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Bildung
Wie die Lufthansa, muss auch das Bildungssystem schnell wieder abheben können

Berichterstattung von der Bildungsfront: Digitalisierung an Schulen aus der Sicht der Lehrkräfte
Bildung Schulen
© picture alliance / MIS | Sportpressefoto M.i.S.

Sowohl der Bayerische Realschullehrerverband (brlv) als auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) haben in diesen Tagen Studien vorgestellt, in denen die Lehrerinnen und Lehrer zu Wort kommen und insbesondere zur Digitalisierung der Schulen Stellung nehmen. Die Umfragen liefern klare Bilder von der Bildungsfront, unterstreichen aber auch, wie unterschiedlich die Situation an einzelnen Schulen ist. Wie ein Brennglas zeigt die Coronakrise dabei, wie viel in den letzten Jahren versäumt worden ist. Aus liberaler Sicht ergibt sich daraus die klare Forderung: Ebenso wie die Lufthansa, muss auch das Bildungssystem schnell wieder abheben können. Um die Schulen zu beflügeln braucht es ein großangelegtes Rettungspaket, welches eine schnelle Bereitstellung von Lernsoftware und Hardware ebenso garantiert wie effektive Lehrkräftefortbildungen und ausdifferenzierte Konzepte für die hybride Schule. Verschiedene Pandemieverläufe müssen dabei ebenso berücksichtigt werden, wie Unterschiede der Schulformen und der regionalen Verhältnisse. Die drei Kernforderungen lauten dabei: Handeln, Handeln, Handeln.

Die Schulen geschlossen, die Eltern am Limit und eine ungewisse Zukunft. Der Bildungsnotstand ist diesmal keine Metapher für unterdurchschnittliche PISA-Ergebnisse, sondern eine bedrückende Beschreibung der Wirklichkeit. Mehr als zwei Monate ist es nun her, dass die Schulen geschlossen worden. Viele Schulen, und insbesondere viele engagierte Lehrkräfte, haben in dieser Zeit ein beeindruckendes Improvisationstalent gezeigt, um verschiedenste Formen des Distanzlernens zu etablieren. Doch mittlerweile wird auch viel Kritik laut. Wie kann es sein, dass selbst nach zwei Monaten kein flächendeckender Unterricht per Videokonferenz etabliert worden ist?  Mit banger Miene schauen gerade die Eltern auf das kommende Schuljahr, denn die Coronakrise wird dann noch lange nicht vorbei sein.  

Auch wenn sie am letzten Donnerstag vorgestellt worden ist, ist die repräsentative GEW-Mitgliederstudie zum „Digitalpakt Schule“ und zur „Digitalisierung an Schulen“ eigentlich das Relikt einer einfacheren Zeit, die weit entfernt zu sein scheint. Denn die der Studie zugrundeliegende Umfrage unter 3.377 Lehrerinnen und Lehrern wurde im Februar durchgeführt, als man noch glaubte, ungeschoren davonkommen zu können. Dementsprechend liefert die Studie zwar keinen Befund der aktuellen Lage, hilft aber zu verstehen, warum es den Schulen trotz des großen Einsatzes der Lehrerinnen und Lehrer so schwerfiel, auf den Fernunterricht umzustellen. Eine große Mehrheit der Befragten bemängelte beispielsweise, zu wenige Informationen vom Arbeitgeber bezüglich der Umsetzung des Digitalpakts erhalten zu haben. Außerdem gab lediglich ein Drittel an, genügend zeitliche Ressourcen für die den Entwurf eines pädagogischen Konzepts gehabt zu haben, welches eine Vorbedingung für das Abrufen der Mittel ist. Bedenkt man, dass die Befragten – im Gegensatz zum Großteil der Schulen – durchaus schon erfolgreich Mittel des Digitalpakts in Anspruch genommen haben, wird deutlich, wie sehr die bürokratischen Vorgaben der Flaschenhals bei der Digitalisierung der Schulen sind. 

