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USA
Amerika am Scheideweg

Überall in den USA gehen die Menschen auf die Straße, um zu protestieren. Es ist der größte Aufstand, den das Land seit Jahrzehnten erlebt hat.
Black Lives Matter
Seit Tagen protestieren Hunderttausende Menschen in den USA gegen Rassismus. Auch Polizeikessel und Ausgangssperre können sie nicht aufhalten. © picture alliance / AA | Mostafa Bassim Adly

Wer verstehen will, wie heikel die Lage in den USA ist, dem hilft ein Statement des chinesischen Außenministeriums: Man habe in Hongkong über Monate die Armee nicht einrücken lassen, obwohl in der Stadt protestiert wurde. Dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, der die Volksrepublik in der Vergangenheit für ihr Vorgehen in Hongkong heftig kritisiert hat, hätten nur wenige Tage gereicht und er habe mit dem Einsatz der Nationalgarde gedroht. Dieses Statement zeigt, dass die USA am Scheideweg stehen:

Zu allererst hat das Land seine Vorbildfunktion als Demokratie eingebüßt (das Land wurde während der Präsidentschaft von Donald Trump auf dem weltweiten Demokratie-Index von “volle Demokratie” auf “ fehlerhafte Demokratie” herab gestuft). Die USA unterminieren damit die freie, demokratische Welt, die für die Menschenrechte wirbt und ihre Einhaltung zur Bedingung für wirtschaftliche Zusammenarbeit macht. 

Innerhalb des Landes spielt der Präsident nicht nur mit den Flammen, wie es die demokratische Politikerin Nancy Pelosi ausgedrückt hat, sondern auch mit dem Verfassungsrahmen des Landes. Donald Trump greift die Institutionen des Landes an, nicht so sehr den Kongress, sondern das Oberste Gericht, das Militär, die Bundesstaaten. Die Drohung mit der Nationalgarde macht dies deutlich: zu Hilfe gerufen untersteht sie dem Gouverneur eines Bundesstaates. Sollte die Bundesebene die Armee einsetzen wollen, so hat sie nur ganz schlanke Möglichkeiten, dies zu tun. Bereits bei der Pandemie-Bekämpfung kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Donald Trump und den Bundesstaaten. Er ließ durchblicken, dass nur der, der ihn auch politisch unterstützt, Hilfe in der Krise bekomme. Gleichzeitig ließ er die Gouverneure um die knappen medizinischen Ressourcen bieten und brachte sie so gegeneinander auf.

Trump ist vollends im Wahlkampfmodus: wenn er mit der Bibel vor einer Kirche ein Foto schießen und sich dafür den Weg vom Militär frei räumen lässt, dann sind das die Bilder, die seine Anhänger sehen wollen. Der Rest des Landes ist ihm egal. In den USA wird der zum Präsidenten gewählt, der es schafft, seine Wählerbasis zu mobilisieren. Es sind nicht so sehr die zahlenmäßig geringen Konversionen zwischen demokratisch und republikanisch, die den Ausschlag geben, auch nicht die Wechselwähler per se. Es geht darum, diejenigen die republikanisch sind, am Wahltag an die Urne zu kriegen, sonst nichts. Alles ist diesem Ziel untergeordnet. Donald Trump nannte sich deshalb bereits “Präsident in Kriegszeit” (Corona), der “das Schlachtfeld dominiert” (gegenüber den Demonstranten, die er Terroristen nennt). Dass er hierbei einen Bürgerkrieg in Kauf nimmt, liegt auf der Hand, denn nichts anderes ist es per Definition, wenn die Armee eines Landes auf die eigenen Bürger schießt.

Die USA haben ein massives Rassismus-Problem, nicht erst seit gestern. Das Land ist seit dem letzten Bürgerkrieg gespalten in jene, die in den USA das Leuchtfeuer der Freiheit und Bastion der Hoffnung für die Vielen sehen und jenen, die es als exklusive Heimstaat für weiße, christliche Siedler begreifen. Weder Donald Trump noch Barack Obama haben die USA zu dem gemacht, was sie in dieser Hinsicht heute sind. Die Unversöhnlichkeit beider Seiten ist evident und wird auch nicht über Nacht verschwinden, sollte Joe Biden im November zum Präsidenten gewählt werden.

Der kleinste gemeinsame Nenner, auf dem sich die beiden Seiten — vielleicht — begegnen können, ist, dass es ein Problem mit Polizeigewalt in dem Land gibt. Der Mord an George Floyd durch Polizisten, die ihn in Gewahrsam nahmen, wurde von niemandem aus dem republikanischem Spektrum verteidigt. Doch nur wenige Wochen zuvor wurde ein Fall bekannt, wonach ein schwarzer Jogger auf seiner Laufstrecke von zwei weißen Männern grundlos verfolgt und am Ende erschossen, um nicht zu sagen hingerichtet wurde. Am 23. Februar erschossen wurde gegen die mutmaßlichen Mörder, von deren Tat ein Video existiert, erst am 7. Mai verhaftet — und das nur, nachdem das Video der Tat öffentlich gemacht und der Druck zu groß wurde.

Es ist nun wirklich an der Zeit, den strukturellen Rassismus in den USA anzugehen und zu bekämpfen. Trotz der Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte entsprechen die USA immer noch nicht ihrem Anspruch ein freies Land für all ihre Bürger zu sein. Die Proteste werden weiter gehen. Sie haben sich bereits, ähnlich wie die Proteste in Hongkong übrigens, von ihrem Ursprung, die Trauer und die Wut über die Ermoderung von George Floyd, in eine Begehung gewandelt, die konkretes Handeln von der Politik fordert. Ähnlich wie die chinatreue Führung Hongkongs versucht Donald Trump die Proteste insgesamt als hausgemachten Terrorismus einzustufen und so zu diskreditieren. Mit den Wahlen im November steht dem Land ein heißer Protest-Sommer bevor. Für den Moment sieht es nicht so aus, als würden die Demonstrationen erlahmen.

 

Alexander Görlach ist Senior Fellow am Carnegie Council für Ethik in Internationalen Beziehungen in New York. In der Vergangenheit hielt er verschiedene Positionen an der Harvard Universität in den USA und der Universität Cambridge in England inne. Im vergangenen Jahr war er Freedom Fellow der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.