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Gamechanger: Die Liberalen und die Anfänge der deutschen Umweltpolitik

Umweltpolitik
© Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

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Die Anfänge der Umweltpolitik in Deutschland

Ein singuläres Ereignis für die Anfänge der deutschen Umweltpolitik gibt es nicht. Kein Fridays for Future, kein BUND. Auch keine akute Umweltkrise ist erkennbar. Weder der Druck von Interessengruppen noch die gesellschaftspolitische Umweltdiskussion waren so weit fortgeschritten, dass Parteien diese für sich hätten nutzen können. Und trotzdem: Seit Ende der sechziger Jahre entwickelte sich der Umweltschutz zum eigenständigen Politikfeld in der Bundesrepublik. 1969 hatte noch keine Partei umweltpolitische Inhalte in ihrer Programmatik. In den  vorangegangenen Wahlkämpfen 1965 und 1969 hatte Umweltschutz keinerlei Rolle gespielt. Aber insbesondere eine Partei begann das Thema Umweltschutz näher ins Auge zu fassen und letztendlich auch maßgeblich voranzutreiben: die FDP unter Hans-Dietrich Genscher als Bundesinnenminister. Zwar wurden bereits Themen wie Wasserreinhaltung, Abfallbeseitigung, Naturschutz oder Landschaftspflege politisch thematisiert.

Allerdings fehlte die alle Themen umfassende Klammer der Umweltpolitik, welche eine breitgefächerte Programmatik und bereichsübergreifende Institutionen ermöglichte. Im Gegensatz zu späterer Umweltgesetzgebung, die oftmals auf akute Krisen reagierte (Waldsterben: Luftreinhaltung, Atomausstieg: Fukushima), fehlte ein solcher Anlass bei der Begründung der deutschen Umweltpolitik gänzlich. Der Begriff „Umweltschutz“ wurde durch eine Übersetzung von „environmental protection“ aus den USA importiert. Die USA befassten sich als erste mit der Umweltthematik. 

Die Vergiftung und die Verseuchung unserer Umwelt hat in einem bedrohlichem Maße zugenommen. Die Verschmutzung des Wassers, die Vergiftung der Luft, die Zunahme des Lärms und die unzureichende Abfall- beseitigung sind zu einer Gefahr für die Gesundheit unseres gesamten Volks geworden.

Beschluss, 20 o. Bundesparteitag der FDP vom 22. bis 24. Juni 1970 in Bonn

Ein liberaler Umweltminister

Am Anfang der deutschen Umweltpolitik stand Hans-Dietrich Genscher und mit ihm die Umorganisation der Bundesregierung. Genscher erhielt in seiner damaligen Funktion als Bundesinnenminister 1969 von Bundeskanzler Willy Brandt per Organisationserlass die Abteilung „Wasserwirtschaft, Reinhaltung der Luft, Lärmbekämpfung“, die ursprünglich im Bundesgesundheitsministerium angesiedelt war. Zwar war auch eine Verlagerung der Zuständigkeiten für Naturschutz und Landschaftspflege aus dem Bundeslandwirtschaftsministerium geplant, diese scheiterte jedoch am Widerstand des FDP-Bundeslandwirtschaftsministers, Josef Ertl, und wurde erst 1986 nach Tschernobyl realisiert. 

Genscher suchte nach einem Alternativnamen für die Abteilung und entschied sich für die „Abteilung U“. U stand für den in Deutschland noch unbekannten Begriff „Umweltschutz“. Für Genscher bot sich mit dem Besetzen der Umweltpolitik eine wichtige Chance. Die Umbenennung dieses sperrigen Abteilungsnamens zeigt, wie wichtig für Genscher dieser Programmatikbereich war. Durch den Wechsel zur SPD als Koalitionspartner sah sich die FDP einer parteiinternen Machtprobe gegenüber. Teile des nationalliberalen Flügels waren durch diesen Schritt verstimmt, und die FDP war auf der Suche nach einer neuen Identität. Die Umweltschutzthematik ermöglichte es, das neugewählte Image als gesellschaftsreformerische Partei inhaltlich aufzufüllen. Schließlich hatten die Liberalen im Wahlkampf damit geworben, „alte Zöpfe“ abzuschneiden.

