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Libanon
Proteste als Stimmungsbild

Im Libanon gehen Menschen auf die Straße, um gegen die Regierung zu protestieren. Es eint sie die Unzufriedenheit über die Situation. Mehrere Szenarien sind denkbar.
Demonstrationen im Libanon
Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und Konfessionen gehen derzeit geschlossen im Libanon auf die Straße, um gegen die Regierungspolitik zu demonstrieren. © picture alliance/Marwan Naamani/dpa

Es ist das erste Mal, dass sich sponten libanesische Bürger verschiedenster Herkunft für ihr Land versammeln, ohne dabei Unterstützung der politischen Parteien zu haben. Die Menschen sind wütend auf ihre Regierung und ihre Politiker. Dieses Phänomen ist nicht neu, aber bis heute haben die Bürger keine Plattform gefunden, die sie aufgenommen hat und wo sie ihrer Meinung freien Ausdruck verleihen konnten.

Die wirtschaftliche und soziale Situation im Libanon hat sich seit dem Ende des Bürgerkriegs drastisch verschlechtert. Die jüngste Welle von Protesten wurde jedoch durch zwei kürzlich aufeinanderfolgende Ereignisse ausgelöst. Zum einen das Missmanagement bei der Löschung eines großen Flächenbrands, welcher viele Grünflächen zerstört hat. Zum anderen die Einführung einer Reihe von Steuern für die Grundversorgungsdienstleistungen.

Auch Wut unter Exil-Libanesen

Nicht nur im Libanon statt, sondern auch in mehr als 30 Städten auf der ganzen Welt gehen Menschen, organisiert von der libanesischen Diaspora, auf die Straße. Sie sind wütend auf die Politiker und sehen in ihnen den Grund, warum sie das Land verlassen und nach Möglichkeiten außerhalb ihres Landes suchen mussten.

Die Demonstrierenden unterscheiden sich stark im Alter und sozioökonomischem Hintergrund. Vor Ort zeigt sich, dass vor allem ökologische, wirtschaftliche und soziale Ursachen einen hohen Stellenwert haben. Insbesondere die Arbeitslosenquote von 25 Prozent und der Bau eines Staudamms im Bisrey Valley sind weitere Hauptursachen für die Frustration unter den Demonstranten.

Viele Libanesen, die die Möglichkeit hatten, andere Länder zu Arbeitszwecken oder in ihrem Urlaub zu besuchen, wissen, dass die entwickelten Länder ihren Bürgerinnen und Bürger ihre Grundrechte zugestehen. Sie fordern diese Rechte wie sauberes Wasser, dauerhafte Stromversorgung, angemessene öffentliche Bildung, Gesundheitsversorgung, öffentliche Verkehrsmittel, Altersvorsorge und soziale Sicherheit nun auch für sich ein.

In Unzufriedenheit geeint

Die Menschen schieben ihre konfessionelle und politische Zugehörigkeit für eine bessere Lebensqualität beiseite: Obwohl die Menschen durch den jüngsten Verlauf der Ereignisse vereint sind, sind sie nichtsdestotrotz unterschiedlicher Meinung, wie die formulierten Forderungen erreicht werden können.  

Einige Demonstranten fordern den Rücktritt der Regierung und die Bildung eines neuen, aus Technokraten bestehenden Kabinetts, um die aktuelle Krise zu bewältigen. Andere fordern eine Veränderung des libanesischen Regimes insgesamt, in der Überzeugung, dass darin der Hauptgrund für alle Probleme liegt. Auch die Idee von vorgezogenen Wahlen wird von einigen in Erwägung gezogen. Allerdings nur unter der Bedingung, dass das 2017 ausgearbeitete Wahlgesetz durch eine von der Regierung unabhängige Stelle geändert wird. Diese Änderung würde ermöglichen, dass die libanesischen Bürger unabhängig von allen konfessionellen und sektoralen Beschränkungen wählen können. Viele Demonstranten sind davon überzeugt, dass das geltende Wahlgesetz, nach dem sie 2018 zum ersten Mal abgestimmt haben, kein wahres Abbild der politischen Meinungen darstellt, und dass das jetzige Parlament seine Volkslegitimität verloren hat. Schließlich - wenn auch ein wenig verbreiteter Ansatz - gibt es einige Bürger, die die Schaffung eines Verfassungsausschusses fordern, um eine neue Verfassung für das Land zu schreiben, die alle Konfessionen berücksichtigt.

Viele Szenarien sind für die nahe Zukunft denkbar

Das erste erwartete Szenario ist die Genehmigung eines Haushalts für 2019, der die Forderungen nach Reformen der Bevölkerung berücksichtigt. Diesen Ansatz verfolgte Premierminister Saad El Hariri am Montagnachmittag, nachdem er um eine 72-stündige Frist für Beratungen mit allen betroffenen Parteien gebeten hatte. Die libanesischen Demonstranten sind mit den Resultaten bisher allerdings nicht zufrieden und kündigten an, auf den Straßen zu bleiben.

Ein Grund für die Ablehnung ist die Tatsache, dass, obwohl die Abstimmung des Parlaments noch erforderlich ist, einige Parlamentsfraktionen sich bereits gegen einen neuen Haushalt ausgesprochen und angekündigt haben, dass sie bei der Abstimmung nicht für die den Haushalt stimmen werden.

Das zweite und populärere Szenario ist der Rücktritt des Kabinetts. Die große Frage ist, ob eine neue Regierung den Erwartungen der libanesischen Bürger gerecht wird, oder nur die Arbeit des jetzigen Kabinetts fortführt. Und selbst wenn ein technokratisches Kabinett an die Macht käme: Gäbe es dann neue Gesichter in der Regierung? Wären sie überhaupt unabhängig von ihrer politischen Zugehörigkeit? Und wenn sie politisch mit einer Partei verbunden sind, würden sie das Interesse ihrer politischen Führung beiseitelegen und nach ihrem eigenen Ermessen handeln? Und schließlich, wird das derzeitige Parlament dem neuen Kabinett vertrauen?

Die Tatsache, dass die libanesische Bevölkerung auf den Straßen nicht nur hungrig auf Nahrung, sondern auch nach Würde, Freiheit und Leben ist, darf nicht länger ignoriert werden.

Ihre Forderungen mögen in der gegenwärtigen Situation inkonsistent und manchmal nicht umsetzbar sein, aber für sie gibt es zum jetzigen Zeitpunkt keinen Grund für Kompromisse mit dem aktuellen Kabinett. Sie sind es leid, im Schatten ihrer Führer zu leben, politisch und religiös. Sie sind es leid, ihrer Zukunft beraubt zu werden. Es ist jetzt an der Zeit, dass sich die Regierung für Lösungen entscheidet, die sicherstellen, dass der Libanon aus diesen dunklen Loch herausgeholt wird, in das er vor 30 Jahren gefallen ist. Diese Lösungen würden auch der libanesischen Gemeinschaft als Lichtblick dienen und zeigen, dass die Machthaber sie gehört haben und dass Veränderungen endlich möglich sind.