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Türkei
Eine Stadt, zwei Welten: Ein Interview vor den Kommunalwahlen in der Türkei

Am Sonntag finden in der Türkei Kommunalwahlen statt
Wahlplakate in Istanbul, auf der linken Seite der Kandidat der AKP Binali Yildirim und rechts der Kandidat Ekrem Imamoglu der Republikanischen Volkspartei CHP

Wahlplakate in Istanbul: Auf der linken Seite der Kandidat der AKP, Binali Yildirim und rechts Ekrem Imamoglu, Kandidat der Republikanischen Volkspartei CHP

© picture alliance / AP Photo

Die Türkei hat gewählt, noch werden Stimmen ausgezählt. Um das Amt des Istanbuler Oberbürgermeisters zeichnet sich ein enges Rennen zwischen den beiden Spitzenkandidaten ab, dem ehemaligen Ministerpräsidenten Binali Yildirim und dem bestehenden Bezirksbürgermeister Ekrem İmamoğlu. Kandidaten über Ihre Pläne und den politischen Diskurs in der Türkei gesprochen.

Am 31. März war es wieder soweit. In der Türkei, in der die Menschen nicht müde werden, an die Urnen zu gehen, fanden Kommunalwahlen statt. In dem stark zentralistischen Land, in dem es keine Regionalparlamente oder ähnliches gibt, sind Kommunalwahlen die einzige dezentrale Form der demokratischen Willensäußerung der Bürger. Es wurde zeitgleich in allen 81 Provinzen gewählt – das ist in etwa so, als fänden alle deutschen Landtags- und Kommunalwahlen an einem einzigen Tag statt. Formal geht es um die Macht in den Rathäusern – gleichzeitig gelten die Kommunalwahlen aber auch als wichtiges politisches Stimmungsbild für die Zufriedenheit der Bürger mit der Arbeit der Zentralregierung. Häufig nutzen die Wähler diese Gelegenheit, um der amtierenden Regierung einen Denkzettel zu verpassen, so auch bei dieser Wahl, wie die Stimmverluste der Regierungspartei AKP eindrücklich zeigen.

Dabei hatte der Kommunalwahlkampf 2019 so wenig kommunale Themen wie nie zuvor – gegenseitige Terrorvorwürfe, Debatten um den Existenzkampf des Landes und Haftandrohungen gegenüber Parteivorsitzenden dominierten die Agenda bei den zahlreichen öffentlichen Kundgebungen auf den Marktplätzen des Landes. Selbst der Terroranschlag im weit entfernten Neuseeland wurde zum Wahlkampfthema. Während die regierende AKP versuchte, von den Wirtschaftsproblemen abzulenken und bei einer Wahlniederlage ihrer Partei den Bürgern ein Untergangsszenario prophezeite, wollte die Opposition die Regierung für die schwierige ökonomische Lage des Landes zur Verantwortung ziehen - und so den Teufelskreis von Wahlschlappen der letzten Jahre durchbrechen.

Am Sonntag wurde in allen Städten gewählt – doch die Wahl in der 15-Millionen Metropole Istanbul mit ihrer sozioökonomischen und kulturell-geschichtlichen Bedeutung ragt natürlich heraus. Für Präsident Erdoğan hat die Abstimmung in Istanbul auch noch etwas Emotionales: Vor etwa 25 Jahren begann hier seine fulminante Karriere als Spitzenpolitiker.

freiheit.org sprach mit den beiden Spitzenkandidaten für den Posten des Istanbuler Oberbürgermeisters. Während die aus der regierenden AKP und der mit ihr koalierenden MHP bestehende ‘Volksallianz’ den ehemaligen Ministerpräsidenten Binali Yıldırım ins Rennen schickt, kandidiert für das oppositionelle ‘Bündnis der Nation’, das aus der CHP und der Iyi-Partei besteht, der bisherige Bezirksbürgermeister Ekrem Imamoğlu.

Binali Yıldırım

Binali Yıldırım, ehemaliger Ministerpräsident

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“Istanbul ist eine Zusammenfassung der Türkei” - Binali Yıldırım im Gespräch mit freiheit.org.

Am 31. März gibt es landesweit Kommunalwahlen, doch die Stimmung auf den öffentlichen Plätzen ist sehr angespannt. Statt städtebaulicher Projekte bestimmen gegenseitige Vorwürfe die Kampagnen der Parteivorsitzenden. Wie erklären Sie sich den vorherrschenden Diskurs?

