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"Keine Einzige mehr": Polen und Polinnen protestieren gegen strenges Abtreibungsgesetz

Poland protest against abortion law
8th day of Women's Rights Protest against abortion law amendment / Wroclaw, Poland 31/10/2020 © Zuza Gałczyńska on Unsplash

In Polen gingen am Samstag Tausende Menschen auf die Straße, als Reaktion auf den Tod einer schwangeren Frau, den viele auf das strenge polnische Abtreibungsgesetz zurückführen. Die 30-jährige Izabela starb im September in einem polnischen Krankenhaus im südpolnischen Pszczyna an einem septischen Schock. Ihre Familie beschloss einen Monat danach, den Fall öffentlich zu machen. Die Aktivisten und Aktivistinnen machen das fast vollständige Abtreibungsverbot, das vom polnischen Verfassungstribunal 2020 verhängt wurde, für den Tod der jungen Frau verantwortlich. Seitens Kritiker wird das Verfassungstribunal oft als ein illegitimes Organ angesehen, das unter dem Einfluss der regierenden nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) steht.

"Keine Einzige mehr"

 

"Das Kind wiegt 485 Gramm. Aber momentan muss ich dank des Abtreibungsgesetzes [nur] hier liegen. Und es gibt nichts, was sie tun können", schrieb Izabela, bei deren Fötus schwere Missbildungen diagnostiziert worden waren, in einer von ihrer Mutter veröffentlichten Nachricht. Nach einem vorzeitigen Blasensprung wurde Izabela in der 22. Woche ihrer Schwangerschaft ins Krankenhaus eingeliefert. "Sie werden warten, bis es stirbt oder etwas anfängt. Wenn nicht, kann ich eine Sepsis erwarten. Sie können es nicht beschleunigen. Das Herz muss aufhören zu schlagen oder es muss etwas anderes passieren", fügte sie hinzu. Laut Izabelas Mutter warteten die Ärzte auf den Tod des Fötus, bevor sie ihn entfernten. Erst als der Herzschlag des Fötus aufhörte, entschieden sich die Ärzte für einen Kaiserschnitt, der jedoch zu spät kam, um Izabelas Leben zu retten.

Vor fast genau einem Jahr gab das polnische Verfassungstribunal einem Antrag von mehr als 100 rechtskonservativen Abgeordneten statt und erklärte Abtreibungen wegen fötaler Missbildungen für verfassungswidrig. Das Verfassungstribunal wird seitens Regierungskritikern oft als illegitim angesehen, da ihm vorgeworfen wird, unter dem Einfluss der regierenden PiS Partei zu stehen. Aufgrund des Justizumbaus wurden in einem juristisch und politisch umstrittenen Verfahren elf der zwölf Richter von der Regierungsmehrheit ernannt. Die Präsidentin des Gerichtshofs Julia Przylebska ist eine langjährige persönliche Freundin von Parteichef Jarosław Kaczyński. Auch die Europäische Kommission sieht die Übernahme des Gerichtswesens durch die regierende Partei als einen Verstoß gegen die Grundprinzipien von Rechtsstaat und Gewaltenteilung. Dass man dem Verfassungstribunal die Regelung für Abtreibungen übertrug, bezeichneten manche Beobachter als einen weiteren Beweis für die Instrumentalisierung der Gerichte zu politischen Zwecken in Polen.

Ein entsprechendes Gesetz, das in dem streng katholischen Land ein nahezu vollständiges Verbot von Abtreibungen einführte, trat Anfang dieses Jahres in Kraft. Nach Angaben des Nationalen Gesundheitsfonds (NFZ), der die öffentliche Gesundheitsversorgung in Polen finanziert, ist die Zahl der induzierten Fehlgeburten, zumeist Abtreibungen, bis August 2021 im Vergleich zum gleichen Zeitraum 2020 um 65 % zurückgegangen. Aufgrund eines der strengsten Abtreibungsgesetze in Europa war die Zahl der legalen Schwangerschaftsabbrüche in Polen schon vor dem Urteil niedrig und lag bei etwa 1.000 pro Jahr.

Die Aktivistinnen und Aktivisten betrachten Izabela nun als "das erste Opfer" eines nahezu vollständigen Abtreibungsverbots. Die Demonstrationen am Wochenende fanden unter dem Motto "Keine Einzige mehr" (#AniJednejWięcej) statt.

Wer ist schuld?

Letzte Woche gab das Krankenhaus bekannt, dass es zwei Ärzte suspendiert habe, die zum Zeitpunkt von Izabelas Tod im Dienst waren. In einer Erklärung auf seiner Website erklärte das Krankenhaus außerdem: "Es sollte ... betont werden, dass alle medizinischen Entscheidungen unter Berücksichtigung der in Polen geltenden gesetzlichen Bestimmungen und Verhaltensnormen getroffen wurden."

Die polnische Staatsanwaltschaft hat bereits eine Untersuchung des Falles eingeleitet, und das Gesundheitsministerium hat eine Prüfung des Krankenhauses angeordnet. Die regierende PiS-Partei bestreitet jedoch, dass der Tod der Frau mit dem Gerichtsurteil zusammenhängen könnte, und gibt stattdessen den Ärzten die Schuld. "Wenn es um das Leben und die Gesundheit der Mutter geht, ist ein Schwangerschaftsabbruch möglich, und das Urteil ändert daran nichts", sagte Premierminister Mateusz Morawiecki am Freitag letzter Woche.