Immerhin – und das, bevor Corona neue Notwendigkeiten brachte - gaben 93% der Befragten an, E-Mails im Rahmen ihrer Arbeit zu benutzen, wenngleich nicht zwischen privaten und Dienstadressen unterschieden worden ist. 61% nutzen Lehr- und Lernplattformen, 47% Messenger und 17% sogar die sozialen Netzwerke. Allerdings verwenden die Lehrkräfte für ihre digitale Arbeit zu 90% private Endgeräte – mit Blick auf die Praxis in anderen Einrichtungen des öffentlichen Diensts oder gar privatwirtschaftlichen Unternehmen ist dies schwer zu begreifen. Damit einher gehen auch Probleme mit dem Datenschutz: über die Hälfte aller Befragten gab an, sich nicht ausreichend vom Arbeitgeber zum Thema Datenschutz in Bezug auf Digitalisierung informiert zu fühlen, zwei Drittel monierten zudem fehlende Unterstützung bei der Umsetzung. Abschließend wurde auch das Thema Fortbildung evaluiert. Nur 58 Prozent der Umfrageteilnehmerinnen und –teilnehmer gab an, in den letzten zwei Jahren an Fortbildungen zu Digitalisierungsthemen teilgenommen zu haben, als Gründe für die Nichtteilnahme wurde ein Mangel an relevanten Angeboten (49%) sowie fehlender Zeit (41%) und fehlender Bedarf (12%) genannt. Mit Blick auf die gegenwärtige Krise muten die Forderungen der GEW geradezu zurückhaltend an. Die Digitalpaktmittel sollen verstetigt und aufgestockt werden, Endgeräte für dienstliche Zwecke müsse öffentlich finanziert werden, und der „erhöhte Fortbildungsbedarf“ gedeckt werden. Unterschiede zwischen Schulformen und Bundesländern gibt (?) es nur bedingt, auch wenn die Grundschulen wenig überraschend seltener digitale Hilfsmittel einsetzen als die weiterführenden Schulen.

Abgerundet wurde das Forderungspaket der GEW mit dem „Primat der Pädagogik“, welches nicht durch die Digitalisierung verdrängt werden sollte, sowie mit der Klarstellung, dass digitale Infrastruktur eine „Sache der öffentlichen Hand und kein Privatgeschäft“ sei. Zumindest was die konkreten Stellschrauben angeht, ist dem aus liberaler Sicht nichts hinzuzufügen. Doch angesichts der Krise reicht das Verstellen von Stellschrauben nicht – es braucht eine hybride Revolution und mutigen Initiativen, um einen Bruch in den Bildungsbiographien einer ganzen Schülergeneration zu verhindern. Aus liberaler Sicht ist die Skepsis gegenüber kommerziellen Softwarelösungen außerdem nicht angebracht. Gerade kleine und mittelständische Unternehmen haben es in den letzten Jahren geschafft, den Schulen funktionierende und zeitgemäße Lösungen anzubieten, ohne die die Krise noch um einiges schwerer ausgefallen wäre. In der Zukunft braucht es daher klare staatliche Vorgaben – zum Beispiel über Whitelists und den digitalen, datenschutzkonformen Schülerausweis. Gleichzeitig muss aber sichergestellt werden, dass deutsche „EdTech“-Unternehmen wettbewerbsfähig bleiben, indem der Markt nicht völlig ausgetrocknet wird. Denn in zehn Jahren reden wir nicht mehr über Schulclouds, sondern KI-gestützte Lernmodule, die kaum von einer Behörde entwickeln werden werden.

Während die Umfrage der GEW noch ein Echo der Vor-Corona-Zeit ist, bietet der Bayerische Realschullehrerverband Eindrücke aus dem direkten Einsatz während der Coronakrise. Zwischen dem 14. April und dem 22. April wurden 1075 Lehrkräfte der bayerischen Realschulen befragt. Dabei ging es um digitale Werkzeuge, die bayerische Lernplattform „mebis“ sowie die Praxis des Fernunterrichts. Gut drei Viertel aller Befragten gab an, mit den Schülerinnen und Schülern über E-Mail zu kommunizieren, 37% nutzten die eigene Schulcloud und 25% griffen auf mebis zurück (ganze 34% hielten diese staatliche Lösung übrigens für kaum oder gar nicht geeignet). Videokonferenzen wurden von gerade einmal 18% genutzt, und in drei Prozent aller Fälle durften sich die Schülerinnen und Schüler über Briefpost freuen. Auch wenn sich die Lehrkräfte erfindungsreich zeigten, werden auch hier grundlegende Probleme deutlich. „Unsicherheit, welche Portale, Programme und Netzwerke genutzt werden dürfen, führt dazu, dass diese von den Schulen grundsätzlich verboten werden“, heißt es dazu in der Studie: „Es resultiert eine Verschlechterung der digitalen Unterrichtsangebote.“ Besonders besorgniserregend ist die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die in der Zeit vor Ostern nicht erreicht worden sind. Laut der Studie war dies jeder siebte Schüler, wobei das Nichterreichen entweder an der technischen Ausstattung der Familien oder der Lerneinstellung der Schüler lag. Dass das Recht auf Bildung – ein Grund- und Menschenrecht – bei einem Siebtel der Schülerschaft in Mitleidenschaft gezogen worden ist, ist erschreckend. 