Binali Yıldırım: Wir werden am 31. März nicht den Präsidenten wählen, sondern die Person, die die Stadt regieren soll. Es wäre sehr schade, wenn die Kampagne in Istanbul im Schatten der allgemeinen politischen Lage im Land oder der Politik der Polarisierung bleiben würde. Ich persönlich gebe mein Bestes, damit dies nicht so wird. Was wir als ‘Beka’ (zu Deutsch: Existenzkampf) bezeichnen, ist die Fahne, das Land, die Nation und der Staat; alles Werte, über die man nicht streiten darf. Doch die Entstehungsgeschichte der politischen Allianzen bringt diese Diskussion mit sich. Sie entsteht unweigerlich, wenn eine Partei, die sehr eng mit Terror verbunden ist, mit einer der Allianzen eine Zusammenarbeit eingeht. Eigentlich darf diese Diskussion um ‘Beka’ nicht Teil des kommunalen Wahlkampfes sein, ich persönlich bin mit dieser Situation nicht zufrieden. Wir sollten die Probleme Istanbuls und seiner Bewohner diskutieren.

Es kommt im politischen Alltag selten vor, dass ein ehemaliger Premierminister und Parlamentspäsident für das Amt eines Oberbürgermeisters kandidiert. Welche Vorteile hat es, wenn man auf eine so lange und erfolgreiche Karriere zurückblickt?

BY: Ich verspüre im Moment eine selten zuvor dagewesene Motivation. Es ist unmöglich, gleichgültig zu bleiben angesichts der unglaublichen Schönheit, die Istanbul bietet. Es war schon immer einer meiner größten Träume, Oberbürgermeister von Istanbul zu werden. Und es ist ja der Traum so vieler Politiker, die irgendwann mal diese Stadt gesehen haben. Es ist eine große Ehre, Istanbul dienen zu dürfen. Wie Sie wissen, war ich jahrelang Verkehrsminister, danach Ministerpräsident und schließlich Parlamentspräsident. Nun habe ich die Möglichkeit, meinen großen Traum zu verwirklichen.

Ihr größter Kontrahent Ekrem Imamoğlu war bis zu diesen Wahlen Bürgermeister des Istanbuler Bezirks Beylikdüzü. Wie bewerten Sie Ihren Gegner?

BY: Ich trete ja nicht alleine an. Neben mir gibt es noch sieben weitere Kandidaten anderer politischer Parteien und noch viele weitere unabhängige Kandidaten. Sie sind alle sehr herausragende Persönlichkeiten. Wir alle bewerben uns um die Stimmen der Bürger und diese werden ihre Wahl treffen.

Umfragen zufolge wird es ein Kopf-an-Kopf-Rennen geben und unter Umständen müssen Sie auch Wähler außerhalb des AKP-Spektrums überzeugen. Was versprechen Sie diesen Menschen, damit sie diesmal für Sie stimmen?

BY: Ich bin der gemeinsame Kandidat der ‘Volksallianz’, doch ich bewerbe mich um jede Stimme der insgesamt 10,5 Mio. Wahlberechtigten. Ich werde der OB aller Viertel und aller Bürger dieser Stadt werden. Wenn die Wahlen einmal vorbei sind, ist auch der Wahlkampf vorüber. Meine Bürger kennen mich, ich bemühe mich stets, den Lebensstandard der Menschen zu erhöhen. Ich lade alle Bürger Istanbuls dazu ein, sich für die Zukunft dieser Stadt zu vereinen, unabhängig davon, wie sie politisch gesinnt sind. Ich will ihre Unterstützung für unsere gemeinsame Zukunft, für Istanbul, für die Frauen und für die Zukunft unserer Jugend. Wir mögen unterschiedlicher Ansicht sein, doch wir müssen für Istanbul zusammen agieren und unsere Kräfte vereinen. Istanbul ist eine Zusammenfassung der Türkei. Wir sind alle Bürger dieser Stadt, es bedarf keiner Sondermaßnahmen für die Kurden, sie sind ein Teil dieser Stadt. Niemand hat das Recht zu behaupten, er würde die Stimmen der Kurden in eine bestimmte Richtung lenken können. Ich sehe die Sache unabhängig von Parteizugehörigkeit und behaupte, dass ich von allen Gruppen Stimmen bekommen werde. Ich vertraue Istanbul und seinen Bürgern. Sie werden mir die Kraft geben, diese Arbeit zu stemmen.

