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Türkei
Umfragen zeigen: Fast die Hälfte der Türken hält Deutschland für eine Bedrohung

Erdogan ist der beliebtester Politiker
Merkel & Erdogan
© picture alliance / AP Photo

Umfragen liefern Einblicke in die in der Türkei herrschende Stimmung. Die Türken stützen demnach weiter die Politik ihres Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, im Ausland machen sie vor allem Feinde aus.

Wie wir ein Land und seine Menschen beurteilen, hängt in hohem Maße von der Berichterstattung in den Medien ab. Das gilt auch in Bezug auf Türkei. Allzu oft stehen negative Nachrichten und entsprechend gefärbte Kommentierungen im Vordergrund. Das ist kein Wunder, denn die Entwicklungen in dem Land am Bosporus geben wenig Anlass zur Schönfärberei.

Sei es in der Innenpolitik, wo Kritiker nicht müde werden, das Abgleiten in eine autoritäre, ganz auf die Person des Staatspräsidenten zugeschnittene Ein-Mann-Herrschaft zu beklagen. Oder in der Außenpolitik, wo Ankaras aggressives Vorgeben bisweilen die Grenzen des Völkerrechts verletzt, wie unlängst im Fall der Ausweitung der Seegrenzen im Mittelmeer zu Lasten der EU-Mitglieder Griechenland und Zypern.

Unabhängige Umfragen sind in der Türkei nicht selbstverständlich

Die Demoskopie bietet das Material, die Verschränkung auf das Handeln der Mächtigen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu überwinden. Meinungsforscher können buchstäblich zu jedem Thema die Stimmungslage in der Bevölkerung ergründen. Auch in der Türkei spielen Meinungsumfragen eine wichtige Rolle: Oft leiden sie aber daran, dass die Handschrift der Auftraggeber deutlich wird, die Objektivität nicht gewährleistet ist.

Als vergleichsweise zuverlässige, da unabhängige Erhebung gelten die „Turkey Trends“, die alljährlich von der privaten Istanbuler Kadir Has Universität veröffentlichten Umfrageergebnisse.  

Diese repräsentative Umfrage ist eine Fundgrube für systematische Informationen über die Einstellungen und Meinungen der türkischen Bevölkerung zu wichtigen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen. Neben den Zustimmungswerten für die wichtigsten Politiker und einer Rangliste der in den Augen der Bevölkerung zentralen Probleme des Landes sind die Umfrageergebnisse zu den türkischen Außenbeziehungen und die diesbezüglichen Einstellungen der Bevölkerung besonders relevant.

Erdogan bleibt an der Spitze

Laut der Umfrage war Präsident Erdogan auch 2019 der „erfolgreichste“ türkische Politiker. Demnach hatten knapp 46 Prozent der Befragten eine positive Meinung über den ersten Mann im Staate. Im Vergleich zu dem Ergebnis von 2017 – als die Kadir Has-Forscher für Erdogan eine Zustimmungsrate von 56 Prozent ermittelten – ist dies ein deutlicher Rückgang.

Die Zahlen verweisen auf die politische Polarisierung in der Türkei: auf der einen Seite das pro-Erdogan-Lager auf der anderen Seite die Gegner. Da am Ende des Tages politische Wahlen über die Zukunft des Landes entscheiden – hier ist die Türkei meilenweit von Einparteiendiktaturen in anderen Teilen der Welt entfernt – gewinnen Schwankungen bei den Zustimmungsraten erhebliche Bedeutung. Ganz abgesehen davon, dass die Regierung mit allerlei illiberalen Winkelzügen bemüht ist, ihre Gegner zu schwächen oder kaltzustellen.  

Rückläufig ist nicht nur die Popularität des Präsidenten, auch die Zustimmungswerte für den Anführer der wichtigsten Oppositionspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu, weisen nach unten: 29 Prozent der Befragten hatten 2019 eine positive Meinung von dem Politiker, zwei Jahre zuvor betrug diese Rate 35 Prozent.

Im Zuge des guten Abschneidens der Oppositionsparteien bei den Kommunalwahlen des vergangenen Jahres sind die neugewählten Bürgermeister der Metropolen Istanbul und Ankara – beide gehören zur Opposition – ins nationale (und internationale) Rampenlicht getreten. Als Hoffnungsträger der Opposition und möglicher Herausforderer Erdogans wird Istanbuls Bürgermeister Ekrem Imamoglu gehandelt. Über 39 Prozent der Befragten attestieren Imamoglu eine gute Arbeit, wobei der Zuspruch keinesfalls nur aus dem Lager der CHP-Anhänger kommt.

