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Europäische Union
Die Krise der Rechtsstaatlichkeit in Polen

Warum Europa sich einmischen muss
Die Krise der Rechtsstaatlichkeit in Polen
Der Gerichtshof in Luxemburg hat in seiner jüngsten Entscheidung klargestellt, dass Richter in den EU-Mitgliedstaaten die Unabhängigkeit der Justizsysteme in anderen Mitgliedstaaten nicht als selbstverständlich gegeben ansehen. © Cédric Puisney/ CC BY 2.0 commons.wikimedia.org

Erzwungene Pensionierungen beim Obersten Gerichtshof, Verkürzung der Amtszeit der Gerichtspräsidentin und eine nächtliche Sitzung im Parlament, um die politische Nominierung neuer Richter zu beschleunigen: Die Regierungspartei Polens schreckt vor nichts zurück, um die Kontrolle über das Justizsystem zu übernehmen und dessen Unabhängigkeit zu untergraben. Die jüngsten Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zeigen deutlich, dass diese Maßnahmen nicht nur die polnischen Bürger, sondern auch den Kern der europäischen Integration betreffen können. In einem Gastbeitrag analysiert Kamila Gasiuk-Pihowicz diese Urteile.

Der Gerichtshof in Luxemburg hat in seiner jüngsten Entscheidung klargestellt, dass Richter in den EU-Mitgliedstaaten die Unabhängigkeit der Justizsysteme in anderen Mitgliedstaaten nicht als selbstverständlich gegeben ansehen (Urteil im Fall C-216/18 PPU, 25 July 2018). Das gilt umso mehr für Polen, wo die Europäische Kommission angesichts umstrittener Justizreformen ein Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 der Europäischen Verträge eingeleitet hatte. Der EuGH erklärte, ein irisches Gericht könne durchaus die Überstellung eines mutmaßlichen Drogendealers nach Polen ablehnen, wenn es der Ansicht sei, dass die betreffende Person dort kein faires Verfahren bekäme. Einer der Gründe könnte die fehlende Unabhängigkeit von Richtern sein.

Der EuGH stellte zudem klar, dass eine solche Entscheidung als außergewöhnlich angesehen werden und einer strengen zweistufigen Bewertung folgen sollte. In dem konkreten Fall müsste das Gericht nicht nur systematische Mängel des Justizsystems in Polen nachweisen, sondern auch ein tatsächliches Risiko in dem speziellen Fall belegen. Trotz dieser Kriterien gab der EuGH dem irischen Gericht die Befugnis, die Unabhängigkeit der polnischen Justiz zu beurteilen. Wenn es für notwendig erachtet werde, könne das Gericht auch den Europäischen Haftbefehl blockieren. Eine solche Maßnahme würde die polnische Justiz letztlich von einer Teilhabe am gemeinsamen Justizsystem der EU ausschließen.

Rechtsstaatlichkeit: eine europäische Angelegenheit

Der jüngste Fall ist nicht der erste, bei dem der EuGH daran erinnert, dass die Unabhängigkeit der Justiz eine gesamteuropäische Angelegenheit ist. In einem früheren Urteil dieses Jahres prüfte das luxemburgische Gericht die Gehaltskürzungen im portugiesischen Justizwesen. Da die Maßnahmen Teil eines nationalen Sparprogramms und zeitlich begrenzt waren, betrachtete der EuGH sie jedoch nicht als Beeinträchtigung der Unabhängigkeit des Justizsystems (Urteil im Fall C-64/16, 27 February 2018). Das Gericht betonte mit Nachdruck, dass EU-Mitgliedstaaten verpflichtet seien, die volle Unabhängigkeit der Gerichte zu wahren.

Bei dieser Gelegenheit wies der EuGH darauf hin, dass er selbst das Vorrecht habe zu beurteilen, ob betroffene Stellen in den Mitgliedstaaten „ihre richterlichen Funktionen völlig autonom ausüben können, ohne hierarchischen Zwängen unterworfen oder einem anderen Organ untergeordnet zu sein.“ Dieses Vorrecht ergäbe sich aus der Tatsache, dass alle Gerichte in den EU-Mitgliedstaaten über Auslegungen des EU-Rechts entscheiden können und somit das EU-Rechtssystem bildeten.

Die Krise in Polen vertieft sich

Trotz Warnsignalen aus Luxemburg und Brüssel weigert sich die Regierungspartei Polens, die Konsequenzen ihrer Entscheidungen, die Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit des Justizsystems zerstören, anzuerkennen. Ganz im Gegenteil, der Prozess schreitet weiter voran. Ende Juli, als die meisten Polen bereits im Urlaub weilten, änderte das Parlament zum fünften Mal das Gesetz zum Obersten Gerichtshof. Wie so häufig in letzter Zeit wurde das Gesetz von der Regierungsfraktion über Nacht beschlossen und, nachdem erneut Grundprinzipien jeder Parlamentsdebatte verletzt wurden, durch den Präsidenten innerhalb weniger Stunden unterzeichnet.
 

