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Litauen
Regierungsbildung in Litauen

„Der Tag der Schande wird kommen“: Wieder eine Koalition mit antisemitischem Partner?
Lithuanian flag
Lithuanian flag © pixabay.com

Nach monatelangen Protesten war erst Premierminister Gintautas Paluckas Ende Juli und Anfang August die litauische Regierung zurückgetreten. Paluckas musste aufgrund laufender Ermittlungen zu dubiosen Geschäftspraktiken vor und während seiner Amtszeit auch den Vorsitz der Sozialdemokratischen Partei niederlegen. Die Bildung der neuen Regierung obliegt wieder den Sozialdemokraten, da sie weiterhin die stärkste Partei im Parlament stellen. Sie haben bereits angekündigt, die Partei „Morgenröte von Nemunas“ (Nemuno Aušra) – deren Vorsitzender Žemaitaitis sein Mandat wegen antisemitischer Äußerungen aufgegeben hatte – sowie die oppositionelle “Bund der Bauern und Grünen Litauens” zur Bildung einer neuen Regierungskoalition einzuladen. Damit beenden sie die Zusammenarbeit mit der Mitte-Links-Union der Demokraten „Für Litauen“. Auf Straße, Medien und Sozialmedien bleibt die Kritik aus der Zivilgesellschaft scharf.

Der Tag der Schande wird dann kommen, wenn die Sozialdemokraten, nachdem sie erneut ihr Wort gebrochen haben, die Regierungsgewalt in die Hände der Partei Morgenröte von Nemunas“ legen, die von einem gerichtlich anerkannten Verleumder und Lügner geführt wird, und dazu noch die Tomaševski untergeordneten Leute anschließen - Politiker, die gegen Sanktionen gegen Russland und Belarus sind, Ideologen der Impfgegner sowie Befürworter einer Senkung der Referendums-Hürde. Das wird der Tag sein, an dem eine neue Regierungskoalition entsteht – der Tag der Schande. <...> An diesem Tag versammeln wir uns zu einem Massenprotest in Vilnius”, sagt die Facebook-Veranstaltungsseite der Protestorganisatoren in Vilnius, auf der bereits an einem Tag mehr als 11000 Menschen ihr Interesse an einer Teilnahme bekundet haben. Doch wie konnte es dazu kommen?

Wie es dazu gekommen ist: ein Angel-Ausflug löst Korruptionsskandal aus

Eine Instagram-Story des Geschäftsmanns Tautvydas Barštys, eines der reichsten Männer Litauens, zeigte den amtierenden Premier Gintautas Paluckas fröhlich mit einem frisch gefangenen Fisch – an seiner Seite Barštys und der Bürgermeister von Druskininkai, Ričardas Malinauskas, der kürzlich in einem politischen Korruptionsfall von großer Resonanz verurteilt worden war. Das Wochenende des Premierministers in zweifelhafter Gesellschaft rief scharfe Kritik in Zivilgesellschaft und Opposition hervor, führte zu journalistischen Recherchen und weckte Zweifel an der Darstellung, das Treffen sei „reiner Zufall“ gewesen. „Dieser Angelausflug erinnert an alte Traditionen – nur dass heute eben mit einflussreichen Personen geangelt wird, statt mit Gewehren gejagt“, sagte Viktorija Čmilytė-Nielsen, Vorsitzende der oppositionellen Liberalen Bewegung.

Vom Angeln zu dubiosen Geschäften

Die Geschichte eskalierte schnell: Investigativjournalisten veröffentlichten Bericht um Bericht über Paluckas’ politische und geschäftliche Verbindungen, fragwürdige Kredite und eine Serie zweifelhafter Finanztransaktionen. Die Enthüllungen führten zu offiziellen Ermittlungen der Anti-Korruptions- und Strafverfolgungsbehörden.
 

 „Wie hängt der Angelausflug mit dem später veröffentlichten Bericht über einen Vorzugskredit zusammen? Eigentlich gar nicht – außer, dass Paluckas dadurch ins Rampenlicht geriet“, schrieb der Journalist Šarūnas Černiauskas, einer der Autoren der Recherche.

In den folgenden Monaten enthüllten Laisvės TV und das Investigativzentrum Siena, dass die von Paluckas mitgegründete Firma „Garnis“ einen subventionierten Kredit über 200.000 Euro von der nationalen Entwicklungsbank erhielt – während Paluckas bereits Premierminister war. Weitere Recherchen deckten auf, dass er 2012 eine vergünstigte Wohnung im Zentrum von Vilnius von einer zypriotischen Firma erwarb – auf einem Grundstück, das er zuvor als Beamter der Stadtverwaltung beaufsichtigt hatte. Zudem hatte er Schadenersatzzahlungen an die Stadt Vilnius nach einem Gerichtsurteil wegen Unregelmäßigkeiten bei öffentlichen Ausschreibungen nur unvollständig beglichen.

Zivilgesellschaft forderte politische Verantwortung und Ende der Koalition mit Nemuno Aušra

Paluckas wies dennoch alle Vorwürfe zurück. Er tat sie ab, verglich sie sarkastisch mit „OnlyFans-Inhalten und Telefonbetrügern“ und bezeichnete die recherchierenden Journalisten als unseriöse „Internet-Entdecker“. Sein Schweigen zu konkreten Fragen löste jedoch Empörung aus: Im Juli versammelten sich rund 2000 Menschen vor dem Parlament und forderten politische Verantwortung – entweder durch klare Erklärungen oder den Rücktritt des Premiers. Zudem verlangten die Demonstrierenden den Ausschluss der antisemitischen Partei “Morgenröte von Nemunas” aus der Regierungskoalition.