Genscher begann sofort, die Programmarbeit stark voranzutreiben. Ziel war die Ausarbeitung eines Sofortprogramms für den Umweltschutz. Bei einer Klausurtagung in Bad Neuenahr sagte Genscher den beteiligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des BMI und den Ressorts, dass sie nicht eher nach Hause dürften, bis das Umweltprogramm fertig sei. Mit dem Sofortprogramm sollte die Öffentlichkeit auf den Umweltschutz aufmerksam gemacht werden, und es sollte schnell erreichbare Erfolge mit sich bringen. Deshalb wurden Gesetzesvorhaben angekündigt, die in der Ministerialverwaltung bereits vorbereitet waren. Dazu gehörten unter anderem das Bundes-Immissionsschutzgesetz, das Flug-lärmgesetz und das Abfallbeseitigungsgesetz. Die Ankündigung des Benzin-Blei-Gesetzes war dabei sehr innovativ. Das Gesetz begrenzte den Bleianteil in Ottokraftstoffen. Eine politische Forderung, die anschließend auch von der europäischen Ebene aufgegriffen und umgesetzt wurde. Bereits am 17. September 1970 wurde das Sofort-programm vom Bundeskabinett verabschiedet. Das eigentliche Umweltprogramm folgte im September 1971. Das Umweltprogramm gliederte die unter-schiedlichen Teile des Umweltschutzes, die es in der einen oder anderen Form schon vorher gab, in einen größeren Zusammenhang ein. Die so formulierten Leitlinien der Umweltpolitik tauchten in allen später vorgelegten Umweltprogrammen von Parteien oder Verbänden wieder auf. In seiner Amtszeit verwirklichte Genscher ein progressives Umweltprogramm, was auch lange Zeit nach ihm noch Maßstäbe setzt.   Der Grundstein deutscher Umweltpolitik wurde von Hans-Dietrich Genscher gelegt. 

Nach Auffassung der Bundesregierung hilft keine Kosmetik an Umweltproblemen, d.h. das Kurieren an Symptomen. Notwendig ist es, die drohende Umweltkrise an der Wurzel zu packen.

Hans-Dietrich Genscher

Wie kam der Umweltschutz zur FDP?

Die progressiven Umweltschutzideen innerhalb der Liberalen sind eng mit einem Namen verbunden und zwar mit Peter Menke-Glückert: der sogenannte „Umwelt-Papst der Liberalen“, der sich nie in den Vordergrund stellte und des-halb der Öffentlichkeit weithin unbekannt blieb. Während seiner USA-Aufenthalte kam Menke-Glückert mit der dort aufkeimenden Umweltbewegung in Berührung. Schnell er-kannte er als einer der ersten in Europa die gesellschafts-politische Bedeutung des Umweltschutzes und verfasste 1968 als Mitarbeiter der OECD seine „Zehn Gebote zur Umweltpolitik“. In diesen stellte Menke-Glückert einen  
sehr eindeutigen Zusammenhang zwischen menschlichem Handeln und Schäden an der Umwelt her. Eine Hypothese, die zu diesem Zeitpunkt noch  gänzlich unbekannt war. Peter Menke-Glückert verband mit Hans-Dietrich Genscher, die beide der LDP entstammten, eine enge Freundschaft. Deshalb ernannte Genscher seinen Studienfreund Ende 1970 zum Leiter des neugeschaffenen Referats Umweltkoordinierung. Die „Zehn Gebote“ hatten deutlichen Einfluss auf Genschers Umweltpolitik. So betonte er 1971 im Bundestag: 
„Umweltfreundlichkeit muss zu einem selbstverständlichen Maßstab für unser aller Handeln werden, sei es im Staat, sei es in der Wirtschaft, sei es im Konsumverhalten des Bürgers.“ Im Bundesinnenministerium war Menke-Glückert maßgeblich für die Ausgestaltung des Umwelt-programms der Bundesregierung verantwortlich. Dessen Bedeutung reichte weit bis in die Zeit der später folgenden schwarz-gelben Koalition hinein. Am Ende der 70er Jahre stand die Großfeueranlagenverordnung, die zum Schutz der Wälder die Industrie massiv in die Verantwortung nahm. Menke-Glückert hatte als einer der ersten erkannt, dass es irgend-einen Zusammenhang zwischen dem Waldsterben und menschlichem Handeln geben musste. Gehört wurde er zunächst jedoch nicht. Vielmehr wurde  seine warnende Stimme zu den negativen Folgen des technischen Fortschritts als unnötiger Alarmismus abqualifiziert. Zusätzlich zu seiner Arbeit am Regierungsprogramm hatte Menke-Glückert innerhalb der FDP den Bundesfachausschuss für Umweltfragen eingerichtet und mit der Vorbereitung der Umweltprogrammatik der die FDP nachhaltig prägenden Freiburger Thesen angefangen. Die Arbeitsweise von Menke-Glückert zeichnete sich dadurch aus, dass für ihn an erster Stelle der Informationsgewinn stand. Ohne umfassende Informationen über den Zustand der Umwelt könne Umweltpolitik nicht stattfinden. Diese Denkweise weist auch auf den fortschrittlichen Charakter  der Umweltpolitik der Bundesrepublik hin:  Sie war stark präventiv ausgelegt und versuchte, durch die Implementierung des Verursacherprinzips Schäden an der Umwelt zu vermeiden beziehungsweise den Verursachern anzulasten. Im Ausland wurde bis dahin überwiegend eine reaktive Umweltpolitik betrieben. 

