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NATO
Neue NATO-China-Strategie: Nur der Anfang eines langen Weges

Jens Stoltenberg
NATO-Generalsektretär Jens Stoltenberg auf einer Pressekonferenz zum Umgang mit China und Russland © picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Olivier Hoslet

In den letzten Jahrzehnten hat sich China schnell von einem Schwellenland zu einer globalen Macht entwickelt. Dieser Prozess hat sich vor allem unter Staats- und Parteichef Xi Jinping beschleunigt, der auf dem 19. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) 2017 eine neue Ära verkündete. Xis Rede zum 100. Geburtstag der KPCh hat deutlich gemacht, wo sich die Volksrepublik heute verortet: „Wir müssen die Modernisierung der Landesverteidigung und der Streitkräfte beschleunigen. Ein starkes Land muss ein starkes Militär haben, denn nur dann kann es die Sicherheit der Nation garantieren. Als die Partei in den gewaltsamen Kampf verwickelt war, erkannte sie die unumstößliche Wahrheit, dass sie die Waffe in die Hand nehmen und eine eigene Volksarmee aufbauen muss.“

Innenpolitisch ist Peking ideologischer und autoritärer geworden. Dies zeigt sich nicht nur in den massiven Menschenrechtsverletzungen, die an den Uiguren in der Provinz Xinjiang begangen werden, oder der gewaltsamen Unterdrückung der Zivilgesellschaft in Hongkong mit der de facto Aushebelung des Sonderstatus mit dem neuen Sicherheitsgesetz. Die wohlklingende „Modernisierung aller Lebensbereiche“ hat mit dem Social-Credit-System zu einem orwellschen Überwachungssystem geebnet.

Regional macht die chinesische Führung dem demokratischen Taiwan mit beständigen rhetorischen Aggressionen, Desinformationskampagnen, und militärischen Provokation zu schaffen, und seine Marine tritt im von Peking beanspruchten Südchinesischen Meer zunehmend aggressiv auf. 

Weltweit schärft China sein Profil sowohl als Militärmacht als auch als Softpower. Peking baut seine Flugzeugträgerflotte rapide aus und steckt hohe Summen in ihre Modernisierung, im Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen blockiert China regelmäßig Sanktionen gegen andere Diktaturen mit seinem Veto unter Verweis auf die eigene Politik der Nicht-Einmischung. Seine wirtschaftliche Macht spielt das Land inzwischen weit über Südasien hinaus aus, zum Beispiel mit der Belt-and-Road-Initiative. Das Gegenprojekt haben die transatlantischen Partner schlicht verschlafen.

Paradigmenwechsel bei der NATO – nicht nur Russland ist ein Systemrivale

Dass die Nato sich nun im Rahmen ihres Communiqués zum Treffen der Allianz in Brüssel am 14. Juni deutlich zu diesen von China ausgehendenden Herausforderungen und Bedrohungen für die freiheitlich-demokratischen Staaten äußerte, zeugt davon, dass Peking nicht nur als Systemrivale, sondern auch als reales Sicherheitsrisiko ernst genommen wird.

Auf der einen Seite handelt es sich um eine Ansage an die chinesische Führung: Wir, die transatlantischen Partner, sehen ganz genau hin. Auf der anderen Seite gilt es nun, diese Absichtserklärungen mit konkreten Handlungsoptionen zu erweitern. Die Erarbeitung einer echten neuen China-Strategie im Rahmen des neuen Strategischen Konzeptes der Nato muss zeitnah erfolgen und sollte konkrete Antworten auf die im Communiqué erwähnten Punkte anbieten. Dass China sich in naher Zukunft als konstruktiver Verhandlungspartner erweisen wird, ist mit Blick auf sein Handeln der vergangenen Jahre und seiner öffentlich erklärten Zielsetzung, sich in die „Mitte der Weltbühne“ zu bewegen, nicht sonderlich realistisch. Es müssen daher neue Hebel im Umgang mit der chinesischen Führung gefunden und angesetzt werden. Dazu gehört, dass sich die Nato-Partner noch intensiver zu China abstimmen und ihre Allianzen mit Gleichgesinnten im Indo-Pazifik ausbauen müssen. Auch darf sich in Taiwan nicht wiederholen, was in Hongkong passiert. Dort haben wir gesehen, mit welcher Brutalität Peking bereit ist, seine Ziele umzusetzen.

Gleichzeitig bedeutet die Entwicklung einer neuen China-Strategie für die Nato auch, dass sie vor allem bündnisintern handlungs- und funktionsfähig bleiben muss: Mitgliedstaaten wie Deutschland müssen sich beispielsweise nicht nur klar zu ihrem Zweiprozentziel bekennen, sondern dieses auch umsetzen. Und wenn wichtige Partner wie Frankreich dieser bedeutenden Institution den Hirntod attestieren, dann muss dem Signal Beachtung geschenkt werden und die Partner müssen die Allianz schleunigst reanimieren. Denn jedes Zeichen der Schwäche wird in Peking registriert.

Klare Kante für freiheitlich-demokratische Werte

Doch in der großen Frage der Systemrivalität mit China geht es nicht nur um militärische Stärke und die Nato. Es geht auch um geschlossenes Auftreten, klare Kante für freiheitlich-demokratische Werte und wirtschaftliche Handlungsspielräume. Doch einen solchen umfassenden strategischen Ansatz auf allen Ebenen - politisch, wirtschaftlich, militärisch, gesellschaftlich - gibt es natürlich nicht umsonst. Aber mit Blick auf kurzfristige Gewinne dürfen nicht die mittel- bis langfristigen Schäden und Risiken ignoriert werden, die aktuell in Kauf genommen zu werden scheinen.

Fakt ist, eine militärische Auseinandersetzung mit China liegt weder im Interesse der Nato noch im Interesse der KPCh. Im Sinne der liberalen Demokratien gilt es jedoch, um jeden Preis zu verhindern, dass sich China zum das Weltgeschehen bestimmenden Hegemon aufschwingt. Die China-Strategie der Nato ist bei dieser Aufgabe ein wichtiger Baustein. Ohne weitere kohärente Maßnahmen der westlichen Wertegemeinschaft bleibt sie jedoch sinnlos. Denn die chinesische Bedrohung ist multidimensional: sowohl militärisch als auch weltanschaulich und wirtschaftlich. Daher muss ihr auf all diesen Ebenen entschieden entgegengetreten werden. Die geplante Nato-Strategie ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber nur der Anfang eines langen Weges. Die freiheitlich-demokratische Gesellschaftsordnung muss auf allen Ebenen verteidigt und gestärkt werden - das ist nicht nur Aufgabe der Liberalen, sondern aller Demokraten.

Bijan Djir-Sarai ist seit 2017 außenpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion und Vorsitzender der Landesgruppe NRW. Grundsätzlich wünscht sich der Liberale einen weniger naiven Umgang Deutschlands und Europas mit China.

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