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Türkei
Soft Power und Liebesschnulzen vom Bosporus – Den Streamingdienst Netflix zieht es in die Türkei

Den Streamingdienst Netflix zieht es in die Türkei
© picture alliance / AA | Esra Hacioglu

Tourismus- und Kulturminister Mehmet Nuri Ersoy begrüßte die Entscheidung. Sie ermögliche es, dass türkische Produktionen demnächst in 190 Ländern der Welt zu sehen sein werden. Dies – so der Minister zuversichtlich - werde sich auch positiv auf den in der Corona-Krise arg ramponierten Tourismus-Sektor der Türkei auswirken.

Für Netflix macht der Schritt an den Bosporus durchaus Sinn. Seit Juli dieses Jahres sind soziale Netzwerke gesetzlich verpflichtet, eine Niederlassung in der Türkei zu unterhalten – ansonsten drohen hohe Strafen oder gar die Drosselung des Datenverkehrs. Für die Regierung in Ankara gehören Streamingdienste in die Kategorie der sozialen Netzwerke. Für die Türkei, und vor allem ihre Außendarstellung, spielen TV-Serien eine große Rolle: „Unser Kino und unsere Serien sind wichtige Instrumente der kulturellen Diplomatie“, sagt Minister Ersoy.

Nach den USA ist die Türkei der zweitgrößte TV-Serienexporteur der Welt, die Produktionen werden in über 150 Länder verkauft. Dem Chef des Berufsverbandes der Filmproduzenten, Burhan Gün, fehlt der strategische Plan im Umgang mit den weltweit beliebten Produktionen aus der Türkei: „Mit dem jüngsten Kinogesetz [von 2019] werden TV-Serien gefördert. Das ist gut, doch steht keine Gesamtstrategie dahinter. Wenn Serien als Soft Power eingesetzt werden sollen, ist eine umfassende Planung erforderlich."

Bislang regelt das der Markt. Entsprechend interessieren sich etwa Zuschauer in Pakistan für Serien, die im Osmanischen Reich spielen und in denen islamische Werte hochgehalten werden. Das Publikum in Lateinamerika hingegen hat eine Vorliebe für Liebes-Schnulzen vor den bekannten Kulissen des modernen Istanbuls.

Nicht in allen Ländern erobern die türkischen Serien die Herzen der Zielgruppen, verschiedentlich stehen politische Blockaden im Weg: Die Behörden in Saudi-Arabien haben sämtliche türkische Produktionen vom Sendeplan des in Dubai ansässigen Senders MBC gestrichen. Die Begründung: Einige weibliche Charaktere seien zu „liberal“. Zudem besteht der Vorwurf der Geschichtsklitterung in Bezug auf die osmanisch-türkische Kolonialzeit, die in Teilen der arabischen Welt weitaus kritischer rezipiert wird als in den türkischen Serien. In Ägypten etwa wurde eine Fatwa gegen mehrere Serien ausgesprochen, da sie – so der Vorwurf – Erdogans Anspruch auf ein Wiederherstellung des Osmanischen Reiches unterstreichen würden.

Als kommerzielle Plattform aus Amerika steht Netflix nicht im Verdacht, die Interessen der türkischen Regierung zu vertreten. Gleichwohl sieht das Netflix-Konzept vor, nicht nur US-amerikanische Serien auf dem türkischen Markt anzubieten. Netflix will auch mit Serien aus lokaler türkischer Produktion punkten.

Ein gutes aktuelles Beispiel ist die Netflix-Serie „Ethos“, deren Ausstrahlung in der Türkei hohe Wellen schlägt. Die Serie handelt von einer Gruppe von Menschen aus unterschiedlichen Milieus in Istanbul, deren Ängste und Wünsche sich miteinander verflechten, die dann aber die sie beherrschenden soziokulturellen Grenzen überwinden und eine Verbindung zueinander finden.

Der Graben in der türkischen Gesellschaft, der zwischen dem konservativ-islamischen und dem säkularen Lager verläuft, findet überraschenderweise in der Rezeption der Serie keinen Niederschlag. Obwohl die Serie die Spaltung in der türkischen Gesellschaft thematisiert – dies ist ein Narrativ, dem die Regierung gern ein geschöntes positives Bild gegenüberstellt -  stößt „Ethos“ auch in konservativen Kreisen durchaus auf positive Wahrnehmung. So lobt Mehmet Acar von Haberturk, dass „Ethos“ die typischen Fronten säkular vs. konservativ-religiös aufbreche. Die im regierungsnahen Lager verbreitete Ansicht, ausländische Produktionen seien mit den türkischen Werten und der islamischen Lebensweise nicht vereinbar, kommt jedoch auch hier nicht zu kurz. So erhebt Ali Saydam in einer regierungsnahen Zeitung den Vorwurf, keine Netflix-Produktion komme ohne Homosexualität aus.

Der Filmexperte Attila Dorsay vom unabhängigen liberalen Internetportal T24 zählt zu den Kritikern der Serie. Er sagt, dass „der vielleicht wichtigste Grund für das allgemeine Interesse an der Serie ist, dass sie türkische Frauen in zwei Gruppen teilt – die mit und die ohne Kopftuch.“ Die Einstellung zum Kopftuch sei weitgehend klassenbasiert, so Dorsay, und abhängig von der Persönlichkeit der Frauen: „Ist das nicht ein Problem, das in unserem Land noch immer existiert?“, fragt der Rezensent rhetorisch.

Die Produktion der Serie „Ethos“ hat gezeigt, wie wichtig der kurze Draht zu türkischen Regulierungsbehörden für Streamingdienste wie Netflix ist. So trafen sich Vertreter von Netflix häufig mit Verantwortlichen unterschiedlicher Institutionen. Dabei ging es laut Medienberichten nicht nur um Drehgenehmigungen, sondern hier und da auch um Änderungen am Drehbuch. Diese „enge Abstimmung“ birgt jedoch die große Gefahr von Zensur seitens der Regierung. Eine mögliche Folge ist, dass in den Serien vor allem das von der Erdogan-Regierung präferierte und propagierte Bild der türkischen Gesellschaft gezeigt wird.