EN

Ukraine
Nach Säureanschlag: Ukraine kann verändert werden

Der Säureanschlag auf Katja Handsjuk ist auch nach einem Jahr ungesühnt
Handsjuk

Eine Demonstrantin hält ein Foto von Katja Handsjuk.

© picture alliance / NurPhoto

Heute vor einem Jahr wurde die ukrainische Aktivistin Katja Handsjuk in Cherson im Süden der Ukraine Opfer eines Säureanschlags. Sie erlitt schwere Verbrennungen und starb nach drei Monaten und elf Operationen im Krankenhaus. Ein Jahr nach dem Anschlag wurden die Auftraggeber noch immer nicht ausfindig gemacht.

Für die Aktivisten der Initiative „Wer hat den Mord an Katja Handsjuk bestellt?“ ist die Sachlage eindeutig: Lokale Politiker aus der Region Cherson sind für den Mord verantwortlich, da Katja Handsjuk die illegale Abholzung eines Waldes in Cherson aufgedeckt hat. Die Untersuchungen des Falls durch die ukrainischen Behörden ziehen sich in die Länge und werden offensichtlich auf allen Ebenen verschleiert.

Lennart Jürgensen, Friedrich-Naumann-Stiftung in Kyjiw, hat mit Maryna Chromych, Aktivistin der Initiative und langjährige Weggefährtin Handsjuks, gesprochen. Ihrer Meinung nach sabotiert die Generalstaatsanwaltschaft rund um Generalstaatsanwalt Lutsenko die Ermittlungen und ist an der Aufklärung des Falls nicht interessiert.  

Die Schwefelsäure-Attacke auf Katja Handsjuk liegt genau ein Jahr zurück. Was ist seitdem passiert und wie gehen die Ermittlungen voran?

Maryna Chromych: Das Verbrechen wurde auf drei Ebenen organisiert: Auf der untersten Ebene stehen die Personen, die die Tat ausgeführt haben. Die Täter wurden zwar gefasst, haben aber im Austausch für die Weitergabe von Informationen an die GPU (Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine) nur kurze Haftstrafen bekommen, maximal sechseinhalb Jahre. Auf der mittleren Ebene befinden sich verschiedene Mittelsmänner und Organisatoren des Mordes. Und auf der höchsten Ebene befinden sich Personen, die den Mord in Auftrag gegeben haben. Im Ukrainischen sagen wir dazu „Wer hat den Mord bestellt?“. Das ist das größte Problem, mit dem wir uns konfrontiert sehen: Personen, die einen Mord an Aktivisten aus der Zivilgesellschaft in der Ukraine „bestellen“, werden nicht zur Verantwortung gezogen. Oftmals liegt das daran, dass diese Personen ein öffentliches Amt wie das Bürgermeisteramt oder die Polizeidirektion bekleiden. Für uns ist es besonders wichtig, dass diese Personen auf der höchsten Ebene bestraft werden. 

In Katjas Fall sind wir überzeugt, dass drei Personen für den Auftragsmord verantwortlich sind: Wladyslaw Manher, Vorsitzender des Gebietsrates der Chersonsker Region, der ehemalige stellvertretende Gouverneur der Region Jewhen Ryschtschuk und der ebenfalls mittlerweile zurückgetretene Chef der Regionalverwaltung der Chersonsker Region Andrij Hordjejew. 

Wladyslaw Manher ist immer noch im Amt und hat daher weiterhin Einfluss auf die regionalen Institutionen und Gerichte. Er ließ sich sogar von einem lokalen Krankenhaus in Cherson eine Krankheitsbescheinigung ausstellen, um von einer Gerichtsvorladung nach Kyjiw befreit zu werden. Allerdings wird immer noch gegen ihn ermittelt, was uns die Hoffnung gibt, dass er seine Strafe bekommt. Gegen die anderen beiden hingegen wird nicht ermittelt. Wir haben die Information, dass die GPU Bestechungsgelder von Ryschtschuk und Hordjejew angenommen haben soll, um keine Ermittlungen gegen sie voranzutreiben. 

Solange der jetzige Generalstaatsanwalt Lutsenko und bestimmte SBU-Beamte im Amt sind, wird sich in dem Fall leider nicht viel tun. Wir haben daher die Hoffnung, wenn sich das System nach den Wahlen verändern sollte und diese Personen ersetzt werden, dass der Fall aufgeklärt werden kann.   

In welcher Form war Katja Handsjuk als Aktivistin vor Ort in Cherson engagiert?

Zunächst muss man sagen, dass Cherson eine Stadt ist, in der es besonders viele Probleme gibt. Für solche Städte sind Personen wie Katja ein wirklicher Lichtblick. Sie hat auf ihrer Facebook-Seite über Probleme und Machenschaften in der Stadt berichtet. Viele Bewohner der Stadt und auch lokale Nachrichten lasen ihre Posts. Ihre Art und Weise, wie sie über die Probleme schrieb, waren immer besonders und sehr unterhaltsam, da sie nicht vor ordinären Wörtern zurückschreckte. Sie nannte die Probleme beim Namen.  

