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Migration Crisis
„Aus den Augen, aus dem Sinn“ – Ein Besuch an der türkisch-griechischen Grenze

Unsere Experten Aret Demirci und Dr. Athanasios Grammenos haben sich ein Bild von der Situation vor Ort gemacht
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© Friedrich Naumann Foundation for Freedom Greece

An der türkisch-griechischen Grenze spielt sich seit Tagen eine menschliche Tragödie ab. Während der türkische Präsident Erdogan die Flüchtlinge Richtung Europa durchwinkt, schafft es die Europäische Union nicht, eine menschenwürdige Lösung für das Flüchtlingsproblem zu finden – die Angst vor einer Wiederholung von 2015 sitzt zu sehr im Nacken. In dem Willen, die Grenzen dichtzumachen, geraten europäische Werte immer mehr ins Wanken.

Die kleine Fatima spielt mit ihren Freunden Verstecken zwischen den Bäumen. Das siebenjährige Mädchen, deren Eltern vor einigen Jahren aus Syrien geflohen waren, bemerkt nicht, dass sie dabei von mehreren Kameras gefilmt wird. Großgewachsene Männer und Frauen, dem Aussehen nach West- oder Nordeuropäer, filmen die Lebensfreude der Kleinen, als ob dies etwas außergewöhnliches für ein Kind ihres Alter sei.

Dabei haben ihre Eltern in den vergangenen Jahren die Hölle auf Erden durchgemacht. Sie flohen vor dem syrischen Diktator Assad in den Norden des Landes, wo sie sich eine Weile in Sicherheit wähnten. Unterstützt vom russischen Präsidenten Putin, bombte sich Assad jedoch Stück für Stück Richtung Idlib durch – es blieb Fatimas Familie kein anderer Ausweg als in die Türkei zu flüchten. Doch die türkische Regierung hatte in der Zwischenzeit eine vierhundert Kilometer lange Betonmauer bauen lassen, um weitere Flüchtlinge aufzuhalten – knapp vier Millionen waren in den Augen Ankaras genug. Fatimas Vater verkaufte sein letztes Hab und Gut, um die Schmuggler zu bezahlen, die ihm und seiner Familie über die Grenze verhalfen. Bei 300 Euro pro Person soll der aktuelle Preis liegen.

In einer Textilfabrik in Istanbul hatte der Vater Arbeit gefunden – doch sein Lohn, der weit unter dem gesetzlichen Mindestlohn lag, reichte weder für die Miete noch für die Nahrung der drei Kinder. „Als wir die Nachricht erhielten, dass die Grenze nach Westen geöffnet sei, packten wir unsere Sachen und fuhren los“, so Fatimas Vater. Er und seine Familie waren unter jenen knapp 15.000 Männern, Frauen und Kindern, die sich vergangene Woche an die griechische Grenze aufmachten, nachdem Erdogan erklärt hatte, die Flüchtlinge nicht mehr daran zu hindern, die Türkei zu verlassen. In der Zwischenzeit sind diese Menschen zur reinen Verhandlungsmasse im Ringen zwischen Erdogan und Europa geworden.

Seit der Ankündigung Erdogans beherrschen kleine, verschlafene Dörfchen an beiden Seiten der Grenze die Schlagzeilen der Weltmedien. Doch es ist eine Unmenge von Falschmeldungen unterwegs, die das ohnehin vergiftete Klima Tag für Tag toxischer werden lassen.

In der kleinen Ortschaft Kastanies unweit der Grenze zur Türkei scheint die Welt stehengeblieben zu sein. Es ist einer dieser Orte, wo das Durchschnittsalter bei knapp 70 liegt. Jugendliche sucht man vergebens. Die älteren Herren hingegen sitzen in den zahlreichen Cafes und spielen den ganzen Tag Tavli. Dabei stand Kastanies in den letzten Tagen im Mittelpunkt des Weltgeschehens, mehrere hundert Journalisten hatten die Bevölkerungszahl von 1.059 auf zeitweise fast 2.000 anwachsen lassen. Selbst die EU-Spitze mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Ratspräsident Charles Michel und David Sassoli, Präsident des Europäischen Parlaments, waren gekommen, um Griechenland ihre Unterstützung zu demonstrieren – die EU solle eine Festung bleiben und die Griechen bitte dafür sorgen, die Außenmauern dieser Festung schützen, so der Tenor der gemeinsamen Pressekonferenz. Die Bilder von 2015, als zahlreiche Menschen über Landstraßen und Autobahnen Richtung Westeuropa wanderten, haben sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Für seine Türsteher-Aufgabe bekommt Athen zusätzliche 700 Mio. Euro aus Brüssel.

