interesse ausländischer Unternehmen an Argentinien festzustellen war. Auch das Länderrisiko für Argentinien an den internationalen Märkten ist gegenüber der peronistischen Vorgängerregierung deutlich zurückgegangen, wenn es auch noch über dem Ausgangsniveau der Präsidentschaft von Mauricio Macri (2015-2019) liegt.
- Ausweitung des Mietangebotes durch Lockerung des Mietrechts
Mit dem zum Jahresende 2023 in Kraft getretenen Notstandsdekret nahm Milei eine umfassende Liberalisierung des Mietrechts vor. Unter der peronistischen Vorgängerregierung unterlagen Mietverträge zahlreichen Beschränkungen: Die Laufzeit musste mindestens drei Jahre betragen, Anpassungen an die Hyperinflation waren nur einmal im Jahr erlaubt, und die Verträge mussten in der unter chronischem Wertverfall leidenden Landeswährung Peso abgeschlossen werden. Angesichts dieser Beschränkungen verzichteten viele Vermieter darauf, ihre Wohnungen auf den Markt zu bringen und ließen sie lieber leer stehen als Anlage- und Spekulationsobjekte. Die Folge war, dass die Nachfrage nach Wohnungen das verfügbare Angebot bei weitem überstieg. Dies änderte sich schlagartig nach dem Regierungswechsel und der Liberalisierung des Mietrechtes: Laufzeiten und Währung konnten zwischen den Mietparteien frei ausgehandelt werden, häufig nun quartalsweise und in US-Dollar. Die einschlägigen Immobilienportale verzeichneten umgehend mehr als eine Verdopplung der angebotenen Wohnungen.
Während dieser – ökonomisch zu erwartende – Mengeneffekt als Erfolg gewertet werden kann, erfordert der Preiseffekt eine differenziertere Betrachtung. Altmieter mussten bei einer Verlängerung ihres auslaufenden Vertrages oft eine Verdreifachung der Miete hinnehmen. Die Mieten für Neuvermietungen sind hingegen inflationsbereinigt gesunken. Allerdings liegt das absolute Niveau der Mieten in Argentinien immer noch auf einem hohen Niveau. Hinzu kommen die Nebenkosten, die aufgrund der drastischen Reduzierung der Subventionen, hier insbesondere für Energie, deutlich angestiegen sind. In der Folge wohnen 4 von 10 jungen Argentiniern zwischen 25 und 35 Jahren noch bei ihren Eltern oder Großeltern.
Der Januskopf des Javier Milei
Javier Milei hat Argentinien innenpolitisch stabilisiert, doch außenwirtschaftlich bleibt das Land isoliert. Seine marktliberale Agenda stößt an Grenzen – wagt er den entscheidenden Schritt zur Öffnung?
Bildergalerie vom wirtschaftspolitischen Symposium "Ein Jahr Javier Milei: Quo vadis Argentinien?" in Buenos Aires
Weiterbestehende wirtschaftspolitische Herausforderungen
- Rezession
Die ersten Erfolge der neuen Regierung beim Abbau der Inflation und Haushaltsdefizite spiegeln sich bisher nicht in einer Verbesserung der realwirtschaftlichen Lage des Landes wider. Im Gegenteil, Argentinien befindet sich in einer schweren Rezession und argentinische wie internationale Ökonomen erwarten für dieses Jahr einen Rückgang des BIP von knapp 4%, nachdem das BIP im ersten Halbjahr bereits um 3,4% zurückgegangen war. Damit ist Argentinien das einzige G20-Land, das dieses Jahr unter einer schweren Rezession leidet. Das Hauptziel von Mileis Wirtschaftspolitik ist die Bekämpfung der Inflation, alle anderen Ziele sind diesem Oberziel untergeordnet. Damit zahlt die Bevölkerung einen hohen Preis in Form einer Wirtschaftskrise für die – grundsätzlich herbeigesehnte – niedrigere Inflation. Die Konsumnachfrage ist im Jahresverlauf im zweistelligen Prozentbereich eingebrochen, noch verstärkt durch den fast vollständigen Stopp öffentlicher Investitionen. Milei appelliert an die Geduld der Bevölkerung, die aktuelle Durstrecke zu überstehen und verspricht Licht am Ende des Tunnels, sobald das – aus seiner Sicht dominierende – Problem, die Inflation, nachhaltig gelöst ist. Während Milei Anfang November bereits ein Ende der Rezession verkündet hat, ergeben Wirtschaftsindikatoren und Unternehmerstimmen bisher ein zurückhaltenderes Bild. Die in Argentinien unter Ökonomen daher derzeit am meisten diskutierte Frage lautet, wann und wie stark der wirtschaftliche Aufschwung erfolgt, ob in Form eines „V“, „U“ oder doch nur Verlängerung der Misere in Form eines „L“.
