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Europapolitik
Deutsch-französischer Tag: Die Zukunft Europas hängt von unserer gemeinsamen Stärke ab

Der französische Präsident Emmanuel Macron und der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz

Der französische Präsident Emmanuel Macron und der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz.

© picture alliance/dpa/MAXPPP | Fred Dugit

Am heutigen deutsch-französischen Tag jährt sich nicht nur die Unterzeichnung des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages – besser bekannt unter Élysée-Vertrag – zum 61. Mal. Es ist mittlerweile auch der 5. Jahrestag des 2019 abgeschlossenen Vertrages von Aachen, der die deutsch-französischen Beziehungen seither auf eine neue Ebene stellt.

Élysée und Aachen unterscheidet vor allem ihr Zeitgeist und ihr Kontext. Der erste Freundschaftsvertrag stand noch ganz unter dem Eindruck zwei verheerender Weltkriege, in denen sich Deutschland und Frankreich als Erzfeinde auf dem Schlachtfeld gegenübergestanden hatten. Nach den Schrecken des Nazi-Regimes kam es zu einer langsamen Annäherung, die, begleitet von der Sehnsucht nach einer friedlichen Zukunft für Europa, bald den Abschluss eines gemeinsamen Vertrages ermöglichte. Mit diesem wurde die gegenseitige Aussöhnung schließlich auf eine festgeschriebene und besiegelte Grundlage gestellt. Seitdem sind Deutschland und Frankreich zu den beiden größten Volkswirtschaften der EU herangewachsen und haben ihre gegenseitigen Beziehungen über Schüleraustausche, Städtepartnerschaften sowie kulturelle und wirtschaftliche Verflechtungen immer weiter intensiviert. Durch diesen außergewöhnlichen Prozess der Aussöhnung sind beide Länder heute engste Partner und Freunde, die mittlerweile sogar in einem einzigartigen binationalen Parlament – der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung (DFPV) – tagen.

Man könnte sich also fragen: Wieso brauchte es am deutsch-französischen Tag 2019 noch einen Vertrag?

Wir erleben seit einigen Jahren eine beispiellose Aneinanderreihung an Krisen, die Deutschland, Frankreich und Europa vor ungekannte Herausforderungen stellt. Unsere freiheitlich-demokratischen Werte und Lebensweisen sehen sich immer größeren Bedrohungen ausgesetzt. Die russische Aggression gegen die Ukraine und der Terroranschlag der Hamas auf Israel stellen einen Angriff auf unser liberales Wertesystem dar. Die mögliche Rückkehr des Populisten Donald Trump ins Weiße Haus ist angesichts innenpolitischer Spannungen in den USA nicht auszuschließen und bringt eine Belastungsprobe für die transatlantischen Beziehungen mit sich. Wie können wir all diesen Herausforderungen begegnen? Ganz klar: Nur geeint im Verbund mit unseren europäischen Partnern und Freunden. Grundvoraussetzung und Triebkraft dafür ist - wie so oft - der deutsch-französische Motor.

Vertrag von Aachen: Herausforderungen und Chancen durch politische Neuausrichtung

Der Vertrag von Aachen bietet eine Grundlage, um die Kooperation in allen Politikbereichen auszuweiten. Neben der Energie-, Klima oder Handelspolitik ist das ganz besonders im Außen- und Sicherheitsbereich nötiger und wichtiger denn je, für den der Vertrag einige Weiterentwicklungen bereithält. Der russische Krieg gegen die Ukraine sollte uns eine Mahnung sein, mehr und vor allem koordinierter in unsere Verteidigungsfähigkeiten und damit den Schutz der Bürgerinnen und Bürger zu investieren. Deutschland und Frankreich müssen hier als gutes Beispiel für unsere europäischen Partner vorangehen und gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungsprojekte vorantreiben.

Heute, an diesem deutsch-französischen Tag, müssen wir aber auch Farbe bekennen: Aktuell scheinen sich Deutschland und Frankreich trotz der engen, freundschaftlichen Beziehungen manchmal buchstäblich nicht mehr zu verstehen. Seien es festgefahrene Rüstungsprojekte wie FCAS, der monatelange Streit um die EU-Strommarktreform, das nachlassende Interesse am Erlernen der jeweiligen Partnersprache oder die Schließungen von Goethe-Instituten in Frankreich, die trotz finanzieller und geopolitisch-strategischer Beweggründe bei unseren Nachbarn für Irritationen sorgten. Um wieder gegenseitiges Verständnis aufzubauen, müssen wir mit aller Kraft unsere unterschiedlichen Standpunkte erklären, Missverständnisse ausräumen und Gemeinsamkeiten ausloten.

Die aktuelle Regierungsumbildung in Frankreich bietet erhebliches Potenzial, um neuen Schwung in das deutsch-französische Verhältnis zu bringen. Als erfahrener Politstratege und jüngster Premierminister Frankreichs könnte Gabriel Attal den Beziehungen beider Länder eine fortschrittsorientierte Neuausrichtung geben und diese auch für jüngere Generationen attraktiv machen. Gleichzeitig haben Verkehrsminister Wissing, der das 49€-Ticket mit Frankreich europäisch umsetzen will, oder Justizminister Buschmann, der die gemeinsame Kabinettsklausur in Hamburg mit einer EU-Bürokratieentlastungsinitiative beider Länder geprägt hat, sehr gute Beziehungen zu ihren französischen Amtskollegen  - und füllen so die deutsch-französische Freundschaft auf Regierungsebene mit Leben.

Lebendige Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich

Als Vorstandsmitglied der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung und Deutsch-Französin sind mir manch unterschiedliche Sichtweisen und historisch gewachsene Grundverständnisse bestens bekannt. In der DFPV können wir uns dennoch immer wieder auf gemeinsame Standpunkte und wegweisende Initiativen einigen, wie die grenzüberschreitende Nutzung des Kulturpasses, die Förderung der Partnersprache oder die Annäherung der gemeinsamen Diplomatie im Nahost-Konflikt. Der Austausch zwischen Deutschland und Frankreich ist hier keine Symbolik, sondern gelebter Alltag.

Zwischen 1963 und 2019, zwischen Élysée und Aachen konnte die deutsch-französische Freundschaft gedeihen, hat so manche Hürden überwunden und steht heute sinnbildhaft für das europäische Friedensprojekt. Der 22. Januar ist für mich daher vor allem ein Tag der lebendigen Freundschaft. Ein Tag, an dem wir alle mit Wertschätzung auf das Erreichte schauen, kritische Debatten über Herausforderungen der Gegenwart anstoßen und damit die Weichen für die Zukunft des deutsch-französischen Tandems stellen sollten. Trotz oder gerade wegen aller Turbulenzen und Unwägbarkeiten ist der Austausch beider Länder heute wichtiger denn je.

Sandra Weeser ist Mitglied des Deutschen Bundestages (FDP) und Vorstandsmitglied der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung. Dort leitet sie als Ko-Koordinatorin die AG Außen- und Sicherheitspolitik. Zudem gehört sie als stellv. Mitglied dem Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union an.