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Ukraine
Der lange Schatten des Wahljahres

Die Ukraine startet 2019 in einen doppelten Wahlkampf

2019 werden in der Ukraine der Präsident und das Parlament gewählt. Kandidaten und Parteien bringen sich in Stellung, deutliche Favoriten gibt es nicht. So offen der Ausgang der Wahl, so zweifelhaft werden die Methoden des Wahlkampfes sein. Für die Ukraine steht viel auf dem Spiel.

Das Superwahljahr 2019 in der Ukraine wirft bereits jetzt seine Schatten voraus. Am 31. März 2019 sollen Präsidentschaftswahlen, im folgenden Oktober Parlamentswahlen stattfinden. Beide entscheiden, ob das Land auf seinem mühsamen Reformweg weiter voranschreitet oder wiederum dem politischen Klientelismus anheimfällt – mit möglicherweise weitreichenden Folgen für seine Souveränität und seine Rolle in Europa. Die Wahl wird nicht zwischen ideologisch begründeten Programmen bestehen, die es weiterhin höchstens in Ansätzen gibt, sondern in erster Linie zwischen Personen. Derzeit bringen sich mehrere Kandidaten für das Präsidentenamt in Stellung und schalten in den Kampagnenmodus um. Zugleich ist das Ringen um ein sinnvolles Wahlgesetz weiter unentschieden. Sein Ausgang wird erheblichen Einfluss vor allem auf die Qualität der Parlamentswahlen haben.

Frei, gleich und geheim?

Das Gute vorweg: Die Ukraine ist ein offenes Land, in dem um politische Entscheidungen gerungen wird und der Ausgang von Wahlen nicht vorherbestimmt ist. Nichtsdestotrotz öffnen die geltenden Spielregeln und geübten Praktiken unlauterer Einflussnahme weit die Türen und machen es insbesondere neuen, reformorientierten Kräften schwer, einen adäquaten Platz in der politischen Arena einzunehmen.

Das derzeit geltende, 2010 vom damaligen Präsidenten Janukowitsch eingeführte gemischte Wahlsystem sieht eine Vergabe der Parlamentssitze zu 50 Prozent nach dem Mehrheitswahlrecht und zu 50 Prozent nach dem Verhältniswahlrecht vor. Kandidaten der Mehrheitswahlkreise, die in einem politischen Amt auf administrative Ressourcen zurückgreifen können oder hinter denen starke Geldgeber stehen, können sich die ausreichende Stimmenzahl schlicht mittelbar oder unmittelbar zusammenkaufen: Sie investieren vor der Wahl in sichtbare und dringend benötigte Infrastrukturprojekte, etwa in die Reparatur der notorisch maroden Straßen in ihrem Wahlkreis, und erwerben sich dadurch ausreichend dankbare Anhänger. Oder sie kaufen sich die Stimmen ihrer Wähler direkt mit Geld oder einem Paket Buchweizen. Viele Ukrainer sind arm genug, die Offerte von üblicherweise 500 Hrywnia (ca. 15 Euro) nicht ablehnen zu können. Auf der Seite des Verhältniswahlrechts sieht es nicht rosiger aus: Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Plätze auf den Parteilisten verkauft werden und sich die finanzstarken Oligarchen damit ihren Einfluss im Parlament sichern.

Beide Probleme könnten durch ein neues Wahlgesetz, das in erster Lesung am 6. November 2017 verabschiedet wurde, erheblich vermindert werden. Es sieht, in Übereinstimmung mit Empfehlungen der Venedig-Kommission und der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, ein reines Verhältniswahlrecht mit offenen regionalen Listen vor. Derzeit bearbeitet eine parlamentarische Arbeitsgruppe die 4.400 (!) Änderungsanträge zum Gesetz, um eine Version für die zweite Lesung vorzubereiten. Strittig ist unter anderem die Frage, ob es wie bisher eine Fünf-Prozent-Hürde oder vielleicht eine Drei- oder Vier-Prozent-Hürde geben soll, um neuen Kräften den Einzug ins Parlament zu erleichtern.

Internationale Partner wie zivilgesellschaftliche Akteure drängen auf endgültige Verabschiedung noch vor den Parlamentswahlen. Eine Kampagne in den sozialen Medien fordert „Nein zu Wahlen nach Gesetzen von Janukowitsch“. Dies dürfte jedoch nicht nur zeitlich ambitioniert sein, es erfordert auch einen politischen Willen, der derzeit nicht erkennbar ist. Offenbar beruhte sogar die Verabschiedung in erster Lesung auf einer taktischen Fehlkalkulation des Block Petro Poroschenko, der sich mit einem „dafür“ positiv darstellen wollte, jedoch letztlich auf eine Ablehnung im Parlament spekuliert hatte.