- Höhere Arbeitslosigkeit
Inzwischen hat die Arbeitslosigkeit die Inflation als größte Sorge der Argentinier in Umfragen verdrängt. Unmittelbar mit der Wirtschaftskrise verbunden ist ein Anstieg der (offiziellen) Arbeitslosigkeit auf 8%. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Anteil der Beschäftigten im informellen Sektor in Argentinien rund 45% beträgt, die damit – wie in vielen lateinamerikanischen Ländern – über keinerlei soziale Absicherung verfügen. Weniger Konsumnachfrage und weniger Investitionen führen zu weniger Bedarf an Arbeitskräften. Gleichzeitig wird mehr Arbeitskraft angeboten, denn immer mehr Argentinier sind aufgrund der hinter der Inflation zurückbleibenden Lohnentwicklung auf Zweit- oder sogar Drittjobs angewiesen. Gleichzeitig fallen (unvermeidlich) Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor fort: Um die Staatsausgaben zu reduzieren und die Effizienz des unter der peronistischen Vorgängerregierung stark aufgebähten öffentlichen Sektors (rund 3,5 Millionen Staatsbeschäftigte) zu steigern, hat Milei begonnen, zehntausende Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor abzubauen (bisher rund 30.000 von angekündigten 70.000).
- Nachhaltiger Inflationsabbau?
Auch wenn der deutliche Rückgang der Inflation seit dem Amtsantritt der neuen Regierung ein eindeutiger Erfolg ist, bleibt abzuwarten, wie nachhaltig dieser ist. Zum einen dürfte der schrittweise Rückgang der Subventionen, z.B. für Lebensmittel, Energie und öffentlichen Verkehr, naturgemäß die Preise für diese Güter und Dienstleistungen steigen lassen, was im täglichen Leben auch bereits erfahrbar ist. Zweitens ist der Rückgang der Inflation teilweise auch auf den rezessionsbedingten Rückgang der Konsumnachfrage zurückzuführen. Damit die Inflation auch längerfristig niedrig bleibt, sobald die Nachfrage wieder anzieht, ist daher ein wachsendes Angebot an Gütern und Dienstleistungen erforderlich. Drittens ist das Konzept der offiziellen Inflationsmessung in Argentinien nicht unumstritten, liegt der, insbesondere von der ärmeren Bevölkerung wahrgenommene Preisanstieg für die von ihnen benötigten elementaren Waren doch teils deutlich über den offiziell ausgewiesenen Zahlen, was Zweifel an der Repräsentativität des zugrunde gelegten Warenkorbes hegt.
- Nachhaltige Fiskalpolitik?
Auch der Rückgang der Haushaltsdefizite ist als Erfolg der neuen Regierung zu werten. Seit Beginn des Jahres konnten auf monatlicher Basis Haushaltsüberschüsse erzielt werden, was sich allerdings im Juli wieder in ein leichtes Defizit umkehrte. Zudem muss der Vorbehalt gemacht werden, dass die Einsparungen neben tatsächlichen Kürzungen zum Teil mithilfe von „Low hanging fruits“ in Form von Einmalmaßnahmen erreicht wurden, die kaum nachhaltig sein dürften, zumindest nicht ohne negative Auswirkungen auf das Wachstum und die soziale Stabilität: Lohn- und Gehaltszahlungen sowie Rentenerhöhungen, die unterhalb der Inflationsrate liegen („Mixer“), Zurückhaltung von Zahlungen der Zentralregierung an Provinzen, praktisch vollständiger Stopp von öffentlichen Bauinvestitionen.
- Überbewerteter Peso
Die neue Regierung hatte den Peso unmittelbar nach Amtsantritt im Dezember gegenüber dem US-Dollar um 54% abgewertet, mit der Zielsetzung, so den Abstand („La Brecha“) zum inoffiziellen Wechselkurs („Dólar Blue“) zu reduzieren, was zunächst auch gelungen ist. Seitdem hält Milei jedoch an einer schleichenden Abwertung („Crawling peg“) des Pesos um monatlich nur 2% fest, was deutlich unter der Inflationsrate liegt. In der Folge hat sich der Abstand zwischen offiziellem und inoffiziellem Wechselkurs wieder vergrößert, was zumindest bis zur Verabschiedung des Omnibusgesetzes im Juli auch der politischen Unsicherheit geschuldet war. Die Märkte halten den offiziellen Wechselkurs daher für überbewertet, was die für die argentinische Wirtschaft wichtigen Exporte (insbesondere Landwirtschaft) verteuert, zudem ist die argentinische Industrie ohnehin nur bedingt international wettbewerbsfähig. Im Umkehrschluss sind Importe wechselkursbedingt günstiger geworden mit der Folge, dass Argentinier vermehrt im benachbarten Ausland (insbesondere Chile) einkaufen und so den lokalen Unternehmen in Argentinien Nachfrage fehlt, was zu einer weiteren Verschärfung der wirtschaftlichen Lage beiträgt.
