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Das Ende der Langeweile

Hoffnung keimt: In einem Bundestag mit sechs Fraktionen kann endlich wieder gestritten werden
Demokratie

Vier Oppositionsparteien im Bundestag: "Eine riesige Chance für die parlamentarische Demokratie, ihre Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen."

© iStock / MarioGuti

Nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen wird es im Bundestag voraussichtlich vier Oppositionsparteien mit ganz unterschiedlicher Couleur geben: FDP und Grüne sowie AfD und Linkspartei. Das ist eine wirklich gute Nachricht für die parlamentarische Demokratie. So sieht es Professor Karl-Heinz Paqué, unser stellvertretender Vorstandsvorsitzender.

Karl-Heinz Paqué seit 2018

Karl-Heinz Paqué seit 2018 Vorstandsvorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

Was für ein gewaltiger Unterschied! In der letzten Legislaturperiode gab es eine Große Koalition, die sich zwei parlamentarischen Oppositionsparteien gegenübersah, und beide gehörten zum linken politischen Spektrum. Ergebnis: langweilige Debatten im Bundestag, aber riesige Aufregung draußen an den Stammtischen der Bürger, die sich ausgeschlossen fühlten. Damit ist jetzt Schluss: Sollte es wieder zu einer Großen Koalition kommen oder erstmalig zu einer SPD-tolerierten CDU-Minderheitsregierung, dann sieht diese sich einer kräftigen Opposition gegenüber. Und die hat ein enormes politisches Spektrum.

Von Rechtsaußen und Linksaußen werden AfD und Linke lautstark und polemisch auf die Regierung schimpfen, und dabei in vielen Punkten gar nicht weit auseinander liegen - so etwa in der Wirtschaftspolitik gegen Globalisierung und für Protektionismus, in der Außenpolitik gegen die atlantische Tradition Deutschlands und mit besonderer Nachsicht gegenüber der Autokratie Putins. In der gemäßigten Mitte werden sich Grüne und FDP tummeln: die Grünen weiter links mit dem Ziel der strikt ökologischen Ausrichtung des Landes, die FDP in der bürgerlichen Mitte mit der Zukunftsvision einer offenen Gesellschaft, die auf Freiheit und Selbstverantwortung sowie Kreativität und Innovationskraft setzt. Jeder der vier Parteien kann derzeit auf eine Wählerschaft von etwa 9 bis 12 Prozent der Bevölkerung setzen, zusammen sind dies deutlich über 40 Prozent gegenüber den gerade mal 54 Prozent, die CDU und SPD zusammen auf die Waage bringen.

Das heißt noch lange nicht, dass die Regierung instabil sein muss, denn Mehrheit ist Mehrheit, ob nun in einer Großen Koalition oder in einem gut vorbereiteten Modell der Tolerierung. Dies gilt umso mehr, als die Opposition gerade wegen ihres breiten Spektrums kaum jemals zusammen finden kann oder will. Aber sie wird - jede Fraktion für sich - ihre Stimme erheben, deutlich vernehmbar, kritisch und kontrovers. Keine Nachrichtensendung wird es sich leisten können, daran achtlos vorbeizusehen, kein Zeitungsbericht wird eine der vier parlamentarischen Oppositionsfraktionen ignorieren. Und die Wähler der neu vertretenen Parteien werden sich in den Argumenten von jenen wiederfinden, denen sie ihre Stimme gegeben haben.

Oder auch nicht! Bei jenen, die große populistische Versprechen gegen "die da oben" gemacht haben, mag schnell die Diskrepanz auffallen, die zwischen ihren Stammtischparolen und der Qualität der Argumentation in der Sache liegt. Und das ist gut so. Jedenfalls werden sie jetzt gehört und gelesen: öffentlich, am Rednerpult, vor mehr als 700 Zuhörern im Plenum des Bundestags und Millionen von Zuschauern am Fernsehen, nachlesbar in den seriösen Zeitungen und munteren sozialen Medien. Analoges gilt für diejenigen, die mit ernsten Sachargumenten, aber unterschiedlichen Überzeugungen um die Zukunft Deutschlands ringen. Ihre Konzepte stehen sich nun endlich direkt gegenüber: frontal in der Volksvertretung, im offenen Schlagabtausch.

Ohne Scheuklappen die Zukunft diskutieren

All dies ist eine riesige Chance für die parlamentarische Demokratie, ihre Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. Dies verlangt allerdings gute, harte und professionelle Arbeit. Da liegt schon eine Ironie der Geschichte: Jahrelang wurde ständig über neue Formen der politischen Kommunikation sinniert und die klassische Volksvertretung als Forum des Meinungsstreits fast schon abgeschrieben. Und da ist er nun wieder, der Deutsche Bundestag, lautstärker und machtvoller denn je.

Bleibt zu hoffen, dass die Oppositionfraktionen die Chance auch nutzen. Dies gilt vor allem für jene, die wie FDP und Grüne tatsächlich konkrete und konstruktive Vorstellungen zur Gestaltung der Zukunft haben, wenn auch zum Teil sehr unterschiedliche. Sie können - jenseits der diffusen Programmbreite der Volksparteien - den Menschen den Appetit vermitteln, über die Zukunft mit Leidenschaft nachzudenken.

Eine ähnliche Aufgabe haben die politischen Stiftungen und deren Kooperationspartner. Sie sind dabei offener als die Parteien selbst. So freut sich die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in der Zukunft mit dem Zentrum Liberale Moderne, einer jüngsten Gründung von Marie-Luise Beck und Ralf Fücks, beide langjährig engagierte Politiker von Bündnis90/DieGrünen, bei einzelnen Projekten zu kooperieren. Und mit der Konrad-Adenauer-Stiftung besteht seit langem ein fruchtbarer Austausch, den es zu intensivieren gilt. Selbst nach dem Scheitern von Jamaika gilt eben: Die Zukunft ist zu wichtig, als dass man nicht über sie diskutieren sollte - hochkontrovers, aber ohne Scheuklappen.