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Liberalismus
Blick zurück nach vorn

Liberalismus der Lebenschancen - Tübinger Perspektiven auf den Fortschritt
Foto von David Hertle auf Unsplash
© Foto von David Hertle auf Unsplash

Der Begriff der Lebenschancen durchzieht das vielfältige Werk des liberalen Soziologen Ralf Dahrendorf. Um die „aktuellen Baustellen eines leistungsfähigen Liberalismus der Lebenschancen“ ging es nun bei einer von der Reinhold-Maier-Stiftung und der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit gemeinsam veranstalteten Tagung in Tübingen. Ein weites Feld wurde beackert – ob die Saat aufgeht, wird sich zeigen.

Verkürzter Vulgärliberalismus?

Die Frage der jungen FNF-Stipendiatin kommt ungefähr zur Hälfte der Tagung, unerwartet, aber direkt: Ob man denn nun, möchte sie wissen, derzeit einen verknappten, verkürzten „Vulgärliberalismus“ erlebe, der sich auf nur wenige Aspekte des politisch-philosophischen Angebots des politischen Liberalismus in Deutschland beschränke und andere, wichtige Aspekte auslasse? Nein, antwortet Ludwig Theodor Heuss, Vorsitzender des Kuratoriums der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit: Gerade Veranstaltungen wie diese seien geeignet und notwendig, um den Vorwurf einer Verkürzung, oder gar Vulgarisierung des Liberalismus, wie man ihn derzeit öfters vernehmen müsse, zu widerlegen.

Prof. Dr. Ludwig Theodor Heuss, Vorsitzender des Kuratoriums der FNF

 

Prof. Dr. Ludwig Theodor Heuss, Vorsitzender des Kuratoriums der FNF

Unterschied heißt Freiheit

Wohl wahr. Mit beträchtlicher inhaltlicher Spannbreite wurde im Ratssaal in Tübingen über „Perspektiven auf den Fortschritt“ diskutiert, aufgehängt am Dahrendorfschen Begriff der „Lebenschancen“. Aber gerade in den Zeiten der selbsternannten „Fortschrittskoalition“ sehen sich die Unterstützerinnen und Unterstützer des politischen Liberalismus von der einen Seite für zu viel liberalen Grundsatz, von der anderen Seite für die Vernachlässigung liberaler Prinzipien beschimpft. Da ist dann schnell der Liberalismus die Ideologie der Porsche-Fahrer, der Besitzenden, der Gesellschaftsfeinde, der Spalter – Vorurteile haben oft ein langes Leben. Gerade, wenn sie nicht zutreffen und nicht konsequent widerlegt werden.

Michael Theurer (FDP), Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Digitales und Verkehr

Michael Theurer (FDP), Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Digitales und Verkehr

Eine erfreulich große Zahl an Interessierten kam nun in Tübingen zu einer Tagung zusammen, die den Blick öffnete für die geistigen Fundamente eines politischen Liberalismus, der sich vornimmt – so Dahrendorf – „die Vielfalt der Lebenschancen des Einzelnen zu vergrößern“, und der den Unterschied will, weil Unterschied Freiheit heißt. Dabei ist das Modell der Lebenschancen, wie es Dahrendorf in der Folge Max Webers vertrat, kein überaus schwieriges Konzept: „Lebenschancen sind Gelegenheiten für individuelles Handeln, die sich aus der Wechselbeziehung von Optionen un Ligaturen ergeben“, schrieb er 1979. Optionen sind dabei Handlungsmöglichkeiten in konkreten Situationen, die den einzelnen Menschen zur Verfügung stehen. Und diese Optionen wiederum stehen in Beziehung zu „tiefen Bindungen, deren Vorhandensein den Wahlchancen Sinn“ gibt.