Frauenrechtsaktivisten und -aktivistinnen betonen jedoch, dass das Urteil des Verfassungsgerichts das medizinische Personal verängstigt hat, Schwangerschaften abzubrechen, selbst wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist. Laut der Anwältin von Izabelas Familie, Jolanta Budzowska, haben die Ärzte Angst, dass ein Schwangerschaftsabbruch strafrechtliche Konsequenzen haben könnte.

Auch die liberale polnische Opposition macht das strenge Abtreibungsgesetz für den Tod der jungen Frau verantwortlich: „Ich kann die Tragödie einer 30-jährigen Polin nicht akzeptieren, die starb, weil Ärzte Angst vor dem unmenschlichen Gesetz des Verfassungstribunals von Julia Przyłębska hatten. Ich kann das Drama und die Angst von Frauen nicht akzeptieren, deren Leben von PiS-Barbaren bedroht wird. Przyłębska, Pawłowicz, Piotrowicz, Kaczyński, Wróblewski und all die PiS-Politiker, die es verursacht haben – Sie sind schuld. Sie haben Blut an Ihren Händen“, schrieb Adam Szłapka, Vorsitzender der liberalen Partei Nowoczesna, auf Facebook. Zusammen mit einer weiteren Abgeordneten der Nowoczesna-Partei, Monika Rosa, hatte Szłapka am Samstag vergangener Woche an den Protesten gegen das Abtreibungsgesetz in Pszczyna teilgenommen.

"Die Polen sind keine Menschen des Hasses"

Im vergangenen Jahr folgten auf das Urteil des Verfassungstribunals Massenproteste in ganz Polen, in der Tat die größten Demonstrationen in der postkommunistischen Geschichte des Landes. Einer der Hauptakteure der regierungsfeindlichen Proteste war der Allpolnische Frauenstreik (Ogólnopolski Strajk Kobiet, OSK), eine im September 2016 gegründete soziale Frauenbewegung aus Protest gegen die ersten Versuche der polnischen Regierung, ein Abtreibungsverbot einzuführen.

Marta Lempart, polnische Frauenrechtsaktivistin und Leiterin der OSK, war Gast bei der Diskussion "Bürgerin - Staatsfeindin", die im Rahmen des einwöchigen Programms des jährlich in Jihlava (Tschechische Republik) stattfindenden Inspiration Forum organisiert wurde. Die Veranstaltung fand am 28. Oktober statt und wurde vom Prager Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit mitorganisert. Während der Diskussion beschrieb Lempart ihren Weg vom Mitglied im Komitee zur Verteidigung der Demokratie, nachdem die regierende PiS-Partei mit der Umsetzung ihrer umstrittenen Justizreformen begonnen hatte, bis hin zu ihrer Tätigkeit als Aktivistin zum Schutz der Rechte und Freiheiten von Frauen seit 2016.

Lempart betonte die entscheidende Rolle der Zivilgesellschaft bei der Unterstützung des Zugangs polnischer Frauen zu Schwangerschaftsabbrüchen. Als sie über die Erfolge der Proteste für reproduktive Rechte sprach, erwähnte sie, dass im Jahr 2016 nur 37 % der polnischen Bürgerinnen und Bürger für legale Abtreibungen waren, während die Zahl derzeit viel höher ist und fast 70 % erreicht. Außerdem hat das Europäische Parlament Anfang dieses Jahres den Zugang zu Abtreibungen zum Menschenrecht erklärt. Laut Lempart hat auch die polnische liberal-konservative Opposition als Reaktion auf die Proteste begonnen, sich für legale Abtreibungen auszusprechen.

Im Jahr 2020 fanden die Proteste für legale Abtreibungen sowohl in großen als auch in mittelgroßen und kleinen polnischen Städten statt. Laut Lempart unterstützen sogar 28 % der Regierungswähler die OSK-Proteste und 60 % der Polen sind für die gleichgeschlechtliche Ehe. "Die Polen sind konservativ, aber sie sind keine Menschen des Hasses", sagt der OSK-Leiterin.

Wir befragten Marta Lempart zu den konkreten Auswirkungen der Einschränkung des Abtreibungsgesetzes, zu den aktuellen Aktivitäten des Allpolnischen Frauenstreiks sowie dazu, wie die EU zur Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit in Polen beitragen kann.

Sehen Sie hier das Interview (auf Englisch):

Interview mit Marta Lempart während des Inspiration Forum in Jihlava, Tschechien (28.10.2021)

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Marta Lempart - polnische Aktivistin für Frauenrechte. Im Jahr 2016 war sie an der Gründung der Bewegung "Allpolnischer Frauenstreik" (Ogólnopolski Strajk Kobiet) beteiligt, die zu einem der Hauptakteure der polnischen Anti-Regierungs-Proteste wurde, die im Oktober 2020 nach der Entscheidung des Verfassungsgtribunals zum Abtreibungsgesetz ausbrachen. Die Bewegung fordert unter anderem mehr Rechte für Frauen und LGBT+ Personen, die Unabhängigkeit der Gerichte, Rede- und Versammlungsfreiheit sowie den Zugang zu einer besseren Gesundheitsversorgung.

Natálie Maráková ist Projektmanagerin für Mitteleuropa und die baltischen Staaten im Stiftungsbüro in Prag.