Peter Menke-Glückert war ein Mann mit großer Begeisterungsfähigkeit, guten Ideen, gründlicher Kenntnis der internationalen Forschung und beträchtlicher Durchsetzungskraft.

Hans-Dietrich Genscher

Umweltprogrammatik und Umweltgesetze unter liberaler Federführung

17.09.1970 — Sofortprogramm des Bundeskabinetts

Das Sofortprogramm (1970) sollte die dringendsten Umweltprobleme in Angriff nehmen. Das darauf aufbauende Umweltprogramm der Bundesregierung legte dann einen detaillierten Gesetzgebungsfahrplan und konkrete Ziele fest. Richtschnur des Programms waren das Verursacherprinzip, das Vorsorgeprinzip und das Kooperationsprinzip. Das Vorsorgeprinzip fordert, dass durch eine vorhersehende Umweltplanung erst gar keine Schäden an der Natur entstehen können. Beim Verursacherprinzip werden die Kosten für die Schäden an der Umwelt den Verursachern angelastet. Und das Kooperationsprinzip steht für die Einbeziehung aller relevanter Akteurinnen und Akteure um so eine größtmögliche Akzeptanz für Umweltmaßnahmen zu schaffen. Das Neue war nicht nur, dass Umweltschäden von vorneherein verhindert werden sollten. Umweltpolitik wurde als Querschnittsaufgabe begriffen und wollte bei den Bürgern Akzeptanz für umweltpolitische Maßnahmen schaffen. Diese Grundlagen sind bis heute maßgeblich für die Umweltpolitik. In der ersten Aufschwungphase der deutschen Umweltpolitik wurden viele Gesetze und administrative Strukturen geschaffen. Das Bundesimmissionsschutzgesetz gehört zu den hervorzuhebenden Projekten in Genschers Regierungszeit. Die Genehmigung von Industrieanlagen wurde mit diesem zum einen an die Einhaltung bestimmter Immissionsgrenzwerte in Abhängigkeit von der lokalen und regionalen Belastungssituation geknüpft und zum anderen an die Einhaltung des aktuellen Technikstands beim Emissionsausstoß. Mit diesem Gesetz wurde die Bundesrepublik zur Vorreiterin in Sachen Luftreinhaltung und Umweltschutztechnik. Die deutschen Emissionsgrenzwerte und Produktstandards sollten die Blaupause der internationalen Umweltpolitik werden. Man hoffte darauf, andere Staaten zur Nachahmung zu motivieren. Auch der Gewässerschutz gehörte zu den Anfangsthemen der deutschen Umweltpolitik. Ein besonderes Augenmerk lag auf dem Schutz der Nordsee. Alle Anstrengungen sollten unternommen werden, um die Verklappung von Abfällen aus der Titanoxidproduktion zu beenden. 

Zu den wichtigsten, ersten Umweltgesetzen gehören darüber hinaus noch die folgenden: das Gesetz zum Schutz gegen Fluglärm 03.04.1971, das Benzinblei-Gesetz 08.08.1971, das Abfallbeseitigungsgesetz 11.6.1972, das DDT-Gesetz (Verbot des Einsatzes von DDT) 10.11.1972 und das Gesetz über Umweltstatistiken 18.08.1974. Hinzu kommen mehrere inter-nationale Umweltabkommen zum Schutz der Weltmeere und zum Artenschutz. Die europäische Gemeinschaft begann mit Gesetzesvorhaben zum Umweltschutz erst im Jahr 1972. Das BMI errichtete im Dezember 1971 den unabhängigen Sachverständigenrat für Umweltfragen, der den Umwelt-zustand in der BRD begutachten und Lösungsansätze für Umweltschäden entwickeln sollte. 1974 wurde dann das Umweltbundesamt gegründet. Die Einrichtung einer solchen Organisation als „Dachorganisation zur wirksameren Zusammenfassung bestehender Bundesanstalten und Einrichtungen auf dem Gebiet der Umweltforschung und zur Übernahme von nichtministeriellen Aufgaben“ wurde bereits im Umweltprogramm von 1971 gefordert. In den Folgejahren entwickelte sich das Umweltbundesamt zu einer wichtigen Beratungsbehörde des BMI und war der entscheidende Schritt bei der Zusammenfassung der Umweltschutzaufgaben.

