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Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

Gastbeitrag
Über die Grenze zwischen liberaler Gesellschaftskritik und Verschwörungstheorie

Ein Gastbeitrag für „DIE WELT“
Paqué
Karl-Heinz Paqué © Photothek / Thomas Imo

Dieser Artikel erschien am 19.12.2020 in der Zeitung „DIE WELT“.

Dank sei Andreas Rosenfelder! Er hat mit seinem jüngsten Beitrag über die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit eine Diskussion angestoßen, die überfällig ist. Thema: Wo beginnt Verschwörungstheorie? Und welche Verantwortung trägt dabei eine der Aufklärung verpflichtete Bildungsinstitution? Anlass war das Bedauern der Stiftung darüber, dass in einer ihrer Veranstaltungen als Moderator der Schriftsteller Dr. Gunnar Kaiser eingeladen war. Die Stiftung räumte ein, dass dies ein Fehler gewesen sei, denn Gunnar Kaiser vertrete Verschwörungstheorien, die zum Gedankengut des Rechtspopulismus gehören – und aus diesem Grund sei er nicht geeignet, als Moderator bei Veranstaltungen einer liberalen Stiftung aufzutreten. Andreas Rosenfelder bemängelt diese Entscheidung, weil er in Kaisers Weltbild nichts Anderes als vertretbare Themen einer radikal-liberalen Gesellschaftskritik sieht.

Dem widerspreche ich nachdrücklich. Um die Demarkationslinie zwischen „liberaler Gesellschaftskritik“ und „Verschwörungstheorie“ klar zu erkennen, eignet sich nichts besser als die derzeitige Corona-Diskussion. Startpunkt ist die liberale Position, wie sie sich im politischen Raum in den letzten Monaten dargestellt hat. Die Freien Demokraten und die liberale Intellektuellenfamilie haben stets die Existenz einer gefährlichen Pandemie wegen des extrem hohen Ansteckungspotenzials durch das Corona-Virus anerkannt. Sie haben auch das fundamentale Dilemma des Staates zum Thema gemacht – zwischen Wahrung und Einschränkung der Freiheitsrechte. Sie haben dabei stets das Gebot der Verhältnismäßigkeit der Mittel sowie deren parlamentarische Behandlung angemahnt. Und sie haben die Bundesregierung scharf kritisiert, wenn dagegen verstoßen wurde. Ebenso kritisieren sie – auch aktuell – das Fehlen einer klugen Corona-Gesamtstrategie. In allem Wesentlichen sehen sich dabei im Einklang mit Philosophen wie Julian Nida-Rümelin, der Ähnliches beklagt. Sucht man einen Begriff dafür, könnte man die liberale Position unter der Überschrift „konkrete Kritik“ subsumieren.

Ganz anders Gunnar Kaiser. Er begibt sich in seinen Corona-Einlassungen niemals auf die Ebene des konkreten pandemischen Befundes. Die Dimension des Gefahrenpotenzials einschließlich der ethischen Zwangslage einer Triage wird nicht zum Thema gemacht. Demgegenüber werden die (selbstverständlich vorhandenen) Risiken für Familien und Kinder durch Freiheitsbeschränkung mit blumigen Beispielen geschildert, aber weder philosophisch noch politisch den Folgen einer verbreiteten Praxis der Triage gegenübergestellt. Mit liberaler Abwägung von Rechten hat dies nichts zu tun.

Von großer Tragweite ist dabei, wie Gunnar Kaiser seine Sicht der Dinge in einen größeren Zusammenhang einbettet. Hier beginnt die Welt der Verschwörungstheorie. Er sieht bei der Corona-Pandemie wie auch bei globalen Klimathemen ein Kartell von Großkonzernen, Technokraten, Wissenschaftlern und internationalen Agenten wie dem Weltwirtschaftsforum, der Bill- und Melinda-Gates-Stiftung und der Weltgesundheitsorganisation am Werk, die sowohl die Demokratie als auch die Marktwirtschaft aushebeln wollen – zugunsten einer Diktatur samt Planwirtschaft, die zur allgemeinen politischen Unterjochung und wirtschaftlichen Verarmung führt. Auch Kommunisten aus Sowjetzeiten spielen dabei eine Rolle. Dazu erklärt Kaiser im Rahmen eines ausführlichen Interviews mit der russischen Nachrichtenagentur Sputnik News, vor dessen Propaganda übrigens die Bundesregierung mittlerweile offiziell warnt:

„Die Theorie besagt, dass die Sowjetkommunisten im Grunde den Westen unterwandern wollen. Das machen sie auf kultureller Ebene, indem sie in die Medienhäuser, in die Universitäten und in die Schulen gehen und das machen sie auch durch einen stetigen Prozess der Demoralisierung und Destabilisierung, der über Jahrzehnte geht. Und die dritte Stufe dieses Prozesses der sowjetischen Langzeitstrategie, den Westen so zu unterminieren, dass er letztendlich freiwillig zum Kommunismus konvertiert (…) ist ein Schockmoment.“

Dann wird es laut der Theorie zu Bürgerkriegen kommen, so wie es „KGB-Überläufer in den Achtzigerjahren“ vorausgesagt hätten. Letztendlich erkläre die sowjetische Langzeitstrategie auch die „Klimawandelthematik“ und das Aufkommen der Fridays-for-Future-Bewegung. Das sei laut Herrn Kaiser zwar eine Verschwörungstheorie, doch halte er ebendiese in einigen Teilen für „sehr plausibel“ und „eine Erklärung dafür, was so passiert“.

In einem schauerlich verstörenden 13-minütigen Video mit dem Titel „Die große Selbstzerstörung“ benutzt er als Aufhänger für seine Zukunftsvision die Geschichte der südafrikanischen Xhosa, die im 19. Jahrhundert dem Rat von Geistern folgten und ihr Vieh abschlachteten – und damit ihre Lebensgrundlage zerstörten. Sie taten dies im Glauben, dass ihr Opfer paradiesische Zustände hervorbrächte, was natürlich eine Illusion war. Kaiser zieht daraus eine Parallele zur Gegenwart, wobei es die Intellektuellen, das Finanzkapital und die Politikberater seien, die als Propheten des Untergangs die Zerstörung der Lebensgrundlagen empfehlen: als große Transformation, bei der Freiheitsrechte massiv eingeschränkt werden, ohne dass dies die Menschen so recht merken. Er fordert deswegen die verbleibenden kritischen Intellektuellen, die wie er das Spiel durchschauen, eindringlich zur Wachsamkeit auf.

Soweit eine Kostprobe von Kaisers Weltbild. Es hat nichts mit aufklärendem Liberalismus zu tun, auch wenn er gerne auf konstruierte Gewährsleute von Voltaire bis Dahrendorf zurückgreift. Natürlich ist eine Kritik an Vorstellungen von Großen Transformationen berechtigt und wird von Liberalen (einschließlich mir selbst) auch geübt. Aber sie darf eben nicht auf verschwörungstheoretischen Vorstellungen beruhen, sondern muss sich an faktengestützten Interpretationen orientieren.

So einfach ist das. Und deshalb wird Gunnar Kaiser nicht mehr von der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit als Moderator eingeladen. Wohlgemerkt: Er wird seine Botschaften weiterverbreiten, und das tut er ja auch mit beachtlichem Erfolg, wie zum Beispiel die mehr als 100.000 Zugriffe auf sein Video „Die große Selbstzerstörung“ belegen. Die Friedrich-Naumann-Stiftung engagiert sich weltweit für Medienkompetenz und gegen die Verbreitung von Desinformationen. Bei uns gibt es keinen Platz für Verschwörungstheoretiker, weder von rechts noch von links. Das wäre auch unvereinbar mit unserem Bildungsauftrag. Mit „Cancel Culture“ hat dies nichts zu tun, wohl aber mit weltanschaulichem Selbstbewusstsein des Liberalismus.

Dieser Beitrag erschien erstmalig am 18.12.2020 in der Welt.