In der Ukraine herrscht das große Problem, dass die sogenannte Polizei stiehlt und sich bereichert. Dies trifft in besonderem Maße auf Cherson zu, und Katja machte das zu ihrem Thema. Ihr wurden auch Bestechungsgelder angeboten, einmal von einem örtlichen Polizeiangehörigen. Nachdem sie ihm eine Abfuhr erteilt hatte, postete sie dies auch sofort auf Facebook. Fälle wie diese sind in der Ukraine leider sehr häufig. Personen, die Bestechungsgelder anbieten, sind meist in den 1990er Jahren an ihre Posten gekommen und daran gewöhnt, ihre Positionen zu nutzen, um sich über Bestechungsgelder zu bereichern. Katja geriet deswegen mit vielen Offiziellen aneinander. Man könnte auch sagen, dass da unterschiedliche Welten aufeinanderprallten, da Katja eine Person der „neuen Welt“ war. In dieser Welt wollen wir alle ohne Bestechungsgelder und persönliche Bereicherung leben. 

Was den Korruptionsfall rund um die Abholzung des Waldes betrifft, ist dieser nur einer von vielen Fällen, über die sie ausführlich berichtet hat. Abgesehen von den politischen Fällen, über die sie schrieb, war Katja große Lokalpatriotin. Sie hat an der Erneuerung des lokalen Fußballklub Krystal Cherson mitgearbeitet und setzte sich dafür ein, dass der nationale Vorentscheid zum Eurovision Song Contest 2017 in Cherson stattfand. Ferner arbeitete sie an einem Projekt der UN mit, das sich um Binnenmigranten kümmert, und versuchte, Kleidung für bedürftige Kinder in der Stadt über Facebook zu beschaffen. Viele denken, dass es nicht wichtig ist, so etwas wie den lokalen Fußballklub wiederaufzubauen. Sie verstand aber, dass solche Dinge bedeutende Auswirkungen für die Lokalbevölkerung haben kann. Sie war wirklich eine Persönlichkeit, die eine Politikerin von morgen hätte sein können.  

Portrait von Katja Handsjuk

Portrait von Katja Handsjuk.

© Maryna Chromych

Auf Ihren Veranstaltungen und Demonstrationen kommen Aktivisten mit sehr unterschiedlichen politischen Überzeugungen zusammen. Wie ist das möglich und wie arbeiten Sie zusammen?

Wir haben im September 2018 unsere Initiative gegründet und waren nur eine kleine Aktivengruppe. Zu einer breiteren Bewegung wurde es erst, als wir anfingen, mit dieser Gruppe auf das Verbrechen aufmerksam zu machen und das systematische Problem dahinter zu erklären. Es war ziemlich schwierig, das an die Gesellschaft heranzutragen. Wir mussten anfangs erstmal erzählen, wer Katja Handsjuk überhaupt ist und dass sie mit Schwefelsäure übergossen wurde. 

Dann, an einem Abend, wurden drei Aktivisten angegriffen, einer von ihnen ist Oleh Michajlyk aus Odesa. Am gleichen Abend haben wir noch einen Chat eröffnet, der jetzt wahrscheinlich der wichtigste Chat im gesamten Land ist (lacht). Alle Leute, die sich aktiv engagieren, sind in diesem Chat. Ich erinnere mich noch genau, wir haben an einem Samstagabend den Chat erstellt und am Sonntagmorgen diskutiert, was wir machen werden. Am gleichen Abend haben wir uns bereits für eine Demonstration vor der Präsidialadministration versammelt und haben gefordert, dass der Präsident den Angriffen auf Aktivisten Beachtung schenken soll. Katja hat zu dieser Zeit leider ihre einzige und letzte Videobotschaft aus dem Krankenhaus aufgenommen. Hier verstanden die Leute irgendwie, dass das alles kein Spaß ist und fingen an zu fragen, wie sich Poroschenko und andere Politiker zu dem Thema äußerten. Und dann vereinigten sich die Leute hinter dieser Aktion. Bei anderen Aktionen kam es dann zwar vor, dass manche Aktivisten nicht auftreten wollten, weil bestimmte andere Personen vor Ort waren. Ich versuche aber immer zu erklären, dass es Dinge gibt, die wichtiger sind als solche Diskrepanzen. 

Hat sich ihrer Meinung seit 2014 in der Zivilgesellschaft und in der Arbeit von politischen Aktivisten etwas verändert? Fühlen Sie irgendeine Art von Druck, Gefahr oder Angst, weil Sie sich politisch engagieren?

Genau das hat sich seit 2014 verändert: Ich habe keine Angst. 2014 konnten wir Janukowytsch aus dem Amt treiben. Hätte mir jemand 2012 gesagt, dass wir in zwei Jahren Janukowytsch vertreiben werden, hätte ich mir das unter keinen Umständen vorstellen können. Da wir es 2014 geschafft haben, das von den „Regionalen“ („Partei der Regionen“ des ehemaligen Präsidenten Janukowytsch) errichtete System zu stürzen, können wir jetzt auch alles andere erreichen. Natürlich sehen wir das nicht immer, da das System weiterhin nicht vollkommen ist. Aber so etwas wie Angst vor irgendwelchen Polizisten oder dem „Berkut“ (Spezialeinheit der Polizei) haben wir nicht, auch wenn diese Einheiten vor fünf Jahren unsere Freunde und Bekannten getötet haben. Wir haben verstanden, dass sich etwas geändert hat und wir das Land verändern können. Das ist für uns viel wichtiger als unser eigenes Leben. 

 

Lennart Jürgensen ist Student der Osteuropastudien, Stipendiat der FNF und war fünf Monate Praktikant der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.

Demo Ukraine

Demo "Achtung toxisch": Demonstration gegen Generalstaatsanwalt Lutsenko (und Innenminister Awakow) vor der Generalstaatsanwaltschaft.

© Lennart Jürgensen