Zu den guten Nachrichten gehört die Zufriedenheit mit der Kommunikation zwischen Schülern und Lehrkräften – drei Viertel gaben hier eine positive Rückmeldung. Entscheidend dürfte hier weniger die digitale Ausstattung sein, sondern die pädagogischen Fähigkeiten der Lehrerinnen und Lehrer, denn eine Veränderung im Verhältnis zwischen Schülern und Lehrkräften wurde kaum beobachtet. Hier decken sich die Studien: Mit dem Primat der Pädagogik hat die GEW also völlig recht: auch und vielleicht gerade in der digitalen Zukunft kommt es auf die Expertise der Lehrkräfte an, die selbst durch Künstliche Intelligenz nicht ersetzt werden wird. Auch die Eltern sehen die Arbeit der Lehrer – entgegen mancher Talkshow – positiv, nur drei Prozent geben überwiegend negative Rückmeldungen, bei den Elternvertretern sind es sogar nur zwei Prozent. Besorgniserregend sind dagegen die Aussagen zu den erwarteten Leistungsunterschieden: ganze 71% aller Befragten erwarten, dass sich existierende Unterschiede vergrößern werden. Auch wenn der Realschullehrerverband ein überwiegend positives Fazit zieht und dabei vor allen Dingen die Arbeit der Pädagogen betont, werden auch hier konkreten Forderungen erhoben. So solle es dauerhafte Ergänzungs- und Wahlmöglichkeiten bei den Kommunikationsplattformen geben, flankiert durch eine professionelle Wartung und Systembetreuung, ggf. durch externes Fachpersonal. Außerdem – auch hier ist man eng an der GEW – sollte jeder Lehrkraft ein digitales Endgerät zur Verfügung gestellt werden. „Digitales und modernes Arbeit erfordert klare Regelungen von Arbeits- und Regenerationsphasen“ schließt der Verband seine Forderungen ab. 

Beide Studien helfen, die Lage an den Schulen konkreter zu erfassen. Wenn nur ein Bruchteil aller Lehrerinnen und Lehrer auf Videokonferenzen zurückgreift, so liegt dies in erster Linie nicht an fehlender Motivation, sondern an einem komplexen Geflecht aus unzureichender technischer Ausstattung, zu wenig Raum für entsprechende Fortbildungen und vor allem einer großen Unsicherheit in Bezug auf den Datenschutz und andere staatliche Vorgaben. Diese Probleme sind allerdings lösbar. Die Kultusministerien müssen endlich verbindlich festlegen, welche Produkte eingesetzt werden. Angesichts der Krise braucht es hier auch den Mut, auf geeignete kommerzielle Lösungen zurückzugreifen, die den deutschen Datenschutzvorgaben entsprechen. Noch viel wichtiger ist es außerdem, das Berufsbild des Pädagogen ernst zu nehmen. Die Lehrerinnen und Lehrer müssen sich nun darauf konzentrieren können, dass vor allem die charakterliche Entwicklung der Kinder und Jugendlichen gesichert wird. In Fragen der IT müssen endlich klare Vorgaben von den Kultusministern kommen. Die digitale Infrastruktur muss spätestens bis zum neuen Schuljahr an allen Schulen auf einem belastbaren Stand sein. Es müssen außerdem Konzepte erarbeitet werden, wie auf dynamische Infektionsszenarien reagiert werden kann – die aktuelle Lage in Göttingen zeigt, wie schnell sich das Infektionsgeschehen verändern kann. Außerdem benötigen wir mehr Raum für beherzte Initiativen, wie auch der ehemalige Vorstandsmitglied der GEW, Otto Herz, zurecht anmerkte. Allein auf die Schulbehörden zu vertrauen, wird dabei kaum ausreichen. Es müssen Möglichkeitsräume für engagierte Schulleitungen und motivierte Lehrkräfte geschaffen werden, neue Wege zu gehen und innovative Lernformate auszuprobieren. Auch Lehramtsstudierende könnten beispielsweise die Rolle als „Corona-Coaches“ übernehmen und gezielt denjenigen Schülerinnen und Schülern helfen, denen das Distanzlernen am schwersten fällt. Das wichtigste ist dabei: es braucht jetzt „German Mut“ und ein beherztes Zupacken. Ein verlorenes Schuljahr kann sich Deutschland nicht leisten.