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Ukraine
Neuer Wind oder Symbolpolitik?

Ukraine feiert den Uabhängigkeitstag mit einer „Prozession der Würde“
Selenskyj

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj .

© picture alliance/Stringer/Sputnik/dpa

Die traditionelle Militärparade zum ukrainischen Unabhängigkeitstag wurde dieses Jahr durch eine zivil geprägte „Prozession der Würde“ ersetzt. Nicht alle befürworteten und folgten der Entscheidung des neuen Präsidenten, Tausende versammelten sich zu einem alternativen „Marsch der Verteidiger der Ukraine“. 

Am 24. August 1991 wurde die Unabhängigkeitserklärung durch das ukrainische Parlament, die Wechowna Rada, verabschiedet und damit die staatliche Unabhängigkeit der Ukraine (wieder) hergestellt. Dieser Tag wurde seit 1994 – mit Ausnahme der Jahre unter dem ehemaligen Präsidenten Wiktor Janukowitsch – in Form einer großen Militärparade zelebriert. Der Brauch knüpfte an sowjetische Zeiten an, wo jährlich zwei Paraden abgehalten wurden: Zum Tag der Arbeit am 1. Mai und am 7. November zur Erinnerung an die bolschewistische Oktoberrevolution von 1917.

Die Militärparade der unabhängigen Ukraine gewann seit der russischen Annexion der Krim und dem Beginn des Krieges im Osten des Landes besondere symbolische Bedeutung. Sie brachte den Soldaten gegenüber Wertschätzung zum Ausdruck und demonstrierte der Bevölkerung sowie dem militärischen Aggressor, dass die Ukraine willens und in der Lage ist, ihre Unabhängigkeit zu verteidigen. Im Jahr 2018 wurde die bislang größte dieser Paraden abgehalten, 4.500 Soldaten marschierten über die Kiewer Hauptstraße Chreschtschatyk, gefolgt von 250 Armeefahrzeugen, Raketenwerfern, Hubschraubern und Kampfjets. 

Fokus auf den Menschen 

Unter dem neuen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj weht nun ein anderer Wind. Bereits im Juni verkündete er, es werde keine aufwändige Militärparade geben und die dadurch eingesparten ca. 10 Millionen Euro sollten stattdessen als Bonuszahlungen an die Soldaten fließen. Neben der Kostenersparnis beabsichtige er damit den Beginn einer neuen Gedenktradition – unsowjetisch, in europäischem Stil, ideologisch wie technisch modern, mit dem Fokus auf den Menschen, nicht den Kriegsgeräten. Die Regie der Veranstaltung übergab er an Alan Badojew, einem bekannten Regisseur für Musikvideos.

Badojew inszenierte die „Prozession der Würde“ als eine Veranstaltung des Gedenkens, der Menschen und des nationalen Zusammenhalts: Teilnehmer der Prozession waren neben Vertretern der ukrainischen Streitkräfte auch Veteranen der Antiterror-Operation (ATO) im Donbas, Mediziner, Sportler, Lehrer, Diplomaten und freiwillige Helfer sowie wichtige Vertreter der Staatsführung. Nach einem stillen Gedenken an die Himmlischen Hundert – die Toten der Maidanrevolution –, einer Blumenniederlegung durch das Präsidentenpaar und einer Gruppe von Kindern wurde die Nationalhymne des Landes von mehreren Orchestern, Chören sowie Popmusikern interpretiert. Der Präsidenten hielt eine emotionale Rede, die das vordringliche Ziel des Landes beschwor: das Sterben im Donbas zu beenden.

Im Anschluss verlieh Präsident Selenskyj verdienten Militärangehörigen und Veteranen sowie Vertretern anderer Berufsgruppen Orden und Auszeichnungen für ihren Einsatz für die unabhängige Ukraine. Die ganze Prozession war sichtbar für die Kamera inszeniert und der Bruch mit der sowjetischen Tradition war deutlich. Die öffentlich geäußerten Reaktionen sind weitestgehend positiv und geben dem Präsidenten Recht, in symbolischen Dingen neue, unkonventionelle Wege zu gehen. 

Die Gegenveranstaltung

Dennoch waren längst nicht alle mit der Abschaffung der Militärparade einverstanden. Es sei ein Eingeständnis der militärischen Schwäche vor dem Feind, kritisierten vor allem Angehörige des Militärs und Veteranen selbst – und initiierten eine Gegenveranstaltung: einen „Marsch der Verteidiger der Ukraine“ am gleichen Tag und ebenfalls im Zentrum von Kiew. Organisiert von Veteranenverbänden, Freiwilligen und den Familien von Gefallenen, schlossen sich Zehntausende Menschen den Donbas-Kriegsveteranen und Angehörigen an. Politiker waren ausdrücklich nicht erwünscht. Dieser Gegenentwurf zur präsidialen Inszenierung hätte das Potential für politische Konfrontation gehabt. Doch es gelang ein Nebeneinander, mit leicht versetzten Zeiten und unterschiedlichen Routen im Zentrum der Hauptstadt. Nennenswerte Zwischenfälle blieben aus und die Kiewer hatten die Wahl zwischen zwei Formen des Gedenkens. 

Der neue Präsident scheint am ersten Unabhängigkeitstag unter seiner Regie somit alles richtig gemacht zu haben. Die veränderte Optik und der neue Stil der Politik unter dem Medienprofi Selenskyj kommen an. Ihre Bewährungsprobe werden sie in der neuen politischen Saison bestehen müssen. Am 29. August tritt erstmals das neu gewählte Parlament zusammen, in wenigen Tagen wird eine Regierung gebildet sein. Die Aufgaben sind gewaltig, von der Umsetzung wichtiger Reformvorhaben über die Bekämpfung der Korruption bis hin zur Frage, wie endlich ein stabiler Waffenstillstand im Donbas zu erreichen ist. Bald kann Selenskyj zeigen, ob sein neuer Stil ein Zeichen echter neuer Politik ist.