Die Thesen waren ein Manifest, eine Kampfansage an die selbstzufriedene Behäbigkeit einer bürgerlichen Wirtschafts- und Honoratiorenpartei, eine Unabhängigkeitserklärung.

Burkhard Hirsch

Freiburger Thesen

Als erste Partei in der Bundesrepublik Deutschland verabschiedete die FDP mit den Freiburger Thesen 1971 ein Umweltprogramm 1. Mit ihnen wurde der reformatorische Programmanspruch der Liberalen verdeutlicht und das Konzept eines modernen Liberalismus mit sozialer Prägung gezeichnet. Die Freiburger Thesen geben keine konkreten Handlungsschritte vor, sondern sind als Ausgangspunkt für die Ausgestaltung der Umweltpolitik zu verstehen. Innerhalb der Grundprinzipien dieses Programms erhält die Umweltpolitik einen Platz in der liberalen Gesellschaftspolitik neben den Thesen zur Eigentumsordnung, Vermögensbildung und Mitbestimmung. Für die Freien Demokraten gehörte die Umweltpolitik maßgeblich zu den Grundlagen der Gesellschaftspolitik, da sie die notwendige Antwort auf die Herausforderungen der industrialisierten Gesellschaft darstellte, die die Natur über-strapaziere und zerstöre. Der zentrale liberale Leitgedanke ist der Schutz der Menschenwürde. „Jeder hat ein Recht auf eine menschenwürdige Umwelt“, heißt es in der ersten These zur Umweltpolitik. An dieser Stelle wird die einzelne Person und der Umweltschutz miteinander verknüpft. Durch den Anspruch auf eine intakte Umwelt wird zum einen der Staat befähigt, Rahmenbedingungen zu setzen, und zum anderen werden alle Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen aufgefordert, die Unversehrtheit der Umwelt Mitzugestalten. 

Die FDP plädierte deshalb für eine Erweiterung der Kompetenzen des Bundes und ging sogar über einen reinen Gesundheitsschutz der Bevölkerung als Folge von Umweltpolitik hinaus. Die Freiburger Thesen betrachten Umweltpolitik auch als Freizeitpolitik. Hier zeigt sich das anthropozentrische Umweltverständnis der Liberalen: Der Mensch ist der Maßstab für die Ausgestaltung der Umweltpolitik. Zudem forderte die FDP die Aufnahme des Umweltschutzes in Artikel 2 des Grundgesetzes, was den hohen Stellenwert der Umweltpolitik in der programmatischen Arbeit der FDP verdeutlicht. Die Umweltpolitik sollte genauso wichtig sein wie Bildungspolitik oder die Landesverteidigung. Auch eine stärkere Berücksichtigung von Umweltfaktoren in der Wirtschaft und Entscheidungen der Öffentlichen Hand zeigt den wegweisenden und progressiven Charakter der Freiburger Thesen. Heute sind umwelt- und klimapolitische Maßnahmen und Vor-gaben an die Industrie nicht mehr wegzudenken; in den 70ern war dieses Denken in der Bundesrepublik noch fremd. Die FDP forderte sehr früh eine vorausschauende Umweltpolitik, die anders als bisher gehandhabt, eben nicht nur auf Schäden reagiert, sondern diese von Anfang an ver-meidet. Der SPIEGEL bezeichnete diese Thesen schon vor der Veröffentlichung als „Verbal-Radikalismen“, die keinerlei politische Auswirkungen haben würden. Mit der Vorarbeit der Liberalen durch ihr Umweltprogramm wurde mit der vorausschauenden Umweltpolitik ein fortschrittliches Instrumentarium entwickelt, was sich bis heute als Fundament aller Umweltmaßnahmen findet. Auch auf die Kostenfrage, die insbesondere zu Beginn der Umweltpolitik eine große Rolle gespielt hatte, hatte die FDP bereits eine Antwort: das Verursacherprinzip. Durch die Einführung eines Preises für Umweltschäden in den Ordnungsrahmen der Marktwirtschaft werden die Kosten den Verursachern angerechnet. Außerdem sind weitere Punkte erwähnenswert, so die Strafbarkeit von Umweltvergehen: „Umweltschädigung ist kriminelles Unrecht." Gefordert wurden Standards und die Definition des Umweltschutzes als Aufgabe des Bundes mit konkurrierender Gesetzgebung sowie als internationale Aufgabe (Forderung der Aufnahme in die UN-Menschenrechtscharta) und Teil einer umfassenden Raumordnungspolitik. Mit den Freiburger Thesen hat die FDP das Umweltthema in die bundesdeutsche Politik gebracht. Peter Menke-Glückert betonte 1978, dass die Freiburger Thesen das Fundament für die Umweltprogrammatik aller Parteien gewesen sein.