- Weiterhin beträchtliche Außenhandelsbeschränkungen
Zusätzlich zum überbewerteten Peso erschweren die nach wie vor beträchtlichen Außenhandelsbeschränkungen den internationalen Austausch von Gütern und Dienstleistungen und erweisen sich auch als Hemmschwelle für ausländische Investoren. Importe werden derzeit noch mit hohen Steuern (PAIS) von 17,5% belastet, was sowohl für private Konsumenten als auch für Unternehmen in Argentinien erhebliche Kosten verursacht. So wird zum Beispiel eine aus Europa importierte normale Tafel Schokolade in Argentinien mit umgerechnet 8 Euro zu einem Luxusgut, auf der Fähre auf die andere Seite des Río de la Plata nach Uruguay kostet sie lediglich die Hälfte, im deutschen Supermarkt gerade einmal einen Euro. Gravierender sind die Konsequenzen für Unternehmen, die in Argentinien für ihre Produktion auf Vorleistungen auf dem Ausland angewiesen sind oder zum Beispiel Softwarelizenzen bezahlen müssen. Die neue Regierung hat angekündigt, die Importsteuern bis Ende des Jahres auf 7,5% reduzieren zu wollen, was angesichts der preislichen Nachteile auch dringend erforderlich ist.
Während Importsteuern zumindest von den Unternehmen in ihrer Preiskalkulation berücksichtigt werden können, machen weiterhin bestehende Genehmigungspflichten für Importe die Wirtschaftstätigkeit in Argentinien praktisch unkalkulierbar. So führen Wartezeiten bei der Genehmigung von Importen und bürokratische Abfertigungsprozesse beim Zoll, selbst für Alltagsgegenstände, zu Produktionsausfällen und langen Lieferzeiten. Aktuell besteht zum Beispiel ein Mangel an Plastik, so dass es selbst bei der Ausstellung von Plastikkarten wie etwa für Führerscheine zu Wartezeiten kommt.
Hinzu kommen Beschränkungen von Devisentransaktionen („Cepos“) mit der Folge, dass ausländische Unternehmen auf die Bezahlung ihrer Leistungen von ihren lokalen Geschäftspartnern in Argentinien warten müssen und daher teilweise auf neue Geschäftsmöglichkeiten sogar verzichten. Private Haushalte dürfen legal monatlich Pesos nur im Gegenwert von 200 USD umtauschen. Trotzdem gilt Argentinien als das Land, dass nach den USA und Russland über den drittgrößten US-Dollar-Bestand der Welt verfügen dürfte. Zudem wird geschätzt, dass Argentinier im Ausland US-Dollar im dreistelligen Milliardenbereich angelegt haben, oftmals im benachbarten Uruguay, das ein wichtiger Standort für Offshorebanking ist. Milei und sein Wirtschaftsminister Luis Caputo haben angekündigt, die Devisenbeschränkungen erst in einer „Phase 3“ (nach der Schocktherapie in „Phase 1“ und nach erfolgreicher Stabilisierung in „Phase 2“, insbesondere der nachhaltigen Bekämpfung der Inflation) aufheben zu können. Wann das sein wird, ist unklar, weil abhängig von den Inflationszahlen der kommenden Monate. Ende September spezifizierte Milei in einer Rede an der New York Stock Exchange, dass die „Cepos“ erst aufgehoben werden könnten, wenn die Inflation auf 0% gesunken sei. Die Marktreaktion fiel entsprechend negativ aus. Aus ökonomischer Sicht ist zudem anzumerken, dass ein Inflationsziel von 0% für die Geldwertstabilität weder sinnvoll noch notwendig ist, so verfolgen auch international angesehene und stabilitätspolitisch erfolgreiche Zentralbanken wie die Fed oder die EZB keine Nullinflation, sondern ein Inflationsziel von 2%. Gerade angesichts von Mileis wirtschaftsliberalen Grundüberzeugungen überrascht es, dass seine Regierung in der Frage der Liberalisierung des Devisenhandels derart zögerlich vorgeht, zumal das auch eine wirtschaftliche Belebung durch Steigerung der argentinischen Exporte hemmt.
