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Literatur
Das kalte Herz. Kapitalismus: Die Geschichte einer andauernden Revolution.

Online-Rezensionen des Jahrbuchs zur Liberalismus-Forschung 1/2020
Das kalte Herz
© rowohlt Berlin

Der Kapitalismus hat zweifelsohne einen schlechten Ruf, der ihn seit seiner Entstehung vor etwa 400 Jahren eigentlich stets begleitet hat, am wenigstens noch kurz nach dem Zusammenbruch seines größten Konkurrenten, des Sozialismus sowjeti-cher Prägung. Diesem permanent lädierten Ansehen steht aber gegenüber, dass der Kapitalismus sich von einer kleinen Ecke Nordwest-Europas inzwischen weltweit ausgebreitet hat und eigentlich in unterschiedlichen Formen überall auf dem Globus anzutreffen ist. Dieser „Siegeszug“ hat etwas mit den Folgen zu tun, die das kapitalistische Wirtschaften bei denen bewirkt, die seinen Prinzipien unterliegen: Es hat eine ungeheure Wohlstandsvermehrung hervorgebracht, vor allem dort, wo man ihm am längsten gefolgt ist. So hat sich in Westeuropa in den letzten vier Jahrhunderten das Pro-Kopf-Einkommen verzwanzigfacht (S. 601), und zwar gerade auch, wie immer wieder in diesem Buch betont wird, für die weniger Begüterten.
Werner Plumpe versucht in seiner „kapitalistischen Gesamtgeschichte“ (mit klaren Schwer-punkten auf dem Nordatlantik) die Entstehung und den Aufstieg des kapitalistischen Wirtschaftens ebenso zu erklären wie die permanente Kritik daran, für die auch der Titel gebende Märchendichter Wilhelm Hauff steht, der aber wie die meisten anderen Kritiker – und auch mancher Apologeten – Plumpe zufolge das Wesen des Kapitalismus nicht verstanden hat. Vor diesem Hintergrund ist klar, dass dieses Buch vielen nicht gefallen wird, aber Pflichtlektüre nicht nur für Geschichtsstudenten, sondern auch Liberalgesinnte sein sollte, da es den wichtigen Zusammenhang von Freiheit und Wohlstand unschlagbar nachweisen kann.

Denn Entstehung und Aufstieg des Kapitalismus waren nicht möglich, ohne dass der jeweilige Staat nicht nur ein bestimmtes Maß an Freiheit zuließ, sondern auch garantierte: „Der Kapitalismus beruht auf dem evolutionären Zusammenspiel von dezentralen Privateigentumsstrukturen als Motoren der Variation, preisbildenden Märkten als Katalysatoren des Markterfolgs und schließlich auf der politischen Stabilisierung dieser evolutionären Mechanismen“, heißt es in Plumpes abschließendem Fazit (S. 612). Das verlangt gerade von den Staatsführungen sehr viel, denn sie müssen nicht nur das Privateigentum zulassen, sondern sich auch in ihrem Drang nach Einnahmen zügeln. Das fällt allen bekannten Regierungsformen häufig schwer, Demokratien vielleicht besonders. Zugleich müssen Regierungen aber auch „Reparaturbetrieb“ sein, um die der kapitalistischen Dynamik zugehörigen Schwankungen und Umbrüche bzw. Verwerfungen abzumildern, ohne aber dabei das langfristig fruchtbare Wesen des Kapitalismus zu zerstören. Das ist eine permanente Gratwanderung zwischen Freiheit und staatlichen Eingriffen, die oft schiefgeht, wie vor allem das Europa des 20. Jahrhunderts zeigt, wo der Kapitalismus zur Jahrhundertmitte wohl ohne das Eingreifen der USA von außen zu seinem Ende gekommen wäre (S. 286, 393 u. 398). Dass die FDP damals zu den wenigen pro-kapitalistischen und damit den zukunftsweisenden Kräften gehörte, sei ausdrücklich vermerkt.

