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Türkei
Eskalation um Idlib: Ankara bringt den Syrien-Konflikt an die Haustür Europas

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© picture alliance / abaca

Mit dem Tod von 36 türkischen Soldaten erreicht der Konflikt mit Syrien eine neue Stufe der Eskalation. Die Türkei greift nun erneut in dem Bürgerkriegsland an. Auch eine direkte militärische Konfrontation mit Russland scheint nicht mehr ausgeschlossen.

Es war der schwärzeste Tag für die Türkei im Syrien-Konflikt. Bei Luftangriffen starben am 27. Februar in der Provinz Idlib 36 türkische Soldaten, so die die amtliche Zahl. Inoffiziellen Quellen zufolge liegt die Opferzahl fast doppelt so hoch. Über den Hergang des Angriffs gibt es unterschiedliche Informationen. Unklar bleibt auch, welche Rolle die russische Luftwaffe gespielt hat. Moskau kontrolliert den Luftraum über Syrien.

Zuletzt hatten von Ankara unterstützte Kämpfer mit tragbaren Flugabwehrraketen Russlands Dominanz im syrischen Himmel angefochten. Der tödliche Luftangriff sei ein Warnsignal Moskaus an die Adresse Ankaras, dieses zu unterbinden, lautet eine Theorie: „Die Eskalation ist ein absichtlicher, wohl-kalkulierter russischer Zug“, schreibt Metin Gurcun im Fachblatt Al Monitor.

„Werden mit noch größerer Macht Vergeltung gegen das illegitime Regime üben“

Ankara hat sich mit direkten Schuldzuweisungen an die Adresse Moskaus zurückgehalten. Umso heftiger fällt die Polemik gegen das Regime in Damaskus aus: „Unsere Operationen in Syrien werden weitergehen bis die Blut getränkten Hände, die nach unserer Fahne greifen, gebrochen sind“, sagte Erdogan nach einer Krisensitzung. „Wir werden mit noch größerer Macht Vergeltung gegen das illegitime Regime üben“, so die Warnung des türkischen Präsidenten. 

Derweilen verbreiten die regierungsnahen Medien militärische Erfolgsmeldungen. Demnach haben die türkischen Streitkräfte – Stand dieses Wochenende – sieben Chemiewerke und 94 Panzer zerstört sowie über 2000 Regierungssoldaten getötet. Um den Nachrichtenfluss aus dem Kriegsgebiet unter Kontrolle zu halten, hat die Regierung die sozialen Netzwerke kurzfristig abgeschaltet. 

Nach der neuen Eskalation in Idlib befinden sich die Türkei und das Regime in Damaskus in einem unerklärten Krieg. Zusätzliche Explosivität droht in Syrien durch die Gefahr der Ausweitung zu einem türkisch-russischen Waffengang. Dieses Szenario scheinen weder die Türken noch die Russen anzustreben. „Ich habe Putin gesagt, er solle die türkischen Truppen allein lassen in ihrem Kampf gegen das Regime“, sagte Erdogan nach einem Telefonat mit dem russischen Präsidenten. Das ist eine unrealistische Vorstellung: Moskau ist der Hauptverbündete Assads und setzt alles auf eine Karte, damit dieser das gesamte syrische Staatsgebiet unter seine Kontrolle bringt. Um dieses Ziel zu erreichen, steht die Türkei im Weg. 

Buhlen um Beistand

Um die vielzitierte Männerfreundschaft zwischen Putin und Erdogan sieht es zur Zeit schlecht aus. In der Stunde der Not besinnt sich der türkische Präsident auf die traditionellen Verbindungen Ankaras mit dem Westen. Diese haben in den letzten Jahren viele Krisen erlebt, doch Erdogan scheut nicht, in Washington, Brüssel und auch in Berlin Unterstützung einzuklagen.

Den amerikanischen Präsidenten bat der Türke um die Stationierung von Patriot-Raketen an der Grenze zu Syrien. Die Abfuhr aus Washington ließ nicht lange auf sich warten.

Nicht viel erfolgreicher war Ankaras Buhlen um Beistand der NATO, der die Türkei als Gründungsmitglied angehört. Zu mehr als einem verbalen Bekenntnis zur Dringlichkeit eines Waffenstillstandes konnte sich das Sondertreffen der Allianz nicht durchringen.

„Kollaps“ der Außenpolitik Erdogans

Völlig offen ist im Moment, ob es am 5. März – wie zunächst geplant – zu einem Vierergipfel in Istanbul kommen wird, an dem die Präsidenten Russlands, der Türkei, Frankreichs und die deutsche Bundeskanzlerin zusammenkommen sollen. Erdogan hatte dieses Treffen ins Gespräch gebracht. Die kommenden Tage werden zeigen, ob die diversen diplomatischen Initiativen, die jetzt eingeleitet werden, zum Erfolg führen. Im Lichte der tiefgreifenden Interessengegensätze der Konfliktparteien ist dies eher unwahrscheinlich.

Angesichts des Unvermögens Ankaras, internationalen Beistand für eine Syrien-Politik zu mobilisieren, sprechen Experten von einem „Kollaps“ der Außenpolitik Erdogans: „Die Türkei ist heute ein isoliertes Land und auf Konfrontationskurs mit den Vereinigten Staaten, Russland sowie der arabischen Welt und Europa“, kommentiert der türkische Journalist Semih Idiz.

Immer mehr türkische Experten seien – so Idiz – der Meinung, dass Ankaras schwierige Situation in Syrien selbstverschuldet sei. „Die größte Fehlkalkulation Erdogans ist die Abhängigkeit von Russland“, resümiert Idiz.

Anzeichen für eine Kurskorrektur Ankaras sind derweil nicht erkennbar. Im Gegenteil: Am Wochenende zog der türkische Präsident die „Flüchtlingskarte“. Chronisten haben mitgezählt und berichten, dass der türkische Präsident den Europäern nicht weniger als neun Mal mit der Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge aus Syrien gedroht habe.

„Wir werden diese Türen nicht schließen“

Auf einem Treffen der Regierungspartei AKP sagte der Präsident, vier Millionen Menschen seien in Syrien auf der Flucht in Richtung Türkei und anderthalb Millionen befänden sich bereits an der Grenze. „Wir können keinen neuen Zustrom verkraften, aber wir können die Flüchtlinge auch nicht an das Assad Regime ausliefern“.

Sodann bestätigte der Präsident die Öffnung der Grenzen, über die zuvor bereits die Medien berichtet hatten: „Was haben wir also am Freitag gemacht? Wir haben die Türen geöffnet“, sagte Erdogan. Und: „Wir werden diese Türen nicht schließen“. Warum nicht, fragte der Präsident. Um dann selber zu antworten: „Weil die Europäische Union ihre Versprechen einhalten soll.“

Über Nacht hat Erdogan somit den Syrien-Konflikt an die Haustür Europas gebracht. Wegducken ist somit nicht länger eine Option.

 

Dr. Ronald Meinardus ist Leiter des Stiftungsbüros in der Türkei mit Sitz in Istanbul.

 

Dieser Artikel erschien erstmalig am 1.03.2020 bei Focus Online