- Überflüssige diplomatische Konflikte
Bereits bei seinem ersten großen internationalen Auftritt nach der Wahl legte Milei beim World Economic Forum Ende Januar in Davos sein wirtschaftspolitisch-philosophisches Credo dar. Der Westen sei vom Untergang bedroht, der Hauptgegner sei der Sozialismus, dem der Markt moralisch, ökonomisch und historisch überlegen sei. Jeder Staatseingriff außerhalb der Sicherheitspolitik sei kontraproduktiv, weil es kein Marktversagen gäbe (auch nicht in der Wettbewerbs-, Sozial- oder Klimapolitik), so begründete Milei sein Weltbild, das er selbst als libertär und anarcho-kapitalistisch bezeichnet. Hiermit grenzt er sich auch offensiv vom klassischen Liberalismus ab, wie ihn insbesondere auch die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit vertritt mit ihrem Einsatz für Freiheit, Soziale Marktwirtschaft, Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Liberalismus betrachtet Milei als „Verrat“ und auch nur eine andere Form des Sozialismus, der den Märkten „Steine in den Weg legt“. Seitdem beschränkt sich Milei nicht darauf, seine politischen Vorstellungen in Argentinien umzusetzen, sondern beteiligt sich leidenschaftlich an einem internationalen Kulturkampf zwischen Freiheit und Sozialismus. Hierzu pflegt und intensiviert er ein Netzwerk zu rechten und autoritären – und oft nur eingeschränkt freiheitsliebenden – internationalen Spitzenpolitikern von Donald Trump, Jair Bolsonaro, über Viktor Orbán bis zu Vox in Spanien.
Auf weitverbreitetes internationales Unverständnis stieß auch die Rede von Milei Ende September in der UN-Vollversammlung, wo er sich vom „Pakt für die Zukunft“ distanzierte, der von 134 Mitgliedstaaten mitgetragen wurde. Er begründete dies damit, dass es sich hierbei um eine „sozialistische Agenda“ handele, der die wirtschaftliche Erholung Argentiniens gefährde. Argentinien begab sich damit in eine Gemeinschaft der wenigen den Pakt ablehnenden Staaten um Nordkorea, Iran und Sudan. Mitte Oktober kündigte die argentinische Regierung an, beim G20-Gipfel im November in Rio de Janeiro eine Abschlusserklärung zur Gleichstellung der Frau nicht zu unterschreiben, als einziges Land, nachdem sogar Saudi-Arabien Zustimmung angekündigt hatte. Bei der Klimaschutzkonferenz COP29 in Baku Mitte November reiste die argentinische Delegation vorzeitig ab.
Entschieden kritisiert Milei, was auch aus Sicht der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit ausdrücklich zu begrüßen ist, den russischen Einmarsch in die Ukraine, die Angriffe der Hamas auf Israel und die sozialistischen lateinamerikanischen Diktaturen in Venezuela, Nicaragua und Kuba. Reden lässt er auch Taten folgen – etwa durch die Aufnahme venezolanischer Oppositionspolitiker in die argentinische Botschaft in Caracas, woraufhin Machthaber Maduro die diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Ländern abbrach und die argentinische Botschaft und ihre Insassen – derzeit – unter der Obhut Brasiliens stehen.
Hingegen ist problematisch, dass Milei sich – in Reden wie auch in seiner intensiven Beteiligung in den sozialen Medien – immer wieder zu völlig überzogenen Attacken auf demokratische Politiker hinreißen lässt. So führten die wiederholten Verbalangriffe auf den spanischen Ministerpräsidenten Pedro Sánchez und dessen Frau („korrupt“) zur Abberufung der spanischen Botschafterin in Argentinien. Gleichzeitig warb Milei bei seinen Reisen nach Spanien intensiv bei Unternehmern um Investitionen, wofür die Attacken auf Sánchez kontraproduktiv waren. Mit dem brasilianischen Präsidenten Lula da Silva, und damit dem MERCOSUR-Nachbarn und der größten Volkswirtschaft Lateinamerikas, hat sich Milei seit seinem Amtsantritt noch nicht ein einziges Mal bilateral getroffen. Stattdessen bezeichnet Milei Lula wahlweise als „Diktator“ oder „Dinosaurier“. Zusätzlich provozierte er Lula, indem er sich beim letzten MERCOSUR-Gipfel von seiner – inzwischen entlassenen – Außenministerin Mondino vertreten ließ und sich zeitgleich in Brasilien mit Lulas Vorgänger und Erzrivalen Bolsonaro traf. Die persönliche Abneigung zwischen Milei und Lula verhindert eine stärkere politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern, aber auch eine stärkere Integration des MERCOSUR. Sie gefährdet sogar auf den letzten Metern das Zustandekommen des seit über 20 Jahren verhandelten EU-MERCOSUR-Freihandelsabkommens, indem Milei jüngst sogar ein eigenes bilaterales Abkommen mit der EU ins Gespräch brachte.
Ausländische Unternehmen, die Argentinien als per se attraktiven Standort für Investitionen in Betracht ziehen, zeigen sich durch die ständigen diplomatischen Scharmützel Mileis irritiert. Gute internationale Beziehungen, zumal zwischen demokratischen Ländern, sind gerade auch auf höchster politischer Ebene, bei allen Unterschieden im Detail, nicht zuletzt auch ein wichtiger Vertrauens- und damit Standortfaktor.