In Kastanies sind am Tag unseres Besuches weit und breit keine Flüchtlinge zu sehen. Einige wenige Journalisten halten hier die Stellung in der Hoffnung, es könnte sich doch noch etwas tun. Nachdem es in den Tagen zuvor zu tumultartigen Zusammenstößen zwischen griechischen Sicherheitskräften und Flüchtlingen gekommen war, ist die Grenze zur Türkei inzwischen militärisch abgeriegelt, es gibt kein Durchkommen. Dabei war dieser Grenzübergang bis vor einigen Tagen eine beliebte Einkaufsroute für die Bewohner von Kastanies – jeden Freitag machten sich viele von ihnen über diese Grenze auf den Weg zur nahegelegenen türkischen Stadt Edirne, um dort günstig einzukaufen. Nun ist aber erst mal Schluss mit Obst, Gemüse und Fleisch aus der Türkei. Eine ältere Frau, die wir auf die Geschehnisse der vergangenen Tage ansprechen, beschwert sich, dass sie diese Woche auf ihren Einkauf verzichten müsse.

Von einem nahegelegenen Hügel aus hat man einen guten Blick auf die Grenze. Zahlreiche Journalisten haben sich auf den Zuggleisen postiert und ihre Kameras gen Türkei gerichtet. In der Ferne sind die Minarette der weltberühmten Selimiye-Moschee in Edirne zu erkennen. Die Wachtürme beider Länder stehen sich hier bedrohlich gegenüber, auf beiden Seiten haben sich zahlreiche Soldaten postiert. Eine Fehlentscheidung, eine falsche Risikoeinschätzung, und die ewigen Rivalen Griechenland und die Türkei könnten in die direkte Konfrontation schlittern. Flüchtlinge sieht man vom Hügel aus nicht, Bäume versperren den Blick. Doch dafür hört man sie umso besser. Immer wieder steigen Rauchwolken in den Himmel – Tränengas. Von welcher Seite das Tränengas kommt, ist nicht zu erkennen. Das Geschrei von Menschen, die aber nicht zu sehen sind, gibt dem Ganzen eine gespenstische Note. Irgendwas passiert dort, aber was, wissen wir nicht. Alle zehn Minuten müssen die Journalisten ihre Posten auf den Gleisen räumen, da sich ein Zug nähert.

„Es gibt hier seit ein paar Tagen eine Pattsituation. Das griechische Militär lässt keinen über die Grenze“, so ein griechischer Journalist von Al Jazeera. Die Zahl von über 100.000 Flüchtlingen, die seit der Grenzöffnung über die Landgrenze Griechenland erreicht haben sollen, sei ein „Fantasieprodukt“ Ankaras. Tatsächlich aktualisiert der türkische Innenminister Süleyman Soylu, ein Hardliner im Kabinett Erdogans, tagtäglich diese Zahl und kam zuletzt auf über 140.000 Geflüchtete. „Nur wenige hundert haben es bis jetzt geschafft, und diese werden festgenommen und wieder zurückgeschickt“, sagt unser Gesprächspartner

Diese paar hundert Schutzsuchenden haben es geschafft, das griechische Asylsystem in kurzer Zeit zusammenbrechen zu lassen – und dabei das europäische Wertesystem in Frage zu stellen. Werte wie Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Freiheit der Person, die Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz und die Menschenwürde – hinter all diesen Werten steht dieser Tage an der Außengrenze der EU ein großes Fragezeichen. Die Flüchtlingskonventionen, die Charta der Menschenrechte, die Europäische Grundrechte-Charta – allesamt Errungenschaften der Zivilisation, scheinen angesichts der Panik vor wenigen tausend Schutzsuchenden zu inhaltlosem Papier zu verkommen.

Der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis versucht, das Problem mit Härte unter Kontrolle zu bekommen – Tränengas und Wasserwerfer kommen zum Einsatz, selbst das Asylrecht wird ausgesetzt. Wo der griechische Staat nicht hinterher kommt, eilen selbsternannte „patriotische Bürger“ zur Hilfe. In den Ortschaften Feres und Poros in der Nähe von Kastanies sollen sich bewaffnete Bürgergruppen formiert haben, die entlang der Grenze patroullieren. Nur wenige Tage zuvor war die Bürgerwehr bereits „erprobt“ worden, als einige Bewohner der Insel Lesbos Selbstjustiz verübten  und zwei Einrichtungen von Flüchtlingsorganisationen in Brand steckten. Auf die Frage nach den Bürgerwehren zuckt der lokale Polizeichef mit den Schultern und sagt, er wüsste nichts von solchen Formierungen. Doch es gibt auch Gutes zu berichten: In der griechischen Bevölkerung formiert sich Widerstand gegen die harten Sicherheitsmaßnahmen der eigenen Regierung gegen die Flüchtlinge.

