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Türkei
Rückkehr zur Orthodoxie? – Was steckt hinter der kräftigen Erhöhung der Leitzinsen

Die türkische Wirtschaft stabilisiert sich
© picture alliance / NurPhoto | Erhan Demirtas

Der Schritt des Präsidenten kam überraschend: Am 6. November setzte Erdogan Zentralbankgouverneur Murat Uysal vor die Tür. Zum neuen Mann an der Spitze der Notenbank avancierte Naci Agbal, ein gestandener Bürokrat und Ex-Finanzminister.

Eine noch größere Überraschung folgte keine zwei Tage später, als der amtierende Finanzminister (und Erdogan-Schwiegersohn) für die Öffentlichkeit unerwartet über seinen privaten Instagram-Account seinen Rücktritt bekanntgab. An der Staats- und Regierungsspitze folgte Schweigen. Dies führte zu allerlei Spekulationen und Gerüchten. Erdogan ließ sich einen Tag Zeit, um schließlich das Gesuch des demissionierten Schwiegersohns anzunehmen. Dem in der Öffentlichkeit weitgehend desavouierten Berat Albayrak folgte Lutfi Elvan, auch er ein altgedienter Staatsdiener und Ex-Minister.

Der neue Mann an der Spitze der Notenbank Naci Agbal setzte gleich ein Ausrufezeichen: Kaum im Amt erhöhte er den Leitzins von 10,25 auf 15 Prozent. Der Schub belebte die Devisenmärkte. Die zuletzt schwindsüchtige Türkische Lira legte kräftig zu. Unterdessen betonte der neue Finanzminister, die Notenbank sei für die Leitlinien der Geldpolitik zuständig; sie gebe vor, wie die Preisstabilität erreicht werden soll.

Gleich zwei Mal gab Erdogan, ein erklärter Anhänger einer Niedrigzinspolitik, zu Protokoll, das Land sei bereit, „bittere Pillen zu schlucken“. Er sagte auch, „die Türkei dürfe nicht zulassen, dass hohe Zinssätze die Anleger erdrücken“. Justizminister Abdulhamit Gul und Erdogan betonten zudem die Bedeutung des Prinzips der Rechtsstaatlichkeit.

Die positive Reaktion der Finanzmärkte in den zurückliegenden Wochen sind ein Beleg, dass dem neuen Finanzminister und dem neuen Notenbankchef mehr zugetraut wird als ihren Vorgängern. Hiermit verbunden ist die Hoffnung, dass die Türkei zu einer orthodoxen Wirtschafts- und Finanzpolitik zurückkehrt – mit klaren Vorgaben für die Anleger.

Warum auf einmal diese plötzliche Kehrtwende? Es scheint, Erdogan treiben die Sorgen angesichts der aktuellen Meinungsumfragen. Diese zeigen eine große Unzufriedenheit in der Bevölkerung über die wirtschaftliche Lage. Vor allem der aus dem Amt geschiedene Albayrak gilt in weiten Kreisen als inkompetent. Im Schoße der regierenden AKP wuchs zuletzt die Unzufriedenheit über den Finanzminister. Informationen machten die Runde, dass bis zu 50 Abgeordnete aus dem Regierungslager mit dem Gedanken spielten, die AKP zu verlassen und sich anderen Parteien anzuschließen.

Vor allem scheint Erdogan begriffen zu haben, dass er das Vertrauen der Anleger sicherstellen muss. Ohne dieses Vertrauen kommen die dringend benötigten Investitionen nicht ins Land. Und ohne Investitionen droht der Türkei der wirtschaftliche Zusammenbruch. In einem solchen Szenario sinken die Wiederwahlchancen des Präsidenten gegen Null, auch wenn die nächsten Wahlen erst 2023 anstehen. Unter Druck hat Erdogan des Öfteren bewiesen, dass er für pragmatische Lösungen offen ist.

Die positive Stimmung an den Märkten mag nach der Neubesetzung und den wirtschaftsliberalen Kommentaren seitens der Regierung einige Monate oder auch länger anhalten. Dies gilt allemal, wenn der wohllautenden Rhetorik weitere positive Maßnahmen folgen. Dazu zählen die Normalisierung der Beziehungen mit dem Westen, die Lösung des Streits mit Washington über das russische Raketensystem S400 und mehr Rechtssicherheit. Gleichwohl verschwinden dadurch die grundlegenden Probleme der türkischen Wirtschaft nicht. Selbst ein Anstieg bei den Investitionen aus dem Ausland wird ein Abschwächen des Wirtschaftswachstum 2021 nicht verhindern.

Ein kompetenter Zentralbankgouverneur ist kein Ersatz für die Unabhängigkeit der Institution, die er leitet. Wer kann sicherstellen, dass Erdogan ihn nicht zwingt, die Zinssätze vorzeitig wieder zu senken, sobald sich die Währung wieder etwas stabilisiert hat? Der Präsident, das wissen wir, hat freie Hand, einen ihm missliebigen Notenbankchef jederzeit vor die Tür zu setzen.

Ein letzter Hinweis: Der offenkundige Schwenk zur wirtschaftspolitischen Orthodoxie mag auch als Vorbote für vorgezogene Wahlen interpretiert werden. Dies unter der Voraussetzung, dass es Erdogan gelingt, die Wirtschaft auf Trab zu bringen. Die Umfragen zeigen, dass Erdogans Wahlbündnis mit der ultranationalistischen MHP im Moment deutlich unter der 50 Prozentmarke liegt, die er für eine Wiederwahl benötigt. Eine Möglichkeit, die diskutiert wird: Der Präsident ändert einmal mehr die politischen Spielregeln. So könnten Wahlbündnisse verboten werde. Dies würde die Opposition schwächen. Eine zweite Variante lautet: Erdogan könnte das erst kürzlich eingeführte Präsidialsystem mit einem parlamentarischen System ersetzen. In diesem System benötigt die Regierung nicht unbedingt eine absolute Mehrheit der Stimmen.