Handlungsempfehlungen
- Stabilisierung fortsetzen, Wachstum fördern
Die neue Regierung hat erste wichtige Erfolge bei der Stabilisierung der Geld- und Fiskalpolitik erreicht. Jetzt kommt es darauf an, diese makroökonomische Strategie nachhaltig abzusichern, damit Hyperinflation und hohe Staatsverschuldung in Argentinien endgültig der Vergangenheit angehören.
Gleichzeitig benötigt Argentinien eine mikroökonomische Wachstumsstrategie, um aus der derzeitigen schwerwiegenden Rezession herauszukommen und das Land auf einen nachhaltigen Wachstumspfad zu bringen. Stabilisierung ist war eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für Wachstum. So ist höchst zweifelhaft, ob eine einseitige Ausrichtung auf die Bekämpfung von Inflation und Haushaltsdefiziten ausreicht, um das Land in einen Wachstumsmodus zu bringen. Hierfür benötigt es in- und ausländische Investitionen und hierfür wiederum attraktive und international wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen. Wichtige Elemente sind hierbei ein Abbau der Bürokratie und Überregulierung auf allen Gebietskörperschaftsebenen, eine moderne Infrastruktur (insbesondere Transport, Digitalisierung, Bildung und Gesundheit), ein leistungsfähiger Banken- und Kapitalmarkt und ein effizientes Steuersystem. Die Aussage der Regierung „No hay plata“ („Es gibt kein Geld“) ist zu pauschal und weder faktisch noch politisch nachvollziehbar. Entscheidend ist, dass es der Regierung gelingt, attraktive Investitionsmöglichkeiten in Argentinien zu schaffen, nicht zuletzt auch, damit wohlhabende Argentinier verstärkt wieder ihr beträchtliches Auslandsvermögen produktiv im eigenen Land investieren. Heute besteht vielfach ein Henne-Ei-Problem: So mangelt es dem Staat an Steuereinnahmen, während für wohlhabende Argentinier und Unternehmen Steuervermeidung Volkssport Nummer 1 ist (noch vor Fußball), um so der aus ihrer Sicht, was zumindest unter der peronistischen Vorgängerregierung auch begründet war, Verschwendung von im privaten Sektor erwirtschafteten Steuermitteln in einem aufgeblähten, unter weitverbreiteter Korruption leidenden Staatsapparat zu entgehen.
Selbst Vertreter des IWF haben sich zuletzt – bei aller grundsätzlichen Unterstützung des Stabilisierungskurses von Milei – kritisch zu der einseitigen Fokussierung auf die Inflationsreduzierung geäußert. So betrachten sie die Eingriffe in den Devisenmarkt in Form von Verkäufen von US-Dollar zur Stützung des Pesos auch aufgrund ohnehin begrenzter Devisenreserven der argentinischen Zentralbank als weder zielführend noch nachhaltig. Auch die Kapitalverkehrskontrollen sind kontraproduktiv für eine wirtschaftliche Erholung des Landes. Deren Wegfall wäre ein wichtiges Vertrauenssignal für die Märkte und könnte unmittelbar den Außenhandel und Investitionen beleben, gerade auch in Verbindung mit dem neuen Investitionsfördergesetz RIGI. Zwar dürfte die Freigabe der Devisentransaktionen zunächst zu einer Abwertung des Pesos und damit vorübergehend zu höherer Inflation führen, aber auch die argentinischen Exporte verbilligen und der Peso mit einer Belebung der Wirtschaftstätigkeit wieder stärker werden.
- Unabhängigkeit der Zentralbank statt Dollarisierung
Im Wahlkampf ist Milei mit dem Versprechen angetreten, den Peso durch den US-Dollar abzulösen und die argentinische Zentralbank abzuschaffen. Seit seinem Amtsantritt hat Milei in seinen öffentlichen Auftritten immer wieder an diesem „Endziel“ festgehalten, auch wenn er bisher keinen Zeitplan vorgelegt hat. Zuletzt hat er auch ein Parallelwährungssystem ins Gespräch gebracht– was Argentinien aufgrund der bereits erwähnten hohen Bedeutung des US-Dollars als Aufbewahrungs- und Zahlungsmittel de facto heute schon hat. Die beeindruckenden Erfolge bei der Bekämpfung der Inflation zeigen auch, dass eine Abschaffung der Zentralbank nicht erforderlich ist. Vielmehr würde sich Argentinien damit vollkommen vom geldpolitischen Kurs der amerikanischen Fed abhängig machen, auch dann, wenn dies im Widerspruch zu den für Argentinien konjunkturpolitisch gebotenen geldpolitischen Maßnahmen stünde. Stattdessen ist wichtig, die Unabhängigkeit der argentinischen Zentralbank verfassungsrechtlich zu verankern und sie mit einem klaren stabilitätsorientierten Mandat auszustatten, damit sie nicht wie bisher als verlängerte Gelddruckmaschine der Politik missbraucht wird, sondern für die Geldwertstabilität verantwortlich ist. Kein demokratisch verfasstes Land der Welt, das über eine unabhängige Zentralbank verfügt, leidet unter Hyperinflation. Hierin liegt der Schlüssel für eine institutionelle Sicherung der Geldwertstabilität und nicht in der Dollarisierung und Abschaffung der eigenen Zentralbank mit potenziell beträchtlichen negativen Nebenwirkungen.