Die Reform des Wahlrechts ist nur einer der Schritte, die für wirklich saubere und faire Wahlen vonnöten wären. Am 13. April wurde ein Gesetz in erster Lesung verabschiedet, das diverse Akte der Wahlfälschung und des Wählerkaufs unter empfindliche Strafen stellt, die bisher weitgehend folgenlos bleiben und damit das Vertrauen in die demokratischen Prozesse untergraben. Außerdem hat der Präsident im Februar dem Parlament endlich neue Mitglieder für die Zentrale Wahlkommission vorgeschlagen, die noch aus Janukowitsch-Zeiten stammt und in ihrer Zusammensetzung Beobachtern zufolge die Legitimität jeder Wahl in Frage stellt. Auch für diese beiden Initiativen gilt: Entscheidend ist, ob sie rechtzeitig vor den anstehenden Wahlen in Kraft treten oder nur „Reformimitate“ zur Ruhigstellung westlicher Partner darstellen.

Nicht gesetzgeberisch adressiert wurde bisher eine Forderung der OSZE und des Europarats, die Summen für TV-Sendezeit und Werbung mit Großplakaten zu beschränken. Sie machen den Löwenanteil der Wahlkampfausgaben aus und setzen oligarchisch finanzierte Kandidaten in erheblichen Vorteil vor Mitbewerbern ohne großes Geld im Rücken.

Dass der Wahlkampf beginnt, ist derweil nicht nur in Kiew, sondern auch in den Regionen des Landes zu spüren. So berichten Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen, dass sie aktiv von Wahlkampfstäben angeworben würden und für die Unterstützung eines bestimmten Kandidaten sogar Geld angeboten bekämen. Parlamentskandidaten in Mehrheitswahlkreisen unterstützten demnach offen den Präsidenten in der Hoffnung, dass dieser bei einem Sieg die Abschaffung der Mehrheitswahl zu verhindern wisse. Generell ist die Befürchtung groß, dass durch den Wahlkampfmodus dringend notwendige Reformprozesse ins Stocken geraten.

Der lange Schatten des Wahljahres

Kiew, Ukraine

© pixelbay.com, überarbeitet

Die Präsidentschaftskandidaten

Umfragen zufolge wollen 60 Prozent der Ukrainer neue Gesichter an der Spitze des Landes sehen. Entsprechend gering ist mit 8,5 Prozent derzeit die Zustimmung für den amtierenden Präsidenten. Die besten Werte erreicht mit 19,5 Prozent Julia Timoschenko, die am 15. Juni auf einem großen Forum ihren „Neuen Kurs für die Ukraine“ präsentierte. Sie schlägt unter anderem weitreichende Verfassungsänderungen vor, die das derzeitige präsidentielle durch ein parlamentarisches System ersetzen und zahlreiche Kompetenzen vom Präsidenten an einen Kanzler (lies: am besten eine Kanzlerin Timoschenko) übertragen würden. Dass Timoschenko, die sich mit einem zweieinhalbstündigen datengesättigten Vortrag offenbar weniger an ihre ländliche Stammwählerschaft als an jüngere, urbane Wählerkreise richtete, jenseits ihrer neuen Frisur echten Wandel bringen wird, darf angesichts ihrer durch tiefe Interessenkonflikte geprägten politischen Karriere getrost bezweifelt werden.

Mit Jurij Bojko (derzeit 10,2 Prozent) und Wadim Rabinowitsch (7,5 Prozent) treten zwei Kandidaten an, die sich als „pro-russisch“ verorten lassen. Bojko war Stellvertretender Ministerpräsident und Energieminister unter Janukowitsch, ist derzeit Abgeordneter des Oppositionsblocks (der Nachfolgepartei von Janukowitschs  Partei der Regionen) und ins ukrainisch-russische Gasgeschäft verwickelt. Rabinowitsch war als einer der ukrainischen Oligarchen ebenfalls Abgeordneter des Oppositionsblocks, ist Leiter einer der jüdischen Vereinigungen der Ukraine und Chef der Partei „Für das Leben“. Er war bereits 2014 erfolglos zur Präsidentschaftswahl angetreten.

Eine echte Alternative könnte der Parteichef der liberal-konservativen „Bürgerposition“ und ehemalige Verteidigungsminister Anatolij Hryzenko darstellen. Mit 12,6 Prozent liegt er in der aktuellen Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS)auf Platz zwei. Er versucht derzeit, die Unterstützung demokratisch und proeuropäisch gesinnter kleiner Parteien zu gewinnen, und hat hiervon unter anderem bereits die „Europäische Partei“ unter Mykola Kateryntschuk, die „Volkskontrolle“ unter dem Abgeordneten Dmytro Dobrodomow und Jegor Firsows „Alternative“ überzeugt. Wenig aussichtsreich erscheint derzeit eine Unterstützung Hryzenkos durch den Lwiwer Bürgermeister und Parteichef der „Selbsthilfe“ Andrij Sadowy, obwohl dieser nach eigenem Bekunden nicht selbst zur Wahl antreten will. Hryzenko hat von allen Kandidaten die niedrigsten Misstrauenswerte und hätte zum heutigen Zeitpunkt ernsthafte Chancen, zumindest in die zweite Runde der Wahl zu kommen.

