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Türkei
Zeichen an der Wand. Die Türkei nach einem demokratischen Beben

Die CHP konnte am Sonntag einen klaren Wahlsieg in Istanbul einfahren
Istanbul

In Istanbul feiern die Unterstützer den Sieg İmamoğlus.

© picture alliance / AP Photo

Am Sonntag haben die Bewohner der 16-Millionen-Metropole Istanbul in einer Wiederholungswahl den Kandidaten der oppositionellen CHP, Ekrem Imamoğlu, mit 54 Prozent und einem Vorsprung von etwa 0,8 Millionnen Stimmen zu ihrem Oberbürgermeister gewählt. Sein unterlegener Mitbewerber, der frühere AKP-Premier Binali Yıldırım, erzielte mit rund 45 Prozent der Stimmen ein deutlich schlechteres Ergebnis als bei der Wahl vom 31. März.

Der erneute Urnengang war durch eine höchst umstrittene Entscheidung der obersten türkischen Wahlbehörde notwendig geworden. freiheit.org sprach mit Hans-Georg Fleck, dem Leiter des Stiftungsbüros in der Türkei, über die absehbaren Folgen dieser Wahlentscheidung. 

Was sagt uns der Wahlsieg der Opposition über den Stand der Demokratie in der Türkei, die ja viele schon totgesagt hatten?

Zunächst gilt es festzuhalten, dass mehr als 54 Prozent der fast elf Millionen Wahlbürger Istanbuls ein klares Votum für die Demokratie und gegen alle undemokratischen, auf die Errichtung eines autoritären Systems angelegten Machenschaften abgegeben haben. Schon in der ersten Wahl hatte der Kandidat der säkular-kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP) ja mit 13.000 Stimmen vorne gelegen und war zum offiziellen Wahlsieger erklärt worden. Dann kam –  offenkundig aufgrund politischen Drucks aus dem Präsidentenpalais – das überaus fragwürdige Votum der Wahlkommission: Von den vier Wahlzetteln, die die Wähler am 31. März in ihren Wahlumschlag gesteckt und in die Wahlurne geworfen hatten, wurde nur derjenige zur Wahl des Oberbürgermeisters wegen angeblicher Formfehler beim Wahlprozess als ungültig erklärt. Alle übrigen, die wohl das von der AKP erwartete Ergebnis gebracht hatten, wurden hingegen als gültig befunden. 

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Hans-Georg Fleck im Interview

© Freiheit.org

Diesem ebenso eklatanten wie dreisten Versuch zur Implementierung eines Wahlsystems „bis das Ergebnis stimmt“ ist mit der gestrigen Wahl nicht nur eine klare Abfuhr erteilt worden. Die Arroganz und Rücksichtslosigkeit der Mächtigen hat vielmehr sogar Hundertausende bisheriger AKP-Wähler ins Lager der Opposition getrieben. Im März hatte Imamoğlu – sicher mit kräftiger Unterstützung aus der kurdischen Bevölkerung der Stadt – nur 16 der 39 Stadtbezirke Istanbuls für sich gewinnen können. Nun ist ihm das in 28 Bezirken gelungen, darunter solche, die bislang als uneinnehmbare „Festungen“ der islamisch-konservativen AKP galten. 

Dies zeigt zum einen, dass die siegverwöhnte AKP und ihr bis dato unumstrittener Führer, Präsident Recep Tayyip Erdoğan, sich nicht mehr blind auf ihre Gefolgschaft in den Kreisen der Istanbuler, ja vielleicht sogar der türkischen Unter- und unteren Mittelschicht verlassen können. Gerade dort werden nämlich die Folgen der sich verschärfenden Wirtschaftskrise des Landes immer deutlicher registriert. Zum anderen zeigt uns das Wahlergebnis aber vor allem, dass die türkische Demokratie keineswegs ein „hoffnungsloser Fall“ ist. Die auch von mir häufig beschworene „andere Türkei“ – sie lebt, sie agiert, sie schafft Hoffnung auf einen Wandel zurück auf einen Weg demokratischer und rechtsstaatlicher Reformen, den die AKP-Führung in den letzten knapp zehn Jahren Zug um Zug verlassen und durch einen sich immer radikaleren anti-westlichen, antieuropäischen und islamischen Kurs ersetzt hat.

Was bedeutet der Sieg von Ekrem Imamoğlu für die weitere politische Entwicklung der Türkei?

Hier begeben wir uns in den Bereich von Spekulationen. Klar und unstrittig aber ist, dass die demokratische Opposition in der Türkei wieder Tritt gefasst hat und nun mit Istanbul, Ankara und Izmir die drei größten Städte und damit zugleich in ihrer Bedeutung für Politik und Wirtschaft des Landes kaum zu überschätzende Agglomerationen regiert. Der neue, 49-jährige Oberbürgermeister von Istanbul ist ein Hoffnungsträger, dem gerade die Wahltricksereien der Herrschenden landesweite Bekanntheit eingebracht haben. Präsident Erdoğan, der seinen politischen Aufstieg 1994 mit dem Sieg in der Istanbuler OB-Wahl begonnen hatte, wusste, wovon er sprach, als er einmal erklärte, wer Istanbul gewinne, der gewinne das ganze Land. 

Sollte es die nun häufig angesprochenen, vorgezogenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen geben – die turnusmäßigen ja erst 2023 anstehen – so erscheint im Moment sogar ein Machtwechsel nicht völlig ausgeschlossen. Ob es zu diesen Neuwahlen kommen wird? Eigentlich spricht das Machtkalkül der AKP dagegen. Aber sie könnte unfreiwilliger Weise dazu gezwungen sein, wenn sich ihr bisheriger Koalitionspartner und Mehrheitsbeschaffer, die rechtsnationalistische MHP, unter dem Eindruck der Entwicklungen, zum Beispiel in der kurdischen Frage, eines anderen besinnen sollte.

Imamoglu

Ekrem Imamoglu zeigt sich kämpferisch.

© picture alliance / AP Photo

Viel gemunkelt wird in der Türkei zudem zum wiederholten Male über Abspaltungspläne prominenter AKP-Politiker, die aus unterschiedlichen Gründen mit dem autoritären Kurs Erdoğans unzufrieden sind. In Zeiten der allgemeinen, der außenpolitischen – insbesondere das Verhältnis zu den USA – und speziell der wirtschaftlichen Krise könnten diese schon oft kolportierten Pläne nun – im Angesicht der offenkundigen Verwundbarkeit des Präsidenten und seiner skandalumwitterten Entourage – eventuell Wirklichkeit werden. Sicher scheint im Moment nur eines: Das Wahlergebnis des 23. Juni wird Entwicklungen einleiten, die die Türkei am Ende des Jahres 2019 deutlich anders aussehen lassen dürften, als sie uns in den letzten Jahren zur (negativen) Gewohnheit geworden ist.   

Die Wahl ist gelaufen. Wird der Wahlsieger Ekrem Imamoğlu auch „liefern“ können?

Das ist eine seit dem 31. März häufig diskutierte Frage. In wieweit kann die Opposition aus den neu gewonnenen kommunalen Spitzenpositionen heraus überhaupt einen Wandel des Landes bewirken? Werden Imamoğlu oder auch seine CHP-OB-Kollegen in Ankara (Yavaş) und Izmir (Soyer) die Erwartungen ihrer Wähler auch nur halbwegs erfüllen können? Die strukturellen Gegebenheiten in der Türkei, einem extrem zentralistisch strukturierten Land, sind nicht günstig. Zudem haben die Oberbürgermeister von Istanbul und Ankara AKP-Mehrheiten in den Stadtparlamenten gegen sich. Nichts wird die AKP unversucht lassen, um den Neugewählten das Leben schwer zu machen – und zugleich die Interessen ihrer Klientel zu befriedigen. Und die ist in den letzten Jahrzehnten durch die Erschließung kommunaler Vermögen, kommunaler Transferleistungen (z. B. an islamische Stiftungen) und durch Schaffung zahlloser Jobs für Parteigänger und ihre Familienangehörigen im hohen Maße verwöhnt worden. Sehr verständlich daher, dass nun so mancher glaubt, um seinen Job fürchten zu müssen.

Ekrem Imamoğlu aber hatte schon in den Wahlkämpfen den Kurs vorgegeben: Kein „Weiter so“ bei der zerstörerischen Polarisierung der Gesellschaft, keine „Abrechnung“ mit den Anhängern der AKP, keine neue Arroganz und Machttrunkenheit. Er ist – wie das Wahlresultat belegt – glaubwürdig auf die „andere Seite“ zugegangen und hat erfolgreich an deren Sinn für Fairness, Respekt und Demokratie appelliert. Sollte die AKP-dominierte Zentralregierung und ihre Gehilfen vor Ort nun eine Blockadepolitik gegen Imamoğlu (und seine Kollegen) aufziehen, so dürfte dies nur kontraproduktiv wirken – wie die Wahltricksereien nach dem 31. März. Die AKP hatte schließlich 25 Jahre Zeit, um die Stadt Istanbul zu dem zu machen, was sie heute ist: Metropole und Moloch zugleich. Sollte man da nicht gerechterweise dem neuen Oberbürgermeister zumindest einmal eine Legislaturperiode einräumen, um Neues ins Werk zu setzen? Die Istanbuler haben doch gerade gestern erst ihr Gespür für Fairness und moderates Maß unter Beweis gestellt.

 

Dr. Hans-Georg Fleck ist Leiter des Büros der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Istanbul.