- Fokus auf wirtschaftliche Probleme im Land statt Kulturkampf in aller Welt
Angesichts der Größenordnung der von der Vorgängerregierung geerbten wirtschaftlichen – und sozialen – Probleme sollte dies der Fokus der Arbeit der neuen Regierung sein. Zwar sind erste Stabilisierungserfolge zu verzeichnen, aber das Land steckt mitten in einer Wirtschaftskrise, und viele Argentinier sorgen sich um ihren Arbeitsplatz und wie sie bis zum Ende des Monats die weiter steigenden Preise für den täglichen Bedarf bezahlen sollen. Der von Milei in Davos begonnene – und in New York fortgesetzte – weltweite Kulturkampf gegen den Sozialismus und der im Inneren geführte Kampf gegen Andersdenkende und –lebende – sei es durch die Schließung von Antidiskriminierungsstellen, Umbenennung von Gebäuden und fast tägliche Attacken in den sozialen Medien – befremdet, kostet Energie und löst unnötige Konflikte aus, wo Prioritätensetzung auf die zentralen wirtschaftlichen Probleme Argentiniens nötig wäre.
- Konsens und breite Mehrheit bilden
Milei ist mit einer klaren Mehrheit ins Präsidentenamt gewählt worden, und rund die Hälfte der Bevölkerung steht weiterhin hinter seinem Kurs. Seine Unterstützer halten zu ihm, teils aus echter Überzeugung, teils aus Hoffnung, teils aus Verzweiflung mangels Alternativen. Dies gibt ihm Rückenwind für die Umsetzung seiner politischen Vorstellungen. Allerdings verfügt er, wie bereits erwähnt, in keiner der beiden Kongresskammern über eine eigene Mehrheit und ist daher auf die zumindest punktuelle Zusammenarbeit mit bürgerlichen und moderat peronistischen Abgeordneten angewiesen. Der – zumindest als Ausgangsposition – konfrontative, ein merkwürdiges Demokratieverständnis offenbarende Politikstil Mileis („Ich verhandle nicht“) und sein Freund-Feind-Schubladendenken hat insbesondere beim so wichtigen Omnibusgesetz zu unnötigen Verzögerungen und Verwässerungen geführt. Dies obwohl es im Kongress grundsätzlich eine Mehrheit für einen Reformkurs gibt und Abgeordnete anderer Fraktionen Milei auch eine zumindest punktuelle, konstruktive Zusammenarbeit angeboten hatten. Erst im Dezember 2025 stehen Kongresswahlen an, und zumindest so lange muss Milei ohne eigene Mehrheit auskommen. Sowohl bei den im Omnibusgesetz ausgeklammerten Themen Budget und Steuerreform als auch weitergehenden Reformvorhaben – Milei hat bereits angekündigt, noch „rund 3000“ weitere Reformmaßnahmen im Köcher zu haben – wird er bis zur Wahl Mehrheiten suchen und sich auf Kompromisse einlassen müssen. Es ist zu hoffen, dass er diese Konsenssuche proaktiv sucht, um angesichts der herausfordernden wirtschaftlichen Lage zentrale Reformvorhaben zügig umsetzen zu können.
Je breiter die politische Mehrheit ist, die den Reformkurs von Milei im Kongress stützt, umso klarer ist auch die Botschaft an diejenigen in der organisierten peronistischen Opposition und in der Bevölkerung, die bei wöchentlichen, teils gewalttätigen Demonstrationen vor dem Kongress und auf den Straßen von Buenos Aires den Kurs der neuen Regierung bekämpfen und – trotz aller Misserfolge der Vergangenheit – weiterhin von einem peronistisch-sozialistischen Argentinien träumen.