Als national-patriotische Alternative stellt sich der Abgeordnete und Chef der Radikalen Partei Oleh Ljaschko zur Wahl. Der Rechtspopulist mit Nähe zum Oligarchen Rinat Achmetow hatte in der Präsidentschaftswahl 2014 8,33 Prozent der Stimmen erhalten und konkurriert vor allem mit Julia Tymoschenko um die Stimmen der Landbevölkerung. Er kommt derzeit auf 10,7 Prozent.

Eine gewisse Kuriosität stellen die Umfragewerte des Sängers Swjatoslaw Wakartschuk und des Comedian Wolodymyr Selensky dar. Beide besitzen große Popularität in der Ukraine, aber keiner der beiden hat bisher bekundet, überhaupt zur Wahl antreten zu wollen. Wakartschuk (7,4 Prozent), Stimme der Band Okean Elsy, war allerdings bereits politisch aktiv und sogar für ein Jahr Parlamentsabgeordeneter, bevor er das Amt frustriert über das herrschende politische System 2008 wieder verließ. Er unterstützte aktiv die Demonstrationen des Maidan, eine tatsächliche Kandidatur ist keineswegs ausgeschlossen. Selensky ist die Hauptfigur in der Politsatire „Diener des Volkes“, deren Namen er als Partei registrieren ließ, um ihn urheberrechtlich zu schützen. Nach eigenem Bekunden plant er nicht, eine Wahlkampagne zu führen, wird aber in den Umfragen aufgeführt und erhält dort 8,3 Prozent.

Die Umfrageergebnisse fallen je nach Umfrageinstitut und Methodik etwas unterschiedlich aus. Das Bild jedoch ist klar: Selbst die stärkeren Kandidaten kommen derzeit nur mit Mühe in den zweistelligen Bereich, einen Sieger im ersten Wahlgang würde es derzeit nicht geben. Vor allem aber haben sich bis zu 30 Prozent der  Ukrainer noch gar nicht entschieden, wem sie ihre Stimme geben wollen. In den neun Monaten bis zur Wahl lassen sich daher noch erhebliche Verschiebungen und Überraschungen erwarten.

Es geht vielleicht um alles

Die Wahlen von 2019 werden nicht nur richtungweisend in Bezug auf den weiteren Reformweg der Ukraine sein. Auch der Kreml wird nichts unversucht lassen, um anlässlich eines Regierungswechsels das Nachbarland wieder stärker in seinen Einflussbereich zu bringen. Eine Möglichkeit neben der Unterstützung prorussischer Kandidaten wäre, Bojko und Rabinowitsch zum Zusammengehen und Verzicht des einen auf die Kandidatur zu veranlassen. Gerüchte besagen, der kremlnahe ukrainische Oligarch Viktor Medwedtschuk habe jüngst die Fernsehsender 112, NewsOne und Zik gekauft. Falls dies den Tatsachen entspricht, muss es ebenfalls im Kontext der Wahlen verstanden werden. Nicht zuletzt könnte jegliches Aufflammen der Kämpfe im Donbas und jede Art von Gewaltakten und Chaos im Land das Vertrauen der Bevölkerung in die Kiewer Politik und damit auch das Interesse an der Wahl weiter reduzieren. Mit Cyberattacken, die sich im Prinzip bereits dauernd ereignen, aber auch der gezielten Demontage kremlkritischer Kandidaten dienen können, ist fest zu rechnen.

In dieser schwierigen Gemengelage ist es entscheidend, dass die westlichen Partner die Ukraine gerade in der Vorwahlzeit weiter eng begleiten – mit aller gebotenen Unterstützung, aber auch mit festem Dringen darauf, dass die begonnenen Reformprozesse ernsthaft fortgeführt werden. Das betrifft etwa die Einrichtung des Hohen Antikorruptionsgerichtes, dessen baldige und effektive Arbeitsaufnahme trotz positiven Parlamentsentscheids noch lange nicht gesichert ist. Es betrifft aber wesentlich auch den Wahlprozess selbst. Die Spielregeln für die kommenden Wahlen müssen dringend verbessert werden, vor allem aber muss nach ihnen gespielt werden. Nur dann haben die Ukrainer wirklich die Wahl.

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