Die Krise der Rechtsstaatlichkeit in Polen
Nächtliche Änderungsanträge hatten das Ziel, die Nominierung neuer Richter zu beschleunigen – insbesondere die eines neuen Präsidenten des Obersten Gerichtshofs, der sich künftig gegen keine Maßnahmen der derzeitigen Regierung stellen würde. © Piotrus/ CC BY-SA 3.0 commons.wikimedia.org

Die Änderungsanträge hatten das Ziel, die Nominierung neuer Richter zu beschleunigen – insbesondere die eines neuen Präsidenten des Obersten Gerichtshofs, der sich künftig gegen keine Maßnahmen der derzeitigen Regierung stellen würde. Die Gesetzesänderung folgte bereits vollzogenen Frühpensionierungen innerhalb des Obersten Gerichtshofs und der Zwangsbeurlaubung des Präsidentin, was beides ganz offensichtliche Verletzungen der Unabhängigkeit des Justizsystems und der polnischen Verfassung darstellen.

Die polnischen Bürger tragen die Lasten

Ein Justizsystem, das seiner Unabhängigkeit beraubt wurde, ist für die Bürger des betroffenen Landes offenkundig katastrophal – man stelle sich nur einmal vor, sie würden in einen Rechtskonflikt mit einer öffentlichen Institution oder mit einem lokalen Politiker geraten. Betrachtet man den Fall im europäischen Kontext, zeichnet sich ein ähnlich bedenkliches Bild. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zeigt, dass Entscheidungen polnischer Gerichte international wegen fehlender Unabhängigkeit in Frage gestellt werden können. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Unternehmen und Einzelpersonen, die ihren Fall vor einem polnischen Gericht verlieren oder einen nachteiligen Ausgang des Verfahrens in Polen erwarten, versuchen werden, das Argument der richterlichen Unabhängigkeit zu nutzen, um ihre Interessen zu schützen.

Dies wiederum hätte zur Folge, dass die Wirksamkeit von Strafverfahren in Polen geschmälert würde und polnische Unternehmen, insbesondere solche mit transnationalen Rechtskonflikten, Nachteile erfahren. Hier muss jedoch deutlich hervorgehoben werden: Diese Situation wird weder vom EuGH noch von der Europäischen Kommission verursacht, die allein ihren Verpflichtungen nachgekommen ist, als sie das Verfahren nach Art. 7 einleitete. Es liegt in der alleinigen Verantwortung der polnischen Regierungspartei „Recht und Justiz“, die systematisch gegen das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit verstoßen hat.

Dominoeffekte in Europa

Sobald die Lawine des rechtlichen Misstrauens in Gang gesetzt ist, wird es nicht nur Polen betreffen, sondern den Kern europäischer Integration. Der Binnenmarkt beruht insbesondere auf dem Vertrauen, das den Justizsystemen in den Mitgliedstaaten zukommt. Wir Bürger vertrauen darauf, dass Gerichte die Durchsetzung von Normen und Standards in allen EU-Mitgliedstaaten auf einem angemessenen Niveau sicherstellen und grenzüberschreitende Konflikte unvoreingenommen lösen. Die jüngsten Entwicklungen in Polen untergraben dieses Vertrauen. Gleichzeitig bestätigte der Europäische Gerichtshof sein Recht, zu überprüfen, ob die Justizsysteme der Mitgliedstaaten die Anforderungen erfüllen, die in den EU-Verträgen festgeschrieben sind, und nationalen Gerichten die Möglichkeit eröffnet, Beurteilungen gegenüber den Gerichten anderer EU-Mitgliedstaaten vorzunehmen. Nach der ersten Welle negativer Beurteilungen könnte wachsendes Misstrauen das Funktionieren des gesamten EU-Rechtssystems beeinträchtigen. Es würde den Binnenmarkt und andere Bereiche der europäischen Zusammenarbeit aushebeln.

Die Krise der Rechtsstaatlichkeit in Polen
Kamila Gasiuk-Pihowicz ist polnische Politikerin und Rechtsanwältin. Sie ist führendes Mitglied der liberalen Partei „Nowoczesna“ und Abgeordnete des Sejm. © Adrian Grycuk/ CC BY-SA 3.0 PL commons.wikimedia.org

Dieses düstere Szenario kann immer noch vermieden werden. Selbst in Polen, wo der angerichtete Schaden für das Justizsystem bereits sehr hoch ist, könnte es rückgängig gemacht werden, wenn die demokratischen Länder ihren politischen Einfluss wieder durchsetzen können.  Die Europawahlen im nächsten Jahr werden eine einzigartige Gelegenheit sein, um ehrlich mit unseren Bürgern darüber zu sprechen. Wir müssen klarstellen, dass Europa nur auf der Grundlage der Rechtsstaatlichkeit zusammenhalten kann. Die Polen kennen die Vorteile, die ihnen die europäische Integration gebracht hat, sehr gut. Wer systematisch gegen die Rechtsstaatlichkeit verstößt, untergräbt die Zukunft dieses vereinten Europas und setzt es unmittelbar in Gefahr.

Kamila Gasiuk-Pihowicz ist führendes Mitglied der liberalen Partei „Nowoczesna“ und Abgeordnete des Sejm.