Deutlich bessere Werte als der auch im Ausland hofierte Imamoglu weist die Umfage für den ebenfalls zur Opposition zählenden Bürgermeister von Ankara aus: 60 Prozent der Befragten meinen, Mansur Yavas leiste gute Arbeit. Auch in den Reihen der AKP-Anhänger gibt es beträchtlichen Zuspruch für den Kommunalpolitiker: 32 Prozent sagen, der neue Stadtvater Ankaras mache seinen Job gut.

Platz für neue Kräfte?

Nach bald 20 Jahren an der Macht rumort es im Schoße der türkischen Regierungspartei. Die Absetzungserscheinungen in der Führung und Abspaltungen bzw. Parteineugründungen beschäftigen auch die Meinungsforscher. Auf die Frage, ob Bedarf an neuen politischen Parteien besteht, antworten fast zwanzig Prozent der Befragten mit „Ja“. Es gibt demnach ein Potential für die Parteidissidenten.

Interessant sind die weltanschaulichen Präferenzen. Obwohl eine Mehrheit der Türken sich selbst als religiös, nationalistisch oder konservativ einordnet, sind über 50 Prozent der Meinung, eine neue Partei soll im „politischen Zentrum“ angesiedelt sein, knapp 30 Prozent bevorzugen eine neue Partei im linken Spektrum.

Mit der Gründung seiner „Zukunftspartei“ hat der ehemalige Ministerpräsident – und Erdogan-Kritiker – Ahmet Davutoglu bereits Fakten geschaffen. Die Gründung einer weiteren neuen Partei seitens des ehemaligen Wirtschaftsministers – und AKP-Abtrünnigen – Ali Babacan sei nurmehr eine Frage der Zeit, heißt es in der türkischen Presse. Laut Kadir Has-Umfrage können sich 9 Prozent der Befragten vorstellen, die Partei Davutoglus zu wählen; der entsprechende Wert für Babacan liegt bei 8 Prozent.

Angesichts der knappen Mehrheiten im Zuge der Polarisierung könnten die neugegründeten Parteien in künftigen Wahlen zum Zünglein an der Waage werden. Doch bis dahin ist es ein langer Weg. Die nächsten Wahlen sind für 2023 angesetzt, auch wenn  Spekulationen über vorgezogene Neuwahlen nicht enden wollen.

Kaum Freunde in der Welt

Durch seine teilweise aggressive Außenpolitik hat Präsident Erdogan auch international Aufsehen erregt. Nach der Studie finden 29 Prozent der Türken, dass die Außenpolitik Ankaras erfolgreich ist; dagegen sind 33 Prozent der Meinung, die Politik ist nicht erfolgreich. Diese eher negative Bewertung passt zu den kollektiven Bedrohungsvorstellungen der Bevölkerung: Die große Mehrheit der Türken sieht jenseits der Landesgrenzen vor allem Gegner und Feinde – und kaum Freunde bzw. Partner. Wenn gefragt wird, welches Land die Türkei bedrohe, nehmen die USA traditionell den ersten Platz ein. Knapp zwei Drittel der Befragten sind dieser Meinung. 

In der Liste der Länder, die die Türkei in den Augen der Bevölkerung bedrohen, folgen Israel, das Vereinigten Königreich und Frankreich. Bemerkenswerterweise sind 44 Prozent der befragten Türkinnen und Türken der Meinung, dass auch Deutschland eine Bedrohung darstellen. Der negative Wert für Deutschland lag 2018 ausweislich der Studie gar bei über 50 Prozent.

Die Kehrseite dieser kollektiven Bedrohungsperzeptionen zeigen die Antworten auf die Frage nach den Freunden der Türkei: Hier schafft es allein Aserbaidschan auf einen Wert über 50 Prozent! Deutschland schneidet in dieser Kategorie mit knapp 15 Prozent ab. Putins Russland halten 23 Prozent der Türken für eine befreundete Nation. Aus deutscher Sicht ist dies ein miserables Ergebnis – und auch ein Ergebnis der vielen Krisen in den bilateralen Beziehungen in den zurückliegenden Jahren. 

Schließlich ein Wort zum Thema EU-Mitgliedschaft: 2019 gaben 51 Prozent der Befragten an, sie seien dafür; 2014 lag die Rate der EU-Befürworter bei über 71 Prozent. Ob sie meinen, dass die Vollmitgliedschaft der Türkei eine Realisierungschance habe, antworten lediglich 29 Prozent mit „Ja“. Hier zeigt sich ein erhebliches Frustrationspotential. Dieses beeinträchtigt offenkundig auch die Beziehungen zur europäischen Kopfmacht Deutschland.

 

Dr. Ronald Meinardus ist Projektleiter des Stiftungsbüros in der Türkei mit Sitz in Istanbul. 

 

Dieser Artikel erschien am 31.01.2020 auf Focus.de