EN

Europa
Umsicht statt Hast

Die Vereinigung Europas mit der Brechstange führt zur Spaltung
Es gehen nicht nur ein, sondern zwei Risse durch Europa, meint unser stellv. Vorstandsvorsitzender Karl-Heinz Paqué.

Es gehen nicht nur ein, sondern zwei Risse durch Europa, meint unser stellv. Vorstandsvorsitzender Karl-Heinz Paqué.

© iStock/ CIL868

Die neuesten Vorschläge zu einer Weiterentwicklung Europas, wie sie Martin Schulz beim SPD-Parteitag vorgelegt hat, sind ein Rezept, das Zusammenwachsen Europas zu verhindern und den Kontinent zu spalten. So sieht es unser stellv. Vorstandsvorsitzender Prof. Karl-Heinz Paqué.

"Politik beginnt mit dem Betrachten der Realität." Dieser Satz ist treffend, wenn auch schon einige Jahrzehnte alt - er wird dem Sozialdemokraten Kurt Schumacher zugeschrieben. Er gilt auch heute, gerade mit Blick auf den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Zustand Europas. Dieser lässt sich fast 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs durch zwei tiefe Gräben charakterisieren, die durch den Kontinent verlaufen: zwischen West und Ost sowie zwischen Nord und Süd.

Der West/Ost-Graben ist größtenteils die Spätfolge von 40 Jahren isolierter Planwirtschaft im Osten, die einen breiten und tiefen Flurschaden hinterlassen hat. Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn und Slowenien sowie die baltischen Länder haben sich seit ihrer Aufnahme in die Europäische Union zwar ordentlich entwickelt; sie sind inzwischen in die Weltwirtschaft fest integriert. Aber der Rückstand in Produktivität und Löhnen zum Westen bleibt deutlich und recht stabil; in keinem der Länder erreicht das Pro-Kopf-Einkommen mehr als die Hälfte des deutschen Niveaus. Diese West/Ost-Lücke können wir auch in Deutschland besichtigen: Der Aufbau Ost war ein Erfolg, aber selbst die vor dem Zweiten Weltkrieg führende mitteldeutsche Industrieregion hinkt noch immer um gut 30 Prozent im Pro-Kopf-Einkommen dem Westen hinterher. Und es ist keine Konvergenz in Sicht, jedenfalls nicht auf absehbare Zeit.

Das gesellschaftliche Bewusstsein hängt dabei eng mit der Wirtschaftsgeschichte zusammen: Die späte, aber schnelle Umstellung zu Marktwirtschaft und Demokratie ist zwar überall im Wesentlichen gelungen, hat aber doch tiefe Wunden in den Gefühlswelten der Menschen hinterlassen. Vor allem ist nicht gleich eine kosmopolitische Offenheit gegenüber Neuem und Fremdem entstanden, die ja auch im Westen Jahrzehnte gebraucht hat, um sich zu entwickeln. Die Haltung zur Aufnahme muslimischer Flüchtlinge ist dafür symptomatisch: Kein mittel- und osteuropäisches Land zeigt sich da offen, und es gibt beim Zurückweisen von Flüchtlingsquoten zwischen den nationalen Regierungen und den Menschen vor Ort keinen Dissens. Moralisierende Vorwürfe aus dem Westen sind dabei unangemessen und unklug, denn sie sorgen eher noch für eine trotzige Festigung der ablehnenden Position.

Ähnlich dauerhaft wie das West/Ost-Gefälle ist in Europa der Nord/Süd-Graben. Der "Norden" (einschließlich Deutschland und Teilen Frankreichs) ist und bleibt das innovativ-industrielle Zentrum Europas, während der mediterrane Süden zu großen Teilen bisher noch nie jene wirtschaftliche Basis hatte, die es auf längere Sicht braucht, um gegenüber dem Norden aufzuholen. Die Finanz- und Schuldenkrise hat dies in unbarmherziger Weise aufgedeckt. Und die politische Begleitmusik dazu tat ihr Übriges: im Norden lautstarker Protest gegen zu viel Transfers in den Süden, und dort das Schimpfen auf das stabilitätspolitische Diktat des Nordens. Der Süden braucht Zeit, um aus eigener Kraft die Weichen in Richtung nachhaltigen Wachstums zu stellen und nicht wieder in der Sackgasse einer "Blasenökonomie" zu landen.

Hinter dem Nord/Süd-Gefälle steht natürlich auch ein noch immer tiefer Graben in den gesellschaftspolitischen Zielvorstellungen. Er betrifft die Rolle des Staates. Im Norden folgt sie im Wesentlichen der liberalen Philosophie einer "sozialen Marktwirtschaft": der Staat als derjenige, der die Menschen durch Bildung befähigt, sie vor Not bewahrt und die rechtlichen Rahmenbedingungen setzt. Im Süden ist es der stets aktive, dirigistische Staat, der über eine technokratische Elite eine Nation wirtschaftlich lenkt, und zwar durchaus mit großem eigenen Spielraum der Gestaltung.

Soweit die Diagnose. Zugegeben, sie vereinfacht stark und liefert nicht mehr als einen gedanklichen Holzschnitt. Aber wenn sie auch nur im Kern zutrifft, ist beim weiteren Auf- und Ausbau der Europäischen Union größte Umsicht geboten, will man nicht eine weitere Spaltung riskieren. Denn derartig tiefe Gräben verschwinden nicht, indem westliche Europapolitiker wie Jean Claude Juncker, Emmanuel Macron und Martin Schulz einfach große Zukunftsvisionen ausbreiten. Im Gegenteil, sie können schweren Schaden anrichten, denn sie nehmen keine Rücksicht auf die Gemütslagen außerhalb ihrer Heimatregionen. Symptomatisch dafür ist der Vorschlag von Martin Schulz, dass jene Nationen, die sich nicht auf einen weiterreichenden Souveränitätsverzicht einlassen, wohl letztlich die Europäische Union verlassen müssten.

So darf man die Reformdiskussion in der Europäischen Union nicht anlegen. Tut man es trotzdem, wird sich der Osten frustriert dem Diktat widersetzen und neue Freunde anderswo suchen - China und Russland stehen bereit. Und die Gegner der Transferunion im Norden werden sich bestätigt sehen in ihrem Misstrauen gegenüber Brüssel und weiter in Richtung Rechtspopulismus abdriften. Was haben wir davon, außer einer dauerhaften Spaltung Europas? Mehr Sensibilität im Umgang mit Interessen anderer ist dringend geboten. Sie wäre ein Zeichen von wahrer Führungsstärke.