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Türkei
Türkei-Politik ohne Vision

Der Europäischen Union fehlt eine klare Linie im Umgang mit dem schwierigen Partner
Türkei-Politik ohne Vision
© picture alliance / ZUMAPRESS.com | Altan Gocher

Im Vorfeld des Brüsseler Gipfeltreffens hatten die Spekulationen über wirtschaftliche Strafmaßnahmen gegen Ankara Hochkonjunktur. Vor allem Griechenland und Zypern sowie die Regierung in Paris verlangten Sanktionen. Präsident Erdogan müsse für seine – so der Wortlaut in der Abschlusserklärung – „einseitigen Aktionen und Provokationen im östlichen Mittelmeer“ zur Ordnung gerufen werden.

Anstelle von Sanktionen einigten sich die Staats- und Regierungschefs auf „Sanktiönchen“. Ihren Außenministern erteilten sie den Auftrag, Verantwortliche und Firmen, die mit den umstrittenen türkischen Erdgasbohrungen im östlichen Mittelmeer in Verbindung stehen, auf den Index zu setzen. Ihnen drohen Einreiseverbote und Vermögenssperren.

Harte Sanktionen oder gar ein Waffenembargo gegen Ankara, wie es Griechenland und in Deutschland Grüne und Linke fordern, sind somit vom Tisch – vorerst zumindest. In der Türkei-Politik der EU ist nichts von Dauer. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell erhielt das Mandat, in den kommenden drei Monaten das Verhalten der Türkei im Konfliktgebiet unter die Lupe zu nehmen und Bericht zu erstatten. Eben dies hatte er schon im Vorfeld des jetzigen Gipfels getan: „Wir haben keinen grundsätzlichen Wandel im türkischen Verhalten gesehen“, berichtete Borrell „Im Gegenteil, in mehreren Bereichen hat sich die Situation verschlechtert“. Bei den Brüsseler Beratungen spielte das schlechte Zeugnis offenbar keine Rolle.

In der Sache sind sich die Staats- und Regierungschefs durchaus einig. Weitgehend unstrittig ist im europäischen Rund, dass Ankara der Störenfried und Provokateur in der Region ist. Grundsätzliche Meinungsunterschiede bestehen aber darüber, wie mit dem schwierigen Verbündeten umzugehen ist.

Mit einer „positiven Agenda“ will Brüssel die Türkei für den eingeforderten Politikwechsel belohnen. Bei Wohlverhalten im Konflikt im östlichen Mittelmeer – so der Kern der Zuckerbrot-und-Peitsche-Strategie –  bietet die EU den Türken engere Wirtschaftsbeziehungen, womöglich auch eine Modernisierung der Zollunion und mehr Geld für die Versorgung der rund vier Millionen syrischen Flüchtlinge in Anatolien.

Die gelenkten türkischen Medien hatten die Bevölkerung im Vorfeld auf Sanktionen eingestimmt. In der für ihn nicht untypischen Art zeigte sich Präsident Erdogan trotzig: „Welche Sanktionsbeschlüsse auch immer gegen die Türkei gefällt werden, interessiert uns nicht.“

Die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei stehen vor einer historischen Weichenstellung, hatte Außenbeauftragter Borrell vor dem letzten und - mit demselben Pathos – dem vorletzten Gipfel gesagt und strategisch weitreichende Entscheidungen angekündigt. Auch dieses Mal verzichtete die Gemeinschaft auf zukunftsweisende Festlegungen und blieb hinter den selbstgesteckten Zielen zurück.

In der Türkei hat das EU-Thema längst an politischer Bedeutung verloren. Experten sprechen von einer „De-Europäisierung“ der türkischen Außenpolitik, einem Wegdriften vom Westen. Erdogan selber sendet widersprüchliche Signale in die Welt: Vor wenigen Tagen beteuerte der Präsident, „wir sehen uns in Europa, nirgends sonst, wir wollen unsere Zukunft in Europa bauen“. Bald darauf warf er der Europäischen Union „strategische Blindheit“ vor. „Die EU war niemals ehrlich zu uns, sie hat keine ihrer Versprechen eingehalten“, so die Tirade aus Ankara.

Offiziell führt Brüssel die Türkei weiterhin in der Kategorie der Beitrittsaspiranten. Somit profitiert das Land von den entsprechenden Anpassungsgeldern. Doch faktisch ist die EU-Mitgliedschaft vom Tisch, das räumen selbst der Türkei wohlgesonnene westliche Diplomaten in Ankara ein. 

Von Erdogan erwarten die Europäer vor allem Wohlverhalten im Streit über die maritimen Hoheitszonen, ein Stillhalten im Konflikt mit Griechenland und Zypern, um den Weg freizumachen für die diplomatische Beilegung der Differenzen. Konkret bedeutet dies, die Türkei soll ihr Forschungsschiff „Oruc Reis“ nicht erneut in die umstrittenen Seegebiete schicken und bis auf weiteres auf „Provokationen“ verzichten.

Nimmt man Erdogan beim Wort, ist es zweifelhaft, dass Ankara ein derartiges Moratorium einhalten wird: „Im östlichen Mittelmeer werden wir weiterhin unsere Rechte verteidigen. Es ist niemals möglich, dass wir hier einen Kompromiss eingehen“, sagte der Präsident, der im selben Zusammenhang den Spieß rhetorisch umdrehte und Griechenland und Zypern „imperialistischen Expansionismus“ vorwarf.

Demnach scheint es nur eine Frage der Zeit, bis die eigens für den EU-Gipfel im Hafen von Antalya festgemachte „Oruc Reis“ wieder in See sticht, um im Umfeld von griechischen Inseln nach Bodenschätzen zu suchen – was absehbar die Spannungen in der Region erneut in die Höhe treiben wird.

Man werde sich in der Türkei-Frage und in Bezug auf das östliche Mittelmeer mit den USA abstimmen, heißt es in der Abschlusserklärung des Europäischen Rats. Das klingt zunächst positiv, ist aber vor allem ein Eingeständnis der eigenen Schwäche. Offenkundig kann Europa ohne den Beistand aus Washington den starrköpfigen Verbündeten in Ankara nicht zur Vernunft bringen.