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Türkei Bulletin
Haben die Beben auch die Politik in der Türkei erschüttert?

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hält eine Rede nach einem Treffen mit den vom Erdbeben betroffenen Menschen

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hält eine Rede nach einem Treffen mit den vom Erdbeben betroffenen Menschen.

© picture alliance / AA | Murat Kula

Am 6. Februar wurde die Türkei von zwei Erdbeben der Stärke 7,6 und 7,7 mit Epizentren in Kahramanmaraş, Elbistan und Pazarcık erschüttert. Bis zum 23. März 2023 stieg die Zahl der Erdbebenopfer allein in der Türkei auf 50.096. Die Zahl der nicht erreichbaren Mobilfunknutzerinnen und -nutzer in der Region lässt jedoch auf eine weitaus höhere Zahl schließen.

Hunderttausende Gebäude wurden bei dem Erdbeben beschädigt. Nach Angaben von Murat Kurum, Minister für Umwelt und Stadtplanung, sind 227.027 Gebäude in den vom Erdbeben betroffenen Provinzen eingestürzt, müssen sofort abgerissen werden oder sind schwer beschädigt. Es gibt etwa eine Million Menschen, deren Häuser durch das Erdbeben beschädigt wurden. Die Regierung hat damit begonnen, Wiederaufbauprojekte in den erdbebengeschädigten Regionen zu organisieren.

Das Erdbeben hatte auch schwere Auswirkungen auf die Wirtschaft. Die Strategie- und Haushaltsabteilung der Regierung gab bekannt, dass sich die wirtschaftlichen Kosten der Erdbeben auf 103,6 Milliarden Dollar belaufen. Neben der nationalen Wirtschaft ist auch die wirtschaftliche Belastung der Erdbebenopfer hervorzuheben, denn die Erdbeben ereigneten sich inmitten eines ungünstigen wirtschaftlichen Klimas. Der Dachverband der Türkischen Industriegewerkschaften (Türk-İş) hat die Armutsgrenze zum 30. Januar auf 29.875 Türkische Lira beziffert – der derzeitige Mindestlohn liegt bei 8.506 Lira. In diesem wirtschaftlichen Klima haben Hunderttausende ihre Häuser, Ersparnisse und Arbeitsplätze verloren. Diese Belastungen kommen zu den Schäden an der Volkswirtschaft noch hinzu.

Nach den Erdbeben wurde auch das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Institutionen erschüttert. Der Verkauf von Zelten durch den Roten Halbmond an die in der Region sehr aktive NGO Ahbap, die von Sänger Haluk Levent ins Leben gerufen wurde, und die unzureichende Organisation der Katastrophenschutzbehörde AFAD waren Gegenstand der öffentlichen Debatte.

Das Erdbeben hat auch die Gesellschaft tief getroffen. Viele Kulturveranstaltungen wurden abgesagt, und bei Sportwettbewerben zeigten die Zuschauer ihre Unterstützung für die Erdbebenregion. Bei einem Fußballspiel von Beşiktaş, das nach dem Erdbeben stattfand, warfen die Fans um 4.17 Uhr, dem Zeitpunkt des Erdbebens, Spielzeuge und Kuscheltiere auf das Spielfeld, welche an die Kinder im Erdbebengebiet geschickt wurden. Neben den Solidaritätsaktionen wurde aber auch gegen die Regierung protestiert. Während des Spiels von Fenerbahçe gegen Konyaspor riefen die Fans auf den Tribünen die Parole "Rücktritt der Regierung". Im Anschluss an die Proteste wurde gegen Fenerbahçe ein Verbot verhängt, das seine Fans am Besuch des Spiels hinderte. Am 2. März wurde das Verbot für Fenerbahçe-Fans wieder aufgehoben, die öffentlichen Proteste gingen jedoch weiter. Am 40. Tag nach dem Erdbeben organisierten Frauen in Hatay einen Marsch zum Gedenken an die Opfer des Erdbebens. Während des Marsches wurden Slogans wie "Wir verzeihen nicht, wir vergessen nicht" skandiert.

In der Politik sieht es allerdings etwas anders aus. In einer Umfrage, die wir drei Wochen nach den Beben durchführten, hatte die führende AKP vier Prozentpunkte an Unterstützung verloren. Dieselbe Umfrage zeigte, dass die Gesellschaft die Regierung für die unzureichende Reaktion des Staates nach dem Erdbeben verantwortlich machte. Dennoch wird die türkische Politik nach wie vor von der Identitätspolitik bestimmt, und für unentschlossene Wähler ist die Wirtschaft das wichtigste Entscheidungskriterium, nicht das Katastrophenmanagement.

Jenseits der Tagespolitik hat das Erdbeben eine längerfristige Bruchlinie in der türkischen Gesellschaft offenbart. Die Handlungsfähigkeit des Staates wird ernsthaft in Frage gestellt, da die Türkei ein aktiv gefährdetes Erdbebengebiet ist und Erdbeben derselben Größenordnung auch in Zukunft zu erwarten sind. Der Glaube an die Leistungsfähigkeit der politischen Akteure in der Türkei wurde einmal mehr erschüttert.

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