Prof. Dr. Sabine Döring, Staatssekretärin im Bundesministerium für Bildung und Forschung

Prof. Dr. Sabine Döring, Staatssekretärin im Bundesministerium für Bildung und Forschung

Ein leistungsfähiger Liberalismus der Lebenschancen

Der Mensch wählt also immer zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten, deren Geeignetheit er nach seinen persönlichen Bindungen bewertet und entscheidet. Aufgabe der Politik ist es, könnte man sagen, den Menschen dabei einen stabilen Ordnungsrahmen zu geben und ihnen ansonsten möglichst wenig im Weg zu stehen. Deshalb ist das Konzept gerecht verteilter Lebenschancen einer der besonderen Aspekte, die den Liberalismus von eher bewahrenden, oder aber eher planenden Ideologien unterscheiden.

Philippa Sigl-Glöckner, Direktorin Dezernat Zukunft, Berlin

Philippa Sigl-Glöckner, Direktorin Dezernat Zukunft, Berlin

Vorwürfe über einen verkürzten, gleichsam amputierten Liberalismus, wie sie in Zeiten der selbsternannten „Fortschrittskoalition“ mit all ihren Kompromissnotwendigkeiten gegenüber den Freie Demokraten gemacht werden, lassen sich – so eine Erkenntnis aus der Tagung – gut widerlegen, wenn man es denn nur ernsthaft versucht. Die Agenda der Tagung dekliniert, mit prominent und kenntnisreich besetzten Podien, die einzelnen Felder dazu, also die „Baustellen eines leistungsfähigen Liberalismus der Lebenschancen“, sorgsam und stringent durch: Wie werden Kinder durch Bildung, wie werden Menschen durch Lebensorte oder bürgerschaftlichen Zusammenhang freiheitsfähig? Welche Institutionen befördern, welche behindern Lebenschancen? Wie muss sich eine lernende Demokratie gestalten, damit sie Gemeinwohl und Lebenschancen wahrt und fördert? Was ist die „positive Freiheit“, und warum erhöht sie Lebenschancen? Warum ist die soziale Marktwirtschaft der ideale Ort zur Verwirklichung von Lebenschancen für einen selbst, wie für andere? Gibt es nur den einen Fortschritt, oder gibt es die Fortschritte? Ist Deutschland fit für die neuen Lebenschancen durch KI und wirtschaftlichen Wandel? Müssen wir Lebenschancen von heute einschränken, um die Lebenschancen von morgen zu schützen?

Dr. Christopher Gohl, Mitglied des Verwaltungsrates der Reinhold-Maier-Stiftung, Vorsitzender der Kommission Freiheit und Ethik der FDP

Dr. Christopher Gohl, Mitglied des Verwaltungsrates der Reinhold-Maier-Stiftung, Vorsitzender der Kommission Freiheit und Ethik der FDP

Alles Leben ist Problemlösen

Das alles sind Fragen, derer sich ein moderner, umfassender Liberalismus der Lebenschancen annehmen muss – und es gibt noch mehr. Die Mühen der täglichen Problembearbeitung in einer Regierungskoalition sind das Eine. Alles Leben ist Problemlösen, schrieb Karl Popper, das große Vorbild Ralf Dahrendorfs. Und natürlich zieht derjenige, der ein Problem aktuell angeht und in seinem Sinne löst, den Zorn und den Ärger derer auf sich, die sich von dieser konkreten Problemlösung nicht vertreten fühlen. Deshalb ist es so wichtig, der Problemvielfalt mit einem größer dimensionierten, weiter gefassten Lösungsansatz zu begegnen, wie ihn das Konzept der „Lebenschancen“ bietet.

Annett Witte, Hauptgeschäftsführerin der FNF

Annett Witte, Hauptgeschäftsführerin der FNF

Geschichte, so schrieb Dahrendorf, hat „weder a priori noch auch nur a posteriori einen Sinn“, diesen Sinn müssen die Menschen ihr geben – und er kann, so Dahrendorf, nur darin liegen, „mehr Lebenschancen für mehr Menschen zu schaffen.“ Das ist eine Chance für die Liberalen.