- Effiziente Sozialpolitik
Die offizielle Armutsquote in Argentinien beträgt 53% und liegt damit über den 45% vom Ende letzten Jahres. Gerade die ärmsten Bevölkerungsschichten leiden unter dem Abbau der Subventionen der neuen Regierung für Lebensmittel, Energie und öffentlichen Verkehr. Ordnungspolitisch ist der Abbau der Subventionen richtig, gerade auch zur Sanierung des Staatshaushaltes. Beispielsweise kostete ein Busticket in Buenos Aires im November 2023 rund 70 Pesos, umgerechnet 7 Cent. Um den öffentlichen Verkehr am Laufen zu halten, waren also erhebliche Zuschüsse öffentlicher Mittel erforderlich. Zudem waren Investitionen in die Erhaltung, geschweige denn die Modernisierung des Transportwesens mit diesen Preisen nicht zu erreichen und wurden dementsprechend vernachlässigt. Seit dem Amtsantritt der neuen Regierung haben sich die Preise für den öffentlichen Verkehr verzehnfacht, so dass sich viele Argentinier die tägliche Fahrt mit dem Bus zum Arbeitsplatz oder zur Schule nicht mehr leisten können und stattdessen weite Strecken zu Fuß zurücklegen müssen.
Statt Subventionen nach dem Gießkannenprinzip zu verteilen mit künstlich niedrigen Preisen, wäre es sinnvoll, die wirklich Bedürftigen mit direkten finanziellen Transfers zu unterstützen – zusätzlich zu einer Wachstumspolitik, die für mehr Investitionen und produktivere und damit besser bezahlte Arbeitsplätze sorgt. Dies wäre Ausdruck einer Sozialen Marktwirtschaft statt eines kruden libertären „Jeder ist seines Glückes Schmied.“
Ein wichtiger Baustein einer effizienteren Sozialpolitik ist auch die Reform der Sozialversicherungssysteme, insbesondere der Rente. Die politische Debatte in Argentinien konzentriert sich heute fast ausschließlich auf die Höhe der Rentenanpassung an die Inflation. Bisher nicht adressiert wird hingegen die zu starke Fragmentierung der Sozialversicherungsträger, die zum einen zu unnötig hohen Verwaltungskosten führt und zum anderen zu einem nur losen Zusammenhang zwischen Beiträgen und Leistungen in Form sich teilweise überlappender Rentenansprüche und Privilegien für bestimmte Berufsgruppen. Zudem bleibt auch Argentinien nicht von einem demografischen Wandel verschont, wenn auch weniger ausgeprägt als in anderen Ländern, wie zum Beispiel Deutschland oder Japan. Daher gilt es auch in Argentinien, das Rentensystem zukunftsfest zu machen. Hierzu gehören eine Erhöhung bzw. Flexibilisierung des Renteneintrittsalters und die Weiterentwicklung des heutigen umlagefinanzierten zu einem stärker kapitalgedeckten Rentensystem. Letzteres könnte gleichzeitig das Angebot an Kapitalmarktfinanzierung für Investitionen im Land verbessern.
- Historische Vorbilder studieren
Auch wenn historische Situationen immer nur begrenzt übertragbar sind, lohnt bei den wirtschaftlichen Herausforderungen Argentiniens ein Blick in die Geschichte. Zunächst ein Blick in die eigene. Hier bietet sich als Fallstudie für die neue Regierung insbesondere die Regierungszeit von Carlos Menem und seines Wirtschaftsministers Domingo Cavallo an. Sie setzten in den neunziger Jahren ein umfassendes Stabilisierungsprogramm um, das zunächst erfolgreich die Hyperinflation bekämpfte und die Wirtschaft liberalisierte, letztlich aber durch einen zu rigiden Currency Board zum US-Dollar scheiterte, was interessante Lehren für eine Dollarisierung in Argentinien bietet.
Auch international gibt es Fallstudien, deren Analyse lohnt:
- Vor genau 100 Jahren führte der liberale Reichskanzler Gustav Stresemann in Deutschland ein erfolgreiches Austeritätsprogramm mit einer radikalen Währungsreform und drastischen Kürzungen der öffentlichen Ausgaben durch und integrierte Deutschland nach den Wirren des 1. Weltkrieges wieder in die internationale Gemeinschaft einschließlich derer Kapitalmärkte – auch wenn dies nach seinem Tod und der Weltwirtschaftskrise nur für kurze Zeit andauern sollte.
- Bereits wenige Wochen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs setzte Ministerpräsident Leszek Balcerowicz in Polen ein ehrgeiziges Reformprogramm durch, um das Land mit einer schnellen und umfassenden „Schocktherapie“ vom Sozialismus zu befreien, die Wirtschaft zu stabilisieren und die Marktkräfte zu entfesseln. Seither hat sich Polen zu einer wirtschaftlichen Erfolgsstory in Europa entwickelt und viele osteuropäischen Länder hinter sich gelassen.