Eigentlich trennen Kastanies und Doyran nur 37 Kilometer mit dem Auto. Doch da die Grenze geschlossen ist, verlängert sich die Strecke auf nahezu das Dreifache. Das türkische Dörfchen Doyran, das mit seinen 639 Einwohnern noch kleiner ist als Kastanies, steht seit Erdogans Ankündigung, die Grenzen zu öffnen, im Mittelpunkt der türkischen Berichterstattung. Reporter nahezu aller Fernsehsender berichten täglich live von dieser ansonsten ruhigen Ecke unweit von Edirne. Doyran liegt direkt am Ufer der Maritza (griechisch: Evros); der Fluss bildet eine natürliche Grenze zwischen Griechenland und der Türkei. Die Nachbarländer kommen sich hier geografisch besonders nahe, bei günstigem Wasserpegel ist die EU hier in wenigen Minuten für einen geübten Schwimmer zu erreichen. Die große Nähe machte Doyran in den vergangenen Tagen sehr populär unter all denen, die sich auf den Weg nach Europa gemacht hatten. Doch die Flüchtlinge scheinen hier jetzt wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Nur noch der große Müllberg am Ufer zeugt davon, dass hier in den vergangenen Tagen eine große Ansammlung von Menschen campiert hat. Eine ältere Dorfbewohnerin erklärt uns, die Menschen seien in der Nacht zuvor mit Bussen abgeholt worden. Diese Information bestätigt Hinweise, dass viele Flüchtlinge nicht mit eigenen Mitteln an die griechische Grenze kamen, sondern mit Bussen transportiert wurden, die von staatlichen Stellen organisiert waren. „Natürlich, die Flüchtlinge sind auch nur Menschen“, sagt die Frau. „Ich habe auch Mitleid mit ihnen. Aber ich bin auch froh, dass sie wieder weg sind. Jetzt haben wir endlich wieder Ruhe.

Diejenigen, die weiterhin in und um Edirne auf ihre Chance auf Weiterfahrt nach Europa warten, übernachten in selbstgebauten Zelten in der Nähe des großen Busbahnhofs. Es sind einige hundert Menschen; Frauen, Männer, Kinder. Bei Gesprächen stellt sich heraus, dass nur ein sehr geringer Anteil aus Syrien stammt. Die meisten kommen aus Afghanistan, Pakistan oder dem Iran. Es ist mittlerweile fast 18:00 Uhr, es wird langsam kühl an diesem Märztag.

Wir treffen den 25-jährigen Afghanen Amir, der seit fast zehn Jahren in der Türkei lebt und nahezu perfekt die Landessprache spricht. „Anders als die Syrer haben wir keinen Status in der Türkei. Wir können weder zur Schule, noch zum Arzt. Diese Perspektivlosigkeit zwingt die Menschen zur Ausreise nach Europa“, sagt der junge Mann. Weitere Männer gesellen sich zu uns, als sie die Kamera sehen. Jeder will seine eigene Geschichte erzählen. In allen kommen Begriffe wie Hoffnung, Würde und Zukunft vor, aber auch Angst, Ungewissheit und Not. Ohne es laut auszusprechen, sagen sie, dass sie sich von Erdogan betrogen fühlen, er habe sie als „Hebel“ gegen Europa benutzt. Sie berichten von Misshandlungen auf der griechischen Seite. Zum Beweis zeigen sie ein Handyvideo, das mehrere Männer zeigt, die angeblich von griechischen Polizisten bis auf ihre Unterhose ausgezogen wurden. Die Authenzität dieses Videos lässt sich vor Ort nicht überprüfen. Zurzeit kursieren viele ähnliche Videos in sozialen Medien und WhatsApp-Gruppen, die manipuliert sind. Wer diese produziert hat und aus welchem Grund weiterverbreitet, bleibt unbekannt.

Das Schicksal dieser Flüchtlinge wird jedoch weder in Kastanies noch in Doryan entschieden, sondern in Ankara und Moskau. Europa dagegen, das durch das EU-Türkei-Abkommen von 2016 geträumt hatte, die Flüchtlingskrise dadurch bewältigt zu haben, muss endlich aus diesem Traum aufwachen. Dabei hatte Erdogan die Europäer in den vergangenen Jahren immer wieder darauf vorbereitet, dass irgendwann der Tag kommen würde, an dem er die Grenzen öffnen würde. Es ist erschreckend, dass die EU durch die neuesten Entwicklungen in Schockstarre verfallen ist. Anstatt in all den Jahren nach langfristigen Lösungen zu suchen, verließ man sich in Brüssel und den europäischen Hauptstädten lieber auf das Wohlverhalten Erdogans. Doch spätestens nach den verlorenen Kommunalwahlen im vergangenen Jahr und der politisch-militärischen Sackgasse, in die sich die Türkei in Syrien begeben hatte, hätte klar sein müssen, dass es nicht mehr allzu lange dauern kann, bis der Machtpolitiker Erdogan die Flüchtlingskarte auch tatsächlich zieht. Nun geht in Europa erneut der Geist von 2015 um. Die Festung Europa muss halten, doch zu welchem Preis?

 

Autor der Reportage ist Aret Demirci, Projektassistent des Regionalbüros der Stiftung Südost- und Osteuropa mit Sitz in Sofia.

Er wurde begleitet von Dr. Athanasios Grammenos, Projektmanager des Stiftungsbüros in Griechenland 

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