Aber der benevolente Hegemon von damals legte zugleich die Grundlage für die nächste Krise des Kapitalismus: Mit dem System von Bretton Woods wurde zwar das internationale Währungssystem wieder stabilisiert und der Weltmarkt wieder offengemacht, auf dem die junge Bundesrepublik nicht zuletzt dank einer unterbewerteten Währung schnell Terrain gewinnen konnte (S. 417 ff., 470). Allerdings eröffnete sich damit für die USA die Möglichkeit, ihre Verbindlichkeiten mittels der Druckerpresse zu begleichen, ein Verfahren, was schon zuvor die europäische Wirtschaft zerrüttet hatte. Mittelfristig wurde mit den vagabundierenden „Eurodollars“ – und dann Petrodollars – der Weg zu jenem „Finanzkapitalismus“ eingeschlagen, der heute allenthalben beklagt wird (S. 579).
Werner Plumpe ist von einem solchen Lamento weit entfernt, da über Erfolg und Nicht-Erfolg von Kapitalisten eben nicht die Moral, sondern die „kalte“ Marktrationalität, also die Abnahme der Produkte bei den Konsumenten entscheidet. Insofern war die Auflösung der „Deutschland AG“ im Zuge der Liberalisierung der Finanzmärkte kein Ausfluss sinistrer Mächte, sondern eine logische Folge der wirtschaftspolitischen Sklerose Deutschlands um die Jahrtausendwende (S. 566 ff. u. 607). Genau dieses Fehlen eines moralischen Ansatzes im Kapitalismus hat immer wieder seine Kritiker auf den Plan gerufen, kamen sie von den Kirchen oder aus der Philosophie und sogar aus der Wissenschaft. Sie alle einte und eint bis heute ein Hang zur Dogmatik mit wenig Bezug zur „kapitalistischen Realität“, worunter nicht nur Alt- und Neomarxisten, sondern für Plumpe auch manche Libertären fallen (vgl. S. 496 f.).
Das „Kalte Herz“ überzeugt als ein ungemein vielfältiges Buch, das wirtschaftspolitische Debatten mit einer breiten wirtschaftsgeschichtlichen Darstellung fruchtbar verbindet. Es gliedert sich nach einer Einführung und der Geschichte seiner Entstehung, die für Plumpe in einem Zusammenwirken von vielen Faktoren begründet liegt und sich allen eindimensionalen Erklärungsmustern – und seien sie auch von einem wissenschaftlichen Titanen wie Max Weber hervorgebracht – entzieht, in vier große Abschnitte: der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts, den „schwarzen Jahren“ zwischen 1914 und 1945, der folgenden westeuropäischen „Reconstruction“ bis Mitte der 1970er Jahre und dem weltweiten Aufstieg des Finanzkapitalismus seither. Am Ende steht ein Fazit zu „Geschichte und Zukunft des Kapitalismus“, letztere wird hier vor allem mit Blick auf die Haltung der aktuell politisch Handelnden ambivalent eingeschätzt.
Auch für den Nichtökonomen liest sich das Buch, vielleicht abgesehen vom Schlusskapitel, weitgehend leicht, es ist auch mit seinem ausführlichen Register als Lehrbuch für alle an der Wirtschaftsgeschichte Interessierten angelegt. Aber auch der Politikhistoriker lernt aus diesem Blickwinkel sehr viel, etwa warum Friedrich Naumann nach 1900 seine Idee eines liberal-sozialdemokratischen Großblocks propagiert hat, bei dem er wohl eher die Gewerkschaften als die schwankende Sozialdemokratie als Bündnispartner der Liberalen im Auge hatte (vgl. S. 243 ff.). Auch sein umstrittenes „Mitteleuropa-Buch“ mit der faktischen Absage an den Welthandel ist gar nicht so solitär, wie es zunächst den Anschein hat: Auch die deutsche Industrie setzte bald nach Beginn des Weltkriegs auf Autarkie, da eine Rückkehr zur globalen Wirtschaft wie vor 1914 unwahrscheinlich schien (S. 289). In der Tat verwehrten die Siegermächte nach 1918 den Deutschen auch den Zugang auf den Weltmarkt, wobei Plumpe vor allem die Politik der USA kritisiert, die sich die Kriegsschulden ihrer Verbündeten bezahlen ließen, ihren Binnen-markt diesen aber versperrten. Versailles bekommt bei Plumpe, der sich der Kritik von Keynes daran anschließt, keine gute Note.

So vermittelt das „Kalte Herz“ sowohl viele interessante Einzelerkenntnisse – wo bekommt man schon mal den Unterschied von Neo- oder Ordoliberalen in so knapper Präzision zusammengefasst wie hier (vgl. S. 378 ff.) – als auch Einblicke in die großen Zusammenhänge, gerade weil hier nicht dogmatisch, sondern historisch-pragmatisch vorgegangen wird. Liberale können sich dadurch in ihren Grundannahmen bestätigt fühlen. Aber nicht allein dies macht dieses Buch zu einer wirklich gewinnbringenden Lektüre, man kann ihm eine große Verbreitung und Rezeption nur wünschen.

Zweimal jährlich informiert das Archiv des Liberalismus über Neuerscheinungen zum Thema Liberalismus. Vorgestellt werden diesmal zwanzig wissenschaftliche Publikationen zu Theorie, Geschichte und Gegenwart des deutschen und internationalen Liberalismus. Die Rezensionen sind über das Internetangebot des Archivs des Liberalismus sowie auf der Rezensionsplattform recensio.net dauerhaft abrufbar. Kontaktadresse für alle, die aktiv durch Kommentare oder Rezensionsvorschläge an der wissenschaftlichen Begleitung der Liberalismus-Forschung teilnehmen wollen, ist juergen.froelich@freiheit.org.