- Fernando Henrique Cardoso verschrieb sich in den neunziger Jahren als Präsident Brasiliens der Inflationsbekämpfung. Gleichzeitig modernisierte er das Bildungs- und Gesundheitswesen und führte ein System direkter Transferzahlungen für die Bedürftigsten ein. Er steht für ein Modell, das wirtschaftlichen Erfolg mit moderner, effizienter Sozialpolitik verbindet.
Diese – exemplarischen – Fallstudien können für Argentinien lehrreiches Anschauungsmaterial liefern, dass Stabilisierung und Wachstum möglich sind, aber auch eine Wirtschaftspolitik aus einem Guss erfordern, die zudem den sozialen Zusammenhalt nicht vernachlässigen darf.
- Fokus auf eigene argentinische Stärken statt Traum vom „Irland Südamerikas“
Sowohl von Milei als auch von anderen Spitzenpolitikern Argentiniens wird immer wieder Irland als Vorbild für Argentinien genannt. Milei verweist, statistisch korrekt, in seinen Reden darauf, dass das Pro-Kopf-BIP Irlands 50% höher ist als jenes der USA. Zweifelsohne ist Irland ein Beispiel für ein Land, dass sich von einem „Armenhaus“ Europas in den achtziger Jahren zu einem international erfolgreichen Standort mit imponierenden Wachstumsraten entwickelt hat. Dennoch eignet sich Irland nicht als Vorbild für Argentinien. Nicht nur, weil auch Irland Herausforderungen hat (z.B. starke Abhängigkeit von ausländischen Investoren, kleiner Binnenmarkt, angespannter Immobiliensektor). Entscheidender ist, dass der wirtschaftliche Aufschwung Irlands seit dem Beitritt des Landes zur EU 1973 wesentlich unterstützt wurde durch erhebliche Strukturfondsmittel aus Brüssel. Irland nutzte die hiermit einhergehende fiskalische Entlastung geschickt für niedrige Körperschaftsteuersätze in Höhe von rd. 10% und schaffte es so, ausländische Investitionen, insbesondere aus den USA im Technologie-, Pharma- und Finanzsektor, anzuziehen. MERCOSUR ist aber (noch) nicht die EU, und so gibt es auch keine Strukturfondsmittel für Argentinien aus Montevideo, dem Sitz von MERCOSUR. Irland hat zudem zuletzt erheblich profitiert vom Brexit, weil es seitdem (neben Malta) das einzige englischsprachige Land der EU ist. So nutzen nun viele Unternehmen aus Drittstaaten Irland statt Großbritannien, um von der Freizügigkeit und dem „Passporting“ des Binnenmarktes zu profitieren. Einen solchen „Windfall Profit“ wie den Brexit gibt es für Argentinien ebenfalls nicht. Zudem erfreut sich die spanische Sprache zwar wachsender Beliebtheit, trotzdem ist die „Lingua franca“ der (Geschäfts-)Welt Englisch.
Stattdessen sollte sich Argentinien auf seine eigenen Stärken besinnen, über die es auch im wahrsten Sinne reichhaltig verfügt mit seinen Ressourcen im Energie- und Rohstoffsektor und – leider keine Selbstverständlichkeit in der Region und global – einer gefestigten Demokratie ohne militärische Konflikte in der Nachbarschaft. Hinzu kommt eine (relativ) junge und für lateinamerikanische Verhältnisse gut ausgebildete Bevölkerung mit einer hohen Technologieaffinität. Einige der argentinischen Start up „Einhörner“ mit einer Marktbewertung von mehr als 1 Milliarde USD sind auch international erfolgreich. Nicht umsonst wirbt Milei bei seinen zahlreichen Besuchen im Silicon Valley für Investitionen aus dem Technologiesektor, wo er Argentinien zu einem globalen Zentrum auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz entwickeln will. Allerdings ist hier kritisch anzumerken, dass dies ausdrücklich ohne eine angemessene Regulierung und Wettbewerbspolitik erfolgen soll mit dem Risiko eines „Race to the bottom“ mit potenziell negativen Effekten für die gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrtseffekte, die langfristige Innovationsfähigkeit des Sektors und die – weltweit durch Kriminelle und autoritäre Regime – immer stärker gefährdete Cybersicherheit.
Mit einer auf nachhaltige Stabilisierung und Wachstum ausgerichteten Wirtschaftspolitik, die den sozialen Zusammenhalt nicht vernachlässigt, und als international verlässlicher und verantwortungsbewusst agierender Partner bietet sich Argentinien die Chance, an den glorreichen Zeiten vom Ende des 19. Jahrhunderts anzuknüpfen, wo es das reichste Land der Welt und Sehnsuchtsort für viele Europäer war („Reich wie ein Argentinier“). Argentinien hat alle Chancen, es muss es nur nutzen!
Prof. Dr. Karl-Heinz Paqué ist Vorstandsvorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Dr. Hans-Dieter Holtzmann leitet das Stiftungsbüro in Buenos Aires.