Die 15-Millionen-Metropole platzt aus allen Nähten und leidet unter einem chronischen Verkehrsproblem. Was sind Ihre wichtigsten Projekte im Falle eines Sieges?

BY: Um das Verkehrsproblem unter Kontrolle zu bekommen, müssen wir den Anteil des Schienenverkehrs erhöhen. Aktuell gibt es knapp vier Millionen registrierte Fahrzeuge in der Stadt. Der Anteil des Schienenverkehrs dagegen liegt bei 18 Prozent; wir werden diesen auf 48 Prozent erhöhen. Mit der vor Kurzem eingeweihten S-Bahn-Linie Halkalı-Gebze haben wir nun ein Schienennetz von 233 Kilometern; wir werden dies auf 518 Kilometer erhöhen. Gleichzeitig werden wir den Verkehr auf den Straßen entlasten, indem wir alternative Strecken in Form von Tunnels bauen. Knapp 14 Kilometer Tunnel sind in Bau, weitere 92 Kilometer werden folgen.

“Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei” lautet eine Weisheit aus der türkischen Politik. Wie schätzen Sie das ein? Welche Folgen wird das Ergebnis in Istanbul für die politische Zukunft des Landes haben?

BY: Hier geht es um Istanbul und um meine Person, und nicht um Ankara. Ich bin der Kandidat und die Menschen werden sehen, was ich zu sagen habe.

Die pro-kurdische HDP wird in Istanbul keinen eigenen Kandidaten aufstellen. Welche Rolle werden Ihrer Meinung nach die kurdischen Bewohner der Stadt für den Ausgang der Wahlen spielen?

BY: Da die HDP keinen eigenen Kandidaten hat, bewerbe ich mich auch um die Stimmen dieser Wähler. Sie müssen natürlich eine Wahl treffen. Ich bin überzeugt, dass Wähler, die in der Vergangenheit der HDP ihre Stimmen gegeben haben, diesmal für mich stimmen werden. Ich werde für die Zukunft aller 15 Millionen Bewohner dieser Stadt arbeiten. Die Projekte, die ich umsetzen werde, werden zum Nutzen aller sein. Istanbul ist unsere gemeinsame Zukunft.

Ekrem İmamoğlu

Bezirksbürgermeister Ekrem İmamoğlu

© picture alliance / AP Photo

“Unsere Bürger sind mit gravierenden ökonomischen Problemen konfrontiert” - Ekrem Imamoğlu im Gespräch mit freiheit.org.

Am 31. März gibt es landesweit Kommunalwahlen, doch die Stimmung auf den öffentlichen Plätzen ist sehr angespannt. Statt städtebaulicher Projekte bestimmen gegenseitige Vorwürfe die Kampagnen der Parteivorsitzenden. Wie erklären Sie sich den vorherrschenden Diskurs?

Ekrem Imamoğlu: Die angespannte Stimmung, die sich in den Kampagnen zeigt, ist nicht die Schuld der Kandidaten. Es ist offensichtlich, wer diese Politik der Polarisierung betreibt. Die regierende Partei versucht, über den Glauben und den Patriotismus unserer Bürger die Gesellschaft zu spalten, und die regierungsnahen Medien unterstützen sie dabei. Die Kandidaten für das Amt des Oberbürgermeisters dagegen distanzieren sich von dieser Art der Politik. Das Interessante dabei ist: Der Kandidat der regierenden Partei, die dauernd von ‘Beka’ (zu Deutsch: Existenzkampf) spricht, sagt selbst, dass diese Kommunalwahlen damit nichts zu tun haben. Der Grund für dieses Ablenkungsmanöver ist die Wirtschaftslage. Unsere Bürger sind mit gravierenden ökonomischen Problemen konfrontiert. Ich besuche immer wieder Marktstände und rede sowohl mit den Kunden als auch mit den Verkäufern; sie alle schauen mit großer Sorge in die Zukunft. Ich wünschte, die Regierung würde ihre Energie und Zeit für die Verbesserung der Wirtschaftslage einsetzen. Wir sind uns der Lage bewusst; sobald wir die Stadt regieren, werden wir Maßnahmen ergreifen, die die Situation der Menschen verbessern werden.

Bis vor wenigen Wochen waren Sie Bürgermeister eines Istanbuler Bezirks am Rande der Stadt und dementsprechend nur den allerwenigsten Bürgern bekannt; und jetzt, wenige Tage vor den wichtigen Kommunalwahlen, trauen Ihnen viele Menschen zu, die regierende AKP ernsthaft in Bedrängnis zu bringen. Wieso sind Sie der richtige Kandidat für den wichtigen Posten des OB in Istanbul?

EI: Meine Kandidatur war für mich keine Überraschung. Schon damals, vor eineinhalb Jahren, als der ehemalige OB Kadir Topbaş von seiner Partei zum Rücktritt gezwungen wurde, hatte meine Partei mich als Kandidaten vorgestellt.  Seitdem bereite ich mich auf diese Wahlen vor. Unsere Partei hat bei diesen Kommunalwahlen in vielen wichtigen Städten (Istanbul, Ankara, Antalya, Izmir, Bursa, Anm.d.Red.) amtierende Bezirksbürgermeister als OB-Kandidaten aufgestellt. Dies bedeutet, dass bei der CHP der Weg frei ist für Kommunalpolitiker.

Mit Binali Yıldırım, dem ehemaligen Premierminister und Parlamentspräsidenten, haben Sie alles andere als einen politischen Nobody als Gegner. Wie schätzen Sie Ihren Kontrahenten ein?

EI: Ich habe in meinem ganzen Leben niemals meine Position von meinem Gegner abhängig gemacht. Ich bemühe mich eher, mich selbst und meine Projekte vorzustellen.

Umfragen zufolge wird es ein Kopf-an-Kopf-Rennen geben und um zu gewinnen, müssen sie auch ehemalige AKP-Wähler überzeugen. Was versprechen Sie diesen Menschen, damit sie diesmal für Sie stimmen?

EI: Ich bin zwar der gemeinsame Kandidat der Allianz ‘Bündnis der Nation’, doch ich wiederhole immer wieder, dass ich der Kandidat des ‘Istanbul-Bündnisses’ bin. Dies bedeutet, dass ich mich um die Stimmen aller Bürger dieser Stadt bewerbe, ob sie nun AKP-, HDP- oder Saadet-Wähler sind. Denn ich bin überzeugt davon, dass ich derjenige bin, der am meisten für diese Stadt kämpfen und schaffen wird. Und außerdem kennen mich die AKP-Wähler: Ich bin in meinem Stadtbezirk Beylikdüzü auch mit ihren Stimmen zum Bürgermeister gewählt worden. Das ist kein Neuland für mich.

Die 15-Millionen-Metropole platzt aus allen Nähten und leidet unter einem chronischen Verkehrsproblem. Welches sind Ihre wichtigsten Projekte im Falle eines Sieges?

EI: Wir haben all unsere Projekte den Bürgern vorgestellt. Von günstigen Lebensmitteln und Wasser über die Lösung des Verkehrsproblems bis zur Digitalisierung der Stadt. Über unsere Webseite www.ekremimamoglu.com können diese Maßnahmen in Detail studiert werden.

“Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei” lautet eine Weisheit aus der türkischen Politik. Wie schätzen Sie das ein? Kann Ihre Partei durch einen möglichen Sieg in der Bosporusmetropole eine Wechselstimmung im ganzen Land auslösen?

EI: Ich konzentriere mich darauf, bei den Wahlen in Istanbul ein gutes Ergebnis zu erzielen. Diese Wahlen werden die allgemeine politische Lage nicht beeinflussen, denn es geht hier um Kommunalwahlen. Bis zu den nächsten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen sind es noch mehr als vier Jahre, und es wäre nicht richtig, jetzt schon darüber zu sprechen.

Die pro-kurdische HDP wird in Istanbul keinen eigenen Kandidaten aufstellen. Welche Rolle werden Ihrer Meinung nach die kurdischen Bewohner der Stadt für den Ausgang der Wahlen spielen?

EI: Es ist mein Ziel, von allen Bürgern Stimmen zu bekommen, also auch von den Wählern der HDP. In dieser Stadt gibt es 1,2 Mio. Kinder unter 4 Jahren. Wir werden Kitas bauen, Mütter und deren Kinder werden den ÖPNV umsonst nutzen können. Wir werden Bibliotheken und Schülerwohnheime bauen. In keinem unserer Projekte steckt auch nur der Hauch von Parteiklüngel. Von diesen Maßnahmen werden Wähler aller Parteien profitieren. Meine Priorität ist es, den Menschen zu dienen. Da, wo ich bin, gibt es keine Bevorzugung bestimmter Gruppen.

Die Gespräche führte Aret Demirci.