Diese Proteste waren nicht die ersten: Bereits nach der litauischen Parlamentswahl im Oktober hatte es Widerstand gegen die Regierungsbildung gegeben. Damals schlossen sich die Sozialdemokraten (52 Sitze) mit den Mitte-Links-Demokraten „Für Litauen“ (15 Sitze) und “Morgenröte von Nemunas”  (19 Sitze) zu einer Koalition zusammen – insgesamt 86 Sitze im 141-köpfigen Seimas. Dies, obwohl das Verfassungsgericht im April 2024 festgestellt hatte, dass die Aussagen von Nemuno Aušra-Chef Žemaitaitis über Israel und Juden gegen die Verfassung verstießen.

Um gegen die antisemitische Regierung zu protestieren, gingen landesweit Tausende auf die Straße. Über 30 zivilgesellschaftliche Organisationen unterzeichneten einen Brief an die Sozialdemokraten und bezeichneten das Bündnis mit Nemuno Aušra als „fatalen Fehler“. Dennoch hielt die Koalition durch, wobei schließlich selbst Präsident Nausėda einräumen musste, die Beteiligung von Nemuno Aušra sei ein „Fehler“ gewesen.

Rücktritt unter öffentlichem Druck: Paluckas gibt auf

Anfang Juli setzte Präsident Nausėda Paluckas ein Ultimatum von zwei Wochen, um auf die Kritik zu reagieren oder Konsequenzen zu ziehen. Doch Paluckas ging in Urlaub, erklärte, er habe keine Rücktrittspläne und die Regierung arbeite „reibungslos“. Auch seine Partei stärkte ihm den Rücken. Kurz darauf machte eine neue Recherche Schlagzeilen: Sie zeigte, dass die Firma „Dankora“ seiner Schwägerin EU-Gelder erhalten hatte – die größtenteils in den Kauf von Waren aus Paluckas’ eigener Firma flossen. Noch am selben Tag, an dem Ermittler „Dankora“ durchsuchten, rief Paluckas den Präsidenten an und erklärte seinen Rücktritt.

Am Abend demonstrierten erneut Hunderte vor dem Präsidentenpalast. Eigentlich wollten sie Nausėda zum Misstrauensvotum gegenüber Paluckas bewegen – doch nach dessen Rücktritt erklärten die Organisatoren, die Liberale Jugend, dass das Kernproblem weiterbestehe: fehlende politische Verantwortung und der Verbleib von Nemuno Aušra in der Regierung.

Spott statt Dialog: Präsidentenberater beleidigt Protestierende

Für Empörung sorgten auch Äußerungen von Nausėdas Chefberater Frederikas Jansonas. Auf die Frage nach den Protesten spottete er, die liberale Jugend, die von Moral rede, „müsse ein Witz sein“, da sie „aus einer Partei komme, die wegen Korruption verurteilt wurde“. Tatsächlich ist die Liberale Jugend jedoch parteiunabhängig. Zudem bezeichnete Jansonas ein liberales Parlamentsmitglied und Unterzeichner der litauischen Unabhängigkeitserklärung als „alten politischen Müll“.

Jugendverbände, Experten und Oppositionspolitiker verurteilten die Aussagen scharf und warfen Jansonas offenes Mobbing vor. Der Nationale Jugendrat Litauens forderte eine öffentliche Entschuldigung des Präsidenten „bei den Jugendorganisationen und der gesamten Zivilgesellschaft“.

Bereits zuvor hatte Jansonas Proteste gegen die Koalition mit Nemuno Aušra ins Lächerliche gezogen und ironisch „fehlende Forderungen nach billigeren Latte-Macchiatos oder umweltfreundlichem Treibstoff für Marsbewohner“ kommentiert.

Koalition mit Antisemiten: Wird der Fehler wiederholt?

In den kommenden Tagen soll der Koalitionsvertrag unterschrieben werden.

Die Sozialdemokraten haben bislang auch nicht festgelegt, ob das Koalitionsabkommen von den Parteien oder von den Parlamentsfraktionen unterzeichnet wird. Deshalb ist weiterhin nicht ausgeschlossen, dass neben der Partei „Morgenröte von Nemunas“ auch der neue potenzielle Partner, die Fraktion der Bauern- und Grünenunion, einbezogen wird – in der sich auch Politiker der russlandfreundlichen Partei befinden.

Experten bezweifeln, dass die Arbeit der neuen Koalition stabil sein wird. Laut Viktorija Čmilytė-Nielsen, Vorsitzende der Liberalen Bewegung, es ist “eine seltsame Entscheidung, Reputationsprobleme zu lösen, indem man die problematischsten Partner behält und eine Koalition aus Politikern mit höchst unterschiedlicher und skandalträchtiger Reputation bildet. <...> In jedem Fall gibt es in der Sozialdemokratischen Partei praktisch keine westlichen Sicherungen mehr; Nemuno Aušra wurde bereits zweimal als Hauptpartner gewählt.

Am außen- und sicherheitspolitischen Kurs Litauens dürfte sich jedoch wenig ändern: Das Land bleibt einer der entschiedensten Unterstützer der Ukraine – fest verankert in EU und NATO.

Eines ist sicher: Die litauische Zivilgesellschaft wird weiterhin politische Verantwortung, Transparenz, den Schutz der Demokratie – und den Ausschluss von Nemuno Aušra aus der Regierung fordern. Der Massenprotest der Zivilgesellschaft “Tag der Schande” ist schon für die kommenden Tage geplant.

Ob die Sozialdemokraten denselben Fehler ein zweites Mal begehen oder doch den Werten der liberalen Demokratie treu bleiben, werden die kommenden Wochen zeigen.