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Brasilien
Die gerettete Krone

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Menschen demonstrieren in Sao Paulo, Brasilien, ihre Unterstützung für den ehemaligen brasilianischen Präsidenten Luiz Inacio Lula da Silva, der sich zur Wiederwahl stellt.

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Marcelo Chello

Derlei hatte die Welt lange nicht gesehen: Ein ganzer Hofstaat, Königsfamilie, Aristokraten und hohe Staatsbeamte, hisste im November 1807 in Lissabon die Segel und stach in See, im Gepäck das Staatsarchiv, allerhand edles Mobiliar und Teile der Schatzkammer. Das Ziel: das rund 3.500 Seemeilen (knapp 6.500 Kilometer) entfernte Salvador da Bahía in Brasilien auf der anderen Seite des Atlantiks. Man war auf der Flucht vor den Truppen Napoleons und seinen spanischen Verbündeten. Der Korse hatte Portugal im August 1807 im Frieden von Tilsit dazu gedrängt, sich der Kontinentalsperre gegen England, einem Verbündeten der Braganza-Dynastie, anzuschließen. Prinzregent Johann, der für seine geistig labile Mutter Königin Maria I. die Amtsgeschäfte führte, lehnte ab und organisierte, mit Unterstützung des ihm zu Dank verpflichteten London, die Exilierung der politischen und administrativen Elite seines Landes. In Brasilien erkor man Río de Janeiro zur königlichen Residenz und damit zum neuen De-facto-Zentrum des portugiesischen Weltreichs. Der Umzug eines Königshofs von der Alten in die Neue Welt: Das war ein Novum in der europäischen Kolonialgeschichte.

Auch wirtschaftlich sollte sich die Aufwertung der Kolonie gegenüber dem besetzten Mutterland bald als Segen erweisen. Portugal war mehr denn je auf die Einnahmen in Brasilien angewiesen. Die Wirtschaftspolitik des Weltreichs hatte, dem Geist der Epoche entsprechend, lange im Zeichen des Merkantilismus gestanden. Die neue politische Konstellation stellte diese Philosophie in Frage. Die Häfen Brasiliens wurden für das Ausland geöffnet, der Außenhandel gewann an Dynamik, es entstand eine florierende einheimische Textilindustrien. Bereits 1808 war eine erste Bank gegründet worden, zwecks Regelung des Zahlungsverkehrs und des Kreditwesens. Der Abschied von merkantilen Wirtschafts- und Handelspraktiken setzte einen historisch bespiellosen Liberalisierungsschub frei.

Reizvoller als eine Rückkehr in die Alte Welt

Dem wirtschaftlichen Erfolg folgte ein rechtlicher: 1815 stellte der Wiener Kongress Brasilien mit Portugal gleich. Im Dezember wurde das Vereinigte Königreich von Portugal, Brasilien und der Algarve aus der Taufe gehoben. Die drei Staatsteile firmierten als gleichberechtigte Titularkönigreiche. Prinzregent Johann hatte auch nach Napoleons Niederlage bei Waterloo im Juni, rund sechs Monate zuvor, eigentlich nicht mehr die Absicht, nach Europa zurückzukehren. Die politischen und wirtschaftlichen Umstände, der Wohlstand, den der Handel mit Europa seiner Wahlheimat beschert hatte, waren reizvoller als die Perspektive einer Rückkehr in die Alte Welt. Nach dem Tod seiner Mutter Maria im März 1816 bestieg er als König Johann VI. den Thron.

Im Portugal der Nach-Kongress-Ära traten nationale und liberale Kräfte auf den Plan. Das Ziel: die Unabhängigkeit von fremden, diesmal englischen Einflüssen – London hatte dabei geholfen, die Franzosen zu vertreiben – und die Errichtung einer konstitutionellen Monarchie. Man erreichte die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung. Johann verfolgte die Entwicklungen in der alten Heimat mit Skepsis. Im Februar 1821 rang er sich, getrieben von Vertretern des Militärs sowie vom auch in Brasilien beständig an Stärke und Einfluss gewinnenden liberalen Bürgertum, zu dem Entschluss durch, die noch im Entstehen begriffene Verfassung anzuerkennen und ihren Geltungsbereich ohne Abstriche auf Brasilien zu übertragen. Ein Gremium, das brasilianische Delegierte für die Cortes, die Ständeversammlung in Lissabon, auswählen sollte, beschloss, dass der König im Land bleiben solle. Dieser war für jedermann erkennbar längst zum Spielball der konkurrierenden politischen Kräfte des nachabsolutistischen Zeitalters und damit zum Getriebenen geworden.

Seine Schuldigkeit als Refugium der Luxuskategorie getan

Im April 1821 trat Johann die Rückreise in die portugiesische Heimat an. Nur seinen Sohn Peter, den Kronprinzen, ließ er in Río. Dieser Aufbruch zurück in die Alte Welt hatte natürlich eine fatale Signalwirkung. Er schien den Beginn eines wuchtigen historischen Rollbacks zu markieren. Brasilien hatte seine Schuldigkeit als Refugium der Luxuskategorie getan. Die politische Gleichstellung mit Portugal wurde kassiert. In Brasilien fühlte man sich natürlich brüskiert. Peter schlug sich auf die Seite des Volkes. Im Juni 1822 berief er eine verfassungsgebende Versammlung ein – eine entscheidende Etappe auf dem Weg in die Unabhängigkeit, die Peter am 7. September in São Paulo verkündete, allen Drohung der Cortes von Lissabon zum Trotz. Im Oktober wurde er zum „Konstitutionellen Kaiser und Verteidiger Brasiliens“ ausgerufen, im Dezember bestieg er als Dom Pedro I. den Thron. Die Krone war einstweilen gerettet. Drei Jahre später, 1825, erkannte das einstige Mutterland Portugal mit dem Vertrag von Río de Janeiro die Unabhängigkeit Brasiliens schließlich an

Im Gegensatz zu weiten Teilen des spanischen Kolonialreichs galt Brasilien in den folgenden Jahrzehnten politisch und wirtschaftlich als eher stabil. Die Verfassung von 1824 kann als liberal bezeichnet werden, wobei die rechtliche Benachteiligung von Frauen und Sklaven nicht unerwähnt bleiben darf. Auf nationaler Ebene wurde ein Zweikammersystem etabliert. Die Wahlen, auch die auf regionaler und lokaler Ebene, erfolgten unter vergleichsweise demokratischen Vorzeichen. Fast sieben Jahrzehnte hielt das Kaiserreich. 1831 dankte Peter ab, auf Druck des Parlaments. Sein Sohn bestieg als Kaiser Peter II. den Thron. Er herrschte knapp sechzig Jahre, bis ein Militärputsch 1889 das imperiale Kapitel der Geschichte Brasiliens schloss und die Monarchie durch eine Republik mit starkem Präsidenten an der Spitze ersetzte. Dom Pedro II. ging ins Exil nach Frankreich, wo er nur zwei Jahre später verstarb.

Utopische Neuerer und alte Eliten

Der Sonderweg, den Brasilien 1808 mit der Übersiedlung des Braganza-Hofstaats nach Río eingeschlagen und über weite Strecken des 19. Jahrhunderts durchgehalten hatte, kam damit an sein Ende. Wie viele seiner neu entstandenen hispanophonen Nachbarstaaten geriet auch das ehemalige Kaiserreich in den Folgejahrzehnte zunehmend zwischen die Konfliktlinien von utopischen Neuerern und alten Eliten, von Putschisten und Populisten, von Militärherrschern und Redemokratisierungsheroen.

Der 200. Jahrestag der Unabhängigkeit fiel mitten in einen Jahrhundertwahlkampf. Am 2. Oktober, stellt sich der aktuelle Präsident, der Rechtspopulist Javier Bolsonaro, zur Wiederwahl. Sein gewichtigster Gegenspieler: Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva von der linken Arbeiterpartei. Die Umfragen sehen Lula vorne, zum Teil recht deutlich. Mit einer Leihgabe aus Portugal aus Anlass des Staatsjubiläums hoffte Bolsonaro, die Stimmung zu seinen Gunsten drehen zu können: Für zwei Wochen wurde das in Formaldehyd eingelegte und in einer ansehnlichen goldenen Urne aufbewahrte Herz Kaiser Peters I. aus Portugal eingeflogen. Die Urne wurde in Brasília ausgestellt. Mit viel politreligiösem Pomp und gefühlsschwerer Rhetorik versuchte der gewählte Nachfolger, eine nationale Einheit zu beschwören, die es so längst nicht mehr gibt.

Genützt hat es ihm wenig. Die Sorge vor einer endgültigen Zerstörung der politischen Kultur im Fall einer Wiederwahl Bolsonaros ist groß. Dieser hat seinem Leitstern Donald Trump folgend damit gedroht, eine Niederlage nicht anzuerkennen. Schon der Wahlkampf ist brutal. Noch brutaler könnten die Tage und Wochen nach dem 2. Oktober werden. Das kaiserliche Herz ist mittlerweile wieder in Portugal, in der Kirche Nossa Senhora da Lapa in Porto. Die Gräben konnte es leider nicht zuschütten in der ehemaligen Kolonie.