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Wirtschaft
Negative Zinsen!

Ist Draghi wirklich an allem schuld? Volkswirte hegen Zweifel.

Durch die letzte Zinssenkung der Europäischen Zentralbank (EZB) hat deren Präsident Mario Draghi den vereinten Zorn der Bankenwelt auf sich gezogen. Kurz vor Ende seiner achtjährigen Amtszeit machen ihn viele Manager von Kreditinstituten verantwortlich für den langfristigen Trend in Richtung niedriger, real sogar negativer Renditen. Zu Unrecht! So sagen zunehmend Volkswirte aus der akademischen Welt. Sie sehen realwirtschaftliche Veränderungen im Spar- und Investitionsverhalten als Ursache niedriger Zinsen. Unser Vorstandsvorsitzender Professor Karl-Heinz Paqué, selbst Volkswirt, teilt diese Deutung der Lage. Er erklärt im Folgenden warum.

Seit Jahrzehnten veröffentlicht das britische Magazin The Economist wöchentlich seine „Economic & Financial Indicators“, und zwar für eine große Auswahl von über 40 Nationen weltweit. Auch die langfristigen Zinssätze werden ausgewiesen – als Rendite zehnjähriger Staatsanleihen. Seit Jahren sind diese überall auf einem historischen Tief, wenn man einmal von wenigen Ländern mit chronischen Bonitätsproblemen absieht (wie zum Beispiel Argentinien, Pakistan und die Türkei). In zehn von den derzeit 42 ausgewiesenen Nationen fallen die Zinsen derzeit sogar negativ aus. Berechnet man mit den aktuellen und fast überall niedrigen Inflationsraten sogenannte Realzinsen als Differenz von Umlaufrendite und Preisinflation, so liegen diese in fast allen OECD-Ländern unter null – und im Rest der Welt nur sehr moderat darüber.

Kein Zweifel also, dass es sich bei den niedrigen Zinsen um ein globales Phänomen handelt. Allein dies setzt ein großes Fragezeichen hinter das hierzulande übliche „Draghi-Bashing“: Was kann der EZB-Chef denn dafür, wenn in Nicht-Euroländern wie Dänemark, Schweden und der Schweiz sowie in Japan die Zinsen negativ sind und in Australien, Kanada und den USA die Realzinsen unter null liegen – bei noch positiven, aber sehr niedrigen Nominalzinsen, und dies alles seit Jahren? Offenbar muss es – jenseits der aktuellen Geldpolitik der jeweiligen Länder beziehungsweise Währungsräume – tiefe Gründe in den Kapitalmärkten geben, die das Nominal- und Realzinsniveau weltweit nach unten drücken.

Eine Vielzahl von Volkswirten macht sich darüber Gedanken und streitet untereinander. Immer mehr Ökonomen, darunter auch der Verfasser dieser Zeilen, sehen dabei die Ursachen im realen – und nicht im monetären – Teil der Wirtschaft. Im Fokus stehen in ihrer Deutung langfristige Veränderungen von Angebot und Nachfrage am Kapitalmarkt, also Ersparnisse und Investitionen.

Auf der Seite der Ersparnis wird darauf verwiesen, dass die fast weltweite Alterung der Bevölkerung (nur Afrika ist da noch eine Ausnahme!) für eine globale Erhöhung der Sparbereitschaft sorgt, und zwar in den unterschiedlichsten Formen. Überall gewinnt der Konsum in der Zukunft im Vergleich zur Gegenwart an Gewicht, nicht zuletzt, weil die Lebenserwartung allerorten gestiegen ist und weiter steigt – und damit auch die erwartete lange Phase des Entsparens im Alter, wenn kein regelmäßiges Arbeitseinkommen mehr anfällt. Dies gilt heute nicht nur für Europa und Nordamerika, sondern auch für riesige, bevölkerungsreiche Länder wie China und Indien.

Demgegenüber gibt es auf der Seite der privaten Investitionen einen eher abnehmenden Kapitalbedarf, nicht zuletzt wegen der neuen Informationstechnologen, die dafür sorgen, dass sowohl die industrielle Fertigung als auch die Bereitstellung moderner Dienstleistungen mit immer weniger großen, schweren und teuren Maschinen auskommen. Die alte Welt von Stahl und Autos wird transformiert in die neue Welt der Computersteuerung – bis hin zu Smartphone und iPad. Die Giganten des heutigen Wirtschaftswachstums sind Amazon, Facebook, Google und Twitter, nicht mehr Krupp und Thyssen oder auch BMW und VW.

Soweit das stilisierte Bild der „Kapitalschwemme“. In ihm geben viele Details Anlass zur kontroversen Diskussion, aber der Kernpunkt eines grundlegend veränderten Kapitalmarkts in Richtung niedriger oder gar negativer Zinsen ist unter Anhängern dieser Sicht unstrittig. Wo genau, wenn überhaupt, ein neues langfristiges Gleichgewicht erreicht wird, weiß niemand. Aber je länger die Niedrigzinsphase dauert, und zwar ohne erkennbare Steigerung der ebenfalls niedrigen Preisinflation, umso mehr spricht dafür, dass monetäre Ursachen keine wesentliche Rolle spielen.

Wenn diese Diagnose im Kern zutrifft, hat sie weitreichende Konsequenzen. Sie dreht gewissermaßen die Kausalität am Kapitalmarkt um: Nicht die Zentralbanken bestimmen auf Dauer das Zinsniveau, sondern der Markt selbst tut es – und die Zentralbanken können nicht viel mehr leisten als nolens volens dem Trend zu folgen. Denn sonst riskieren sie eine Deflation, im Extremfall gar eine Depression der Wirtschaft. Es gibt eine Art „natürlichen“ Zins, von dem niemand genau weiß, wo er liegt, aber alle Indikatoren des Marktes für langfristige Anlagen deuten darauf hin, dass er im Trend kräftig gesunken ist – eben als „natürliche“ Folge von Angebots- und Nachfrageveränderungen. Draghi und seine weltweiten Kolleginnen und Kollegen in den nationalen Zentralbanken handeln somit eher machtlos als schuldhaft.

Gibt es einen Ausweg aus dieser Lage, die für Sparer so deprimierend ist?

Möglicherweise ja, aber nur bei guter Wirtschaftspolitik. Der Staat muss alles tun, um die Rentabilität der Investitionen zu erhöhen: durch Steuersenkungen und öffentliche Investitionen in die Standortqualität und Infrastruktur des Landes; durch Abbau jedweder Investitionshemmnissen von unnötiger Bürokratie bis übermäßiger Regulierung von Märkten für Industriegüter und Dienstleistungen; durch stärkere Öffnung des Risikokapitalmarktes für institutionelle Anleger wie große Pensionsfonds; durch Förderung von Start-ups und Zuwanderung qualifizierter Gründer und Arbeitskräfte; etc. etc.

All dies ist möglich. Und in einem weitgehend inflationsfreien Umfeld niedriger oder gar negativer Zinsen könnte es sogar ohne große Stabilitätsrisiken zu einem besonders kräftigen Wachstumsimpuls führen. Dafür braucht es aber politischen Mut. Wer den nicht hat, sollte nicht auf die Zentralbanken schimpfen.