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Türkei
„Wir ersticken – von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde“

Kommentar einer Armenierin in Istanbul
Rakel Dink
© picture-alliance/ dpa | Kerim_Okten

Anmerkung der Redaktion: Der folgende Kommentar stammt aus der Feder von Delal Dink, der Tochter des ermordeten armenischen Publizisten Hrant Dink. Der Beitrag erschien am 9. Oktober 2020 in türkischer Sprache in der in Istanbul verlegten Wochenzeitung „Agos“. Vor dem Verlagsgebäude der Zeitung in Istanbul tötete ein türkischer Nationalist 2007 den Vater der Autorin. Bis heute ist die Wochenzeitung mit Beiträgen in armenischer, türkischer und teilweise englischer Sprache eine beachtete unabhängige Diskussionsplattform zu den Themen Demokratie, Minderheitenrechten und Aufarbeitung der Vergangenheit. 

Als ich vor vielen Jahren die armenische Diasporaministerin kennenlernte, fragte sie mich, ob ich stolz darauf sei, Armenierin zu sein. „Nein“, sagte ich, „Ich verstehe nicht, wie man auf die ethnische Zugehörigkeit oder auf die Nationalität stolz sein kann, in die man hineingeboren wurde. Seit meiner Kindheit lebe ich mit Menschen zusammen, die stolz darauf sind, Türken zu sein – ich weiß, wie fürchterlich diese Krankheit ist.“ Ich gehe davon aus, dass ihr meine Antwort nicht wirklich gefallen hat.

Als sich in den 1990er Jahren der Berg-Karabach-Krieg zuspitzte – zu dieser Zeit ging ich noch in die Grundschule –, wurden feindliche Parolen auf Schulmauern geschmiert, es gab eine Bombendrohung. Ich kann mich noch an den regen Telefonverkehr mit den Familien meiner Mitschüler und Mitschülerinnen erinnern, an das andauernde Flüstern meiner Eltern und an die Verunsicherung. Wir waren nicht mehr sicher in der Schule. Wir blieben ihr fern.

Der Berg-Karabach-Konflikt flammte einige Jahre später wieder auf. Ich ging mittlerweile auf das Gymnasium. Eines Tages las ich auf dem Nachhauseweg in einem Zugabteil an der Wand geschrieben, es sei eine gute Tat vor dem Gott, Armenier abzuschlachten. Als ich wegschauen wollte, trafen meine Augen den Blick eines Mannes, der ebenso den Satz las. Ich weiß nicht, wie viele endlose Minuten die Fahrt gedauert hat, während ich ununterbrochen betete: „Gott, bitte lass ihn nicht an meiner Schuluniform erkennen, dass ich Armenierin bin. Lass ihn mir nichts antun.“ Niemand außer mir kann nachempfinden, in welcher Verfassung ich endlich zu Hause ankam.

Es ist wieder Krieg in Berg-Karabach. Vor Kurzem betrat ich einen Laden, um Spielzeug für meine Tochter zu kaufen. Der Fernseher war aufgedreht, in den Nachrichten wurde gebrüllt: „Armenier!“, und: „Wir sind an der Seite unserer Stammesbrüder!“ Und sie sprachen von der Kollaboration zwischen Armenien und der PKK. Das alles mitten in Spielzeugen zu hören. In einem Laden, dessen Kunden Kinder sind. Ich lief aus dem Laden hinaus.

Worum geht es bitte bei „Stammesbrüdern“? Hat es nicht geheißen, alle, die innerhalb der Landesgrenzen der türkischen Republik leben, seien Türken? Es hieß doch, wir Armenier würden, wie alle anderen auch, in diese Definition fallen. Sind die Aserbaidschaner meine „Stammesbrüder“? Wieder einmal sind alle auf einmal zu „echten Türken“ geworden. Mein Vater sagte: „Wenn ich nach eurer Definition ein Türke bin, dann seid ihr auch ein bisschen Armenier.“ Handeln das türkische Außen- sowie das Verteidigungsministerium, die türkische Präsidentschaft, die Kommunen und die alten wie neuen politischen Parteien als jeweils Armenier, Griechen, Kurden und Juden, wenn sie im Chor von „Stammesbrüdern“ sprechen und sich dementsprechend positionieren? Ist das nicht „Spaltung“, was ihr damit tut?

„Reste des Schwertes“ (1)

Die armenische Community muss sich seit zehn Tagen haufenweise Unterstellungen anhören, die Armenier seien zum einen so und zum anderen so. Das erfüllt sie mit großer Sorge. Besser gesagt: Wir ersticken. Langsam, Tag für Tag, Stunde für Stunde ersticken wir. Wir ersticken in eurem Hass. Sogar den spärlichen Sauerstoff, der durch unsere Masken sickerte, habt ihr uns genommen. Um unsere Einrichtungen wimmelt es von Polizisten. Ihr wisst also sehr wohl, dass wir geschützt werden müssen. Zuerst habt ihr die Lage zur Eskalation geführt, nun versucht ihr vor der Weltöffentlichkeit das Gesicht zu wahren: „Unsere Armenier gehören nicht zu denen. Wir meinen sie nicht.“ Wirklich nicht? Was für Menschen sind denn „die anderen“? Ist ein Großteil von „ihnen“ nicht Teil eurer Untertanen? Oh, pardon, das sind die „Reste des Schwerts“. Wäre es nicht möglich gewesen, dass ihr sowohl euren „Stammesbrüdern“, als auch euren früheren Untertanen eine Botschaft der Brüderlichkeit vermittelt? Statt Alpträume zum Erwecken zu bringen, während Großmütter aus Maraş, Sivas oder Uşak, die Kinder der „Reste des Schwertes“, bangen müssen, ob ihre Enkelkinder aus dem Krieg lebend zurückkehren werden?

Ich habe grauenhafte Alpträume, das Leben füttert sie. Aber die Alpträume dieser Woche haben alle bisherigen übertroffen. Bevor Sie weiterlesen, muss ich Sie warnen. Was jetzt kommt, beinhaltet Gewalt.

Ein Haus, davor eine Menschenmenge. Es schaut wie eine Trauerfeier aus. Die Freunde meines Vaters stehen vor der Tür. Ich versuche mir durch die Menschenmenge einen Weg zu bahnen. Ich sehe mir die Gesichter an. Das kann nicht sein. Was hier passiert, kann nichts mit meinem Vater zu tun haben. Mein Vater ist schon längst tot. Er wurde vor den Augen aller ermordet. Dann sehe ich plötzlich den Sarg meines Vaters auf Händen. Ich sehe, wie sie seinen Körper aus dem Sarg herausholen und in die Luft heben. Dann schneiden sie ihm den Kopf ab. Das Blut fließt in Strömen. Sie haben aber meinen Vater schon längst getötet, wie kann er immer noch bluten? Ich habe in meinem Leben noch nie so viel Blut gesehen. Nicht einmal damals am Boden um den toten Körper meines Vaters. Sie stecken nun den abgehackten Kopf meines Vaters auf einen Pfahl, den sie herumführen. Aber mein Vater ist sowieso tot. Wie können sie ihn erneut töten?

Das Morgengebet des Muezzins weckte mich auf. Ich war außer Atem. Mein Gesicht war tränenüberströmt. Ich fragte mich, ob mein Gott und ihr Gott meine Stimme diesmal hören würde, würde ich mit dem Morgengebet gemeinsam beten, würden unsere Stimmen eins werden. Ich flehe ihn an, bitte, kann er nicht diesen Hass endlich zu einem Ende bringen?

Ich habe große Angst für die Leute in Armenien. Muss ich mich fürchten, zu sagen, dass ich Angst um sie habe? Unter ihnen sind meine Angehörigen, meine Freunde. Wie kann ich euch überzeugen, dass sie keine schlechten Menschen sind? Ich glaube nicht, dass die Aserbaidschaner schlechte Menschen sind. Warum hasst ihr die „Meinigen“ so sehr?

Als mein Vater ermordet wurde, klangen die Kondolenzbesuche tage- und wochenlang nicht ab. Nur eine nahe Studienfreundin ließ lange Zeit nichts von sich hören. Als sie mich dann doch besuchte, sagte sie: „Delal, ich habe mich bisher nicht getraut zu kommen. Ich hatte Angst, dass du keine türkischen Freunde mehr haben willst, dass du mich nicht mehr haben willst, weil die Türken deinen Vater ermordet haben.“ Ich habe sie ganz fest umarmt. Ich sagte: „Ich kann nicht ohne meine türkischen Freunde leben.“ Und ihr? Wie könnt ihr ohne eure armenischen Freunde leben?

Ja, ich bin nicht stolz Armenierin zu sein. Niemand sollte auf seine ethnische Zugehörigkeit stolz sein. Ich bin jedoch stolz auf das, was mein Volk hervorbringt – sei es die Kunst, sei es die Wissenschaft, oder das Kino, das Kulinarische, die Architektur, die Steinmetzkunst, das Handwerk. Ich wünsche mir, dass mein Volk diese Kultur am Leben halten kann, dass es imstande bleibt, weiter zu schaffen, weiterhin seinen Beitrag für die Weltzivilisationen zu leisten. Bedauerlicherweise hat die Menschheit bisher noch keine funktionierende Formel entdeckt, um die Kultur abseits der Nationalstaaten am Leben zu halten.

Der Kriegsverlauf und die Ausweglosigkeit in der Region tragen das Risiko, dass das Problem über den Berg-Karabach-Konflikt hinauswächst. Ich wünsche mir ein freies und unabhängiges Armenien. Gleichzeitig wünsche ich mir ein freies und unabhängiges Aserbaidschan. Beides gleichzeitig zu wünschen fällt mir überhaupt nicht schwer, dem heutigen türkischen Staat aber offensichtlich schon. Welch‘ eine Enttäuschung! Wer hätte was verloren, wenn der Anatolier seine beiden Nachbarn mit offenen Armen eingeladen hätte: „Kommt, lösen wir den Konflikt gemeinsam“, statt auf pan-turkistischen oder neo-osmanistischen Positionen zu beharren.

  1. „Reste des Schwertes“ ist eine in der Türkei verbreitete Beleidigung, die sich auf die Überlebenden der Massaker an Armeniern, aber auch an Griechen und Assyrer richtet.  

 

(aus dem Türkischen übersetzt von Dilman